BGE 115 Ia 89
 
16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 24. Januar 1989 i.S. W. und Mitbeteiligte gegen Einwohnergemeinde Seftigen und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 BV, Art. 4 RPG, Art. 58 BauG BE; Information und Mitwirkung der Bevölkerung bei der Raumplanung.
 
Sachverhalt
W. und H. sind Eigentümer der rund 15 900 m2 umfassenden Parzelle Nr. 340 in Seftigen und gleichzeitig Stimmbürger dieser Gemeinde. In einem Konsortium zusammengeschlossen sind die Eigentümer der angrenzenden Parzelle Nr. 582 mit rund 9900 m2. G. schliesslich ist Eigentümer der etwa 21 800 m2 grossen Parzelle Nr. 583, welche von der Parzelle des Konsortiums durch die Bahnlinie Belp-Thun abgetrennt ist.
Nach dem Zonenplan der Gemeinde Seftigen von 1964 waren diese drei Parzellen der Bauzone zugeteilt, nämlich die Grundstücke Nrn. 340 und 582 der Wohn- und Gewerbezone sowie Nr. 583 der Industriezone, und gemäss dem Zonenplan vom 23. Januar 1978 gehörten alle drei Parzellen zur Gewerbe- und Industriezone. Die gegen die Umzonung gerichteten Einsprachen und Beschwerden der betroffenen Grundeigentümer, welche eine Zuteilung zur Wohnzone beantragten, wiesen die Baudirektion und der Regierungsrat ab. Damit wurde die Genehmigung des Zonenplanes bestätigt.
Am 17. Februar 1986 reichte G. ein Baugesuch für eine Fabrikations- und Lagerhalle auf der Parzelle Nr. 583 ein. Der Regierungsstatthalter von Seftigen erteilte ihm dafür eine Baubewilligung, u.a. mit der Auflage, vor Baubeginn die geplante Bahnunterführung zu erstellen. Am 26. Mai 1986 reichten W. und H. sowie das Konsortium ein generelles Baugesuch für die Erstellung von elf Industrie- und Gewerbebauten auf den Parzellen Nrn. 340, 582 und 653 ein. Dieses Verfahren wurde sistiert.
Im Juni 1986 kam die formulierte Gemeindeinitiative "Seftigen wohin?" mit folgendem Wortlaut zustande:
"Der Zonenplan soll so abgeändert werden, dass die bezeichneten Flächen
auf dem vorliegenden Plan von der Gewerbe- und Industriezone in
die Landwirtschaftszone zurückgezont werden."
Der Text war vom entsprechenden Plan begleitet.
Der Wortlaut dieser Initiative wurde im Amtsblatt und im Amtsanzeiger Seftigen publiziert. Vom 11. Juli bis zum 11. August 1986 wurde sie öffentlich aufgelegt. Innert dieser Frist gingen zwei Einsprachen u.a. von den heutigen Beschwerdeführern ein. Darüber fanden am 15. August 1986 Einspracheverhandlungen statt, die zu keiner Einigung führten.
In der Folge wandte sich der Gemeinderat mit einer schriftlichen Botschaft an die stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger, da es aus zeitlichen Gründen nicht mehr möglich sei, eine Orientierungsversammlung durchzuführen. Er teilte das Initiativbegehren mit und fasste die Begründung der Initianten dahin zusammen, die Rückzonung solle aus ortsbildschützerischer und landschaftsplanerischer Sicht erfolgen, und die Dörfer Burgistein und Seftigen dürften nicht vollständig zusammenwachsen. Zudem seien die betreffenden Flächen zum Überleben von drei Landwirtschaftsbetrieben nötig; in der Eymatt und im Gurzelenmoos befinde sich nämlich sehr fruchtbares Ackerland. Eine überdimensionierte Industrie- und Gewerbezone locke ortsfremde Betriebe an, welche aber in einer steuergünstigeren Gemeinde ihren Geschäftssitz hätten und somit auch dort Steuern bezahlten. Da das Gebiet noch nicht erschlossen sei, biete sich wohl jetzt die letzte vernünftige Gelegenheit zur Rückzonung an.
Des weiteren verwies der Gemeinderat auf den wesentlichen Inhalt des Vorprüfungsberichtes der kantonalen Baudirektion und teilte mit, er habe beschlossen, die Initiative nicht zu unterstützen.
