BGHSt 12, 235 - Geistig unreife Beweispersonen
a) Beweispersonen, welche die zum Verständnis ihres Weigerungsrechts nach § 81c StPO erforderliche geistige Reife nicht besitzen, dürfen zu Beweiszwecken körperlich nur untersucht werden, wenn ihr gesetzlicher Vertreter einwilligt.
b) Der gesetzliche Vertreter ist über das Weigerungsrecht richterlich (§ 81c Abs. 3, 4 StPO) zu belehren. Ohne die richterliche Belehrung darf ein Untersuchungsergebnis selbst mit seiner Einwilligung nicht als Beweis verwertet werden. jedoch kann er die Verwertung nach richterlicher Belehrung genehmigen. Eine nicht richterliche Belehrung reicht zur Verwertung selbst dann nicht aus, wenn sie sachlich zutrifft. Die geistig unreife Beweisperson selbst braucht nicht über das Weigerungsrecht belehrt zu werden.
c) Der richterlich ordnungsgemäß belehrte gesetzliche Vertreter kann die Einwilligung in die Untersuchung widerrufen (§ 81c Abs. 2 Satz 3 StPO). Vor einem Widerruf erlangte Untersuchungsbefunde dürfen trotz Widerrufs als Beweis verwertet werden. Weitere Untersuchung darf nicht mehr stattfinden.
Nach beendeter Untersuchung ist ein Widerruf unbeachtlich, es sei denn, der Vertreter war nicht ordnungsgemäß richterlich belehrt worden.
d) Beruht das Urteil auf Nichtbeachtung dieser Grundsätze und beschwert dies den Beschuldigten, so ist ein Revisionsgrund gegeben.
StPO § 81c Abs. 2
Großer Senat für Strafsachen
 
Beschluß
vom 8. Dezember 1958 g.B.
- GSSt 3/58 -
 
Gründe:
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat dem Großen Senat für Strafsachen gemäß § 137 GVG folgende Fragen vorgelegt:
    1. Steht das Untersuchungsverweigerungsrecht eines Nichtbeschuldigten nach § 81c Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 2 StPO auch einer Person zu, welche die zum Verständnis dieses Rechts erforderliche geistige Reife nicht besitzt?
    Bei Bejahung der Frage 1:
    2. Darf dieses Recht durch den gesetzlichen Vertreter ausgeübt werden und in welchem Umfang?
    3. Muß der zur Untersuchungsverweigerung Berechtigte oder sein gesetzlicher Vertreter über das Weigerungsrecht belehrt werden oder muß wenigstens im Zeitpunkt der Untersuchung auch ohne ausdrückliche Belehrung geklärt sein, daß er sein Recht kennt und dennoch von ihm keinen Gebrauch machen will?
    4. Kann der Weigerungsberechtigte oder der zur Ausübung dieses Rechts befugte Vertreter der Verwertung einer Blutprobe in der Hauptverhandlung noch widersprechen, nachdem er vor der Blutentnahme rechtswirksam auf sein Weigerungsrecht verzichtet hat?
    5. Kann ein Angeklagter dann, wenn seine Verurteilung auf der Verwertung einer gesetzwidrig erlangten Blutprobe eines nichtbeschuldigten Weigerungsberechtigten beruht, daraus , ein Rügerecht herleiten?
Der 4. Strafsenat möchte die Fragen zu 1, 2, 3 und 5 bejahen und die Frage zu 4 unter Beachtung der Grundsätze beantworten, die die Rechtsprechung zu den §S 52, 252 StPO (vgl. BGHSt 2, 99) entwickelt hat.
I.
Die Entstehungsgeschichte und der Wortlaut des § 81c Abs. 2 StPO ergeben, daß die Duldungspflicht in dieser Bestimmung nur im Rahmen der Zeugnispflicht besteht.
Bis zum Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl I 995) gab es im Strafverfahren keine gesetzlichen Bestimmungen über Eingriffe in den Körper nichtbeschuldigter Personen. Das Reichsgericht erklärte sie für nicht verpflichtet, die Entnahme einer Blutprobe zuzulassen (RGSt 64, 160 ff; 66, 273). Diesen Rechtszustand änderte das bereits erwähnte Gesetz vom 24. November 1933, das in § 81a Abs. 2 die Entnahme von Blutproben und andere Eingriffe nach den Regeln der ärztlichen Kunst ohne Einwilligung des zu Untersuchenden für Untersuchungszwecke zuließ, wenn kein Nachteil für dessen Gesundheit zu besorgen war. Der Regierungsentwurf zum Vereinheitlichungsgesetz vom 9. Februar 1950, der die Eingriffsmöglichkeit in gewisser Hinsicht einschränkte, hielt daran fest, daß die Entnahme der Blutprobe usw. ohne Einwilligung des zu Untersuchenden zulässig sei (BTDrucks. 1. Wahlperiode Drucks. Nr. 530, Art. 3 Nr. 29). Diese Bestimmung blieb bei den Beratungen im Rechtsausschuß des Bundestages und im Bundestag selbst umstritten (Drucks. Nr. 1138 Mündl. Bericht des 23. Aussch. vom 14. Juli 1950 -, das Protokoll der 79. Sitzung - 2. Beratung im BT am 26. Juli 1950 -, Drucks. Nr. 1246 - Zusammenstellung der BT-Beschlüsse vom 26. Juli 1950 -). In der 81. Sitzung des Bundestages vom 28. Juli 1950 erklärte sich der Bundesjustizminister Dr. Dehler auf Vorschlag des Bundestagsabgeordneten Wagner mit der Einschränkung einverstanden, daß die Prüfungspflicht nach § 81c StPO nur im Rahmen der Zeugnispflicht bestehe. Das billigten die Sprecher der übrigen Parteien, Dr. Arndt und Dr. von Brentano. Demgemäß erhielt § 81c Abs. 1 StPO im Vereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950 (BGBl I 455) den Zusatz: "Die Untersuchung kann aus den gleichen Gründen wie das Zeugnis verweigert werden". Diese Bestimmung gilt auch bei den Eingriffen nach § 81c Abs. 2 StPO, wie es der letzte Satz dieses Absatzes ausdrücklich vorschreibt. Hieran hielt das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953, auf dem die heutige Fassung des § 81c StPO beruht, uneingeschränkt fest (BGBl I 735).
Hieraus ergibt sich, daß das Weigerungsrecht nach § 81c Abs. 2 StPO ein Gegenstück zum § 52 StPO ist. Es besteht also unter den gleichen Voraussetzungen wie das Recht, das Zeugnis zu verweigern. Auch im Falle des § 81c StPO gilt eine Belehrungspflicht. Das folgt daraus, daß nach der Entstehungsgeschichte und dem Wortlaut des § 81c StPO die Duldungspflicht nur im Rahmen der Zeugnispflicht bestehen soll und für diese eine Belehrungspflicht ausdrücklich vorgeschrieben ist. Im übrigen ist dies selbstverständlich; denn ein Recht, das man nicht kennt, kann man nicht ausüben.
II.
Demnach ist zu prüfen, von welchen Voraussetzungen § 52 StPO das Zeugnisverweigerungsrecht abhängig macht.
Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 StPO beruht auf den verwandtschaftlichen Beziehungen des Zeugen zu dem "Beschuldigten". Sie können für