Seit Jahren gehörten die zur Auszonung vorgeschlagenen Parzellen der Gewerbe- und Industriezone an. Bei der letzten Ortsplanungsrevision sei die Gewerbe- und Industriezone verkleinert worden. Die Gemeinde habe für die Erschliessung dieser Zone bereits grössere finanzielle Leistungen erbracht, und die Ansiedlung von Gewerbe und Industrie werde Arbeitsplätze schaffen. Die Gewerbe- und Industriezone "Allmend" sei von regionaler Bedeutung, und es liege ein genehmigter Detailerschliessungsplan vor. An zwei Gemeindeversammlungen seien Kredite für die Basiserschliessung bereits bewilligt worden. Auch eine Betriebsstätte begründe einen anteilsmässigen Anspruch auf Steuern. Zudem würden bei Annahme der Initiative hohe Entschädigungsansprüche aus materieller Enteignung befürchtet.
Die Gemeindeversammlung vom 22. August 1986 hiess die Initiative in Kenntnis der dargelegten Argumente gut. Die Baudirektion genehmigte diesen Beschluss. Der Regierungsrat wies die Beschwerden von W. und H., des Konsortiums sowie von G. gegen den Beschluss der Baudirektion ab und bestätigte deren Genehmigungsentscheid.
Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
2. a) Die Beschwerdeführer machen geltend, sie alle hätten als Grundeigentümer nicht an der Gemeindeversammlung teilnehmen dürfen, obwohl keine Orientierungsversammlung durchgeführt worden sei. Sie hätten somit keine Gelegenheit gehabt, an die Bevölkerung zu gelangen, obwohl ihnen grundsätzlich das Recht zustehe, sich an die Gemeindeversammlung zu wenden. Die Möglichkeit der nachträglichen Einsprache behebe den Mangel nicht, da die Einsprache nur ein Rechtsbehelf sei, nicht aber ermögliche, am politischen Meinungsbildungsprozess teilzunehmen und diesen zu beeinflussen. Gerade bei Gemeindeinitiativen, die in der Regel unter emotionalen Umständen entstünden, sei es aber von besonderer Wichtigkeit, dass sich die direkt Betroffenen in einem geregelten Verfahren an die Stimmberechtigten wenden könnten. Zudem sei zu bedenken, dass ein Initiativvorschlag durch die Initianten abgeändert werden könne. Schliesslich habe jeder Stimmbürger das Recht, einen Gegenvorschlag zu beantragen. Die Beschwerdeführer rügen insbesondere eine Verletzung ihrer aus Art. 4 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG) und Art. 58 Abs. 2 des Baugesetzes des Kantons Bern vom 9. Juni 1985 (BauG) abgeleiteten Rechte und machen geltend, diese fielen in den Schutzbereich des aus Art. 4 BV abgeleiteten Anspruchs auf rechtliches Gehör.
Gemäss Art. 4 Abs. 2 RPG sorgen die mit Planungsaufgaben betrauten Behörden dafür, dass die Bevölkerung bei Planungen in geeigneter Weise mitwirken kann. Das kantonale Recht führt dazu in Art. 58 BauG aus:
"1 Die Behörden sorgen dafür, dass die Bevölkerung bei Planungen
frühzeitig in geeigneter Weise mitwirken kann.
2 Die Mitwirkung ist bezüglich der Richtpläne, der baurechtlichen
Grundordnung und der Überbauungsordnungen sowie für die nicht
geringfügige Änderung dieser Vorschriften und Pläne zu gewähren.
Sie kann eingeräumt werden,
a) indem vorgesehene Planungen an der Gemeindeversammlung oder an
besonderen Orientierungsversammlungen zur Diskussion gestellt werden;
b) indem die Unterlagen über vorgesehene Planungen
während einer angemessenen Mitwirkungsfrist öffentlich
aufgelegt werden;
c) bei vorgesehenen Änderungen der Grundordnung oder
einer Überbauungsordnung, die nicht von allgemeinem
Interesse sind, auch im Rahmen des Einspracheverfahrens
nach Artikel 60.
3 Im Rahmen der Mitwirkung können Einwendungen erhoben und
Anregungen unterbreitet werden. Sie sind den für Beschluss und für
Genehmigung zuständigen Behörden in Form des Versammlungsprotokolls oder
eines zusammenfassenden Mitwirkungsberichtes zur Kenntnis zu bringen.
Protokoll und Bericht sind öffentlich.
4 Die Gemeinden und die Regionen können ein weitergehendes
Mitwirkungsverfahren durchführen. Insbesondere
können die Gemeindebehörden die Quartierbevölkerung
zur Lösung von Fragen der Quartierplanung heranziehen."
b) Der Regierungsrat führt dazu im wesentlichen aus, die Mitwirkung beziehe sich auf Behördenplanungen; Gemeindeinitiativen in Planungssachen in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs seien nicht Gegenstand des Mitwirkungsverfahrens. Hier gebe es ohnehin eine gewisse Öffentlichkeitsarbeit durch die Unterschriftensammlung. Zudem sei der Text unabänderlich. Ob der Initiative ein Gegenvorschlag gegenüberzustellen sei, könne der Gemeinderat auch ohne die Resultate eines Mitwirkungsverfahrens entscheiden. Zweck des Mitwirkungsverfahrens sei nicht der individuelle Rechtsschutz. Ein über Art. 4 BV und Art. 33 und 34 RPG hinausgehender individueller Gehörsanspruch lasse sich aus den Vorschriften über das Mitwirkungsverfahren nicht ableiten. Der von den Beschwerdeführern angeführte BGE 111 Ia 164 ff. betreffe keinen vergleichbaren Fall. Während dort der Abänderungsantrag an der Gemeindeversammlung selbst gestellt worden sei, sei hier ein ordentliches Auflageverfahren mit Einsprachemöglichkeit durchgeführt worden. Der Gemeinderat habe der Versammlung vorschriftsgemäss den wesentlichen Inhalt der Einsprachepunkte bekanntgegeben.
Die Gemeinde teilt diese Auffassung. Das Verfahren sei vollständig und richtig durchgeführt worden. Die Beschwerdeführer hätten sich durch Einsprache und an der darauffolgenden Einspracheverhandlung äussern können. Über die Ergebnisse sei an der Gemeindeversammlung orientiert worden. Ein allfälliger Mangel sei durch den Einspracheentscheid geheilt worden. Vor allem aber könne eine Gemeindeinitiative in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs nicht Gegenstand des Mitwirkungsverfahrens sein. Dieses diene vorab der Grundlagenbeschaffung; dazu sei bei der ausformulierten Initiative kein Raum gewesen. Es bestehe kein über Art. 33 und 34 RPG hinausgehender Anspruch aus Art. 4 BV.
c) Die Beschwerdeführer behaupten nicht, die ihnen zustehenden Rechtsschutzansprüche (insbesondere aus Art. 33 RPG) seien verletzt worden. Vielmehr machen sie geltend, aufgrund von Art. 4 BV stünden ihnen bestimmte weiterreichende politische Mitwirkungsrechte zu. Diese erlaubten es ihnen, die politische Meinungsbildung zu beeinflussen, d. h. sich nicht nur indirekt - via Einsprache - an die Behörde, sondern direkt - via Orientierungs- oder Gemeindeversammlung - an die Stimmbürger zu wenden.
Da die Beschwerdeführer nicht vorbringen, die kantonalgesetzliche Konkretisierung des bundesrechtlichen Mitwirkungsgebots sei bundesrechtswidrig, bleibt lediglich zu prüfen, ob diese kantonalrechtlichen Anforderungen eingehalten sind.
d) Das kantonale Recht gestattet es, die Unterlagen über vorgesehene Planungen während einer angemessenen Mitwirkungsfrist öffentlich aufzulegen (Art. 58 Abs. 2 lit. b BauG). Es wird nicht gerügt, diese Vorschrift sei nicht eingehalten worden. Ein Einspracheverfahren fand statt, ebenso eine Einspracheverhandlung. Die entsprechenden Einwendungen sind in der Gemeindeversammlung jedenfalls erwähnt worden. Die Beschwerdeführer rügen ebensowenig, das Mitwirkungsverfahren sei inhaltlich mit Fehlern behaftet gewesen, weshalb eine Verletzung des baugesetzlichen Mitwirkungsgebots nicht ersichtlich ist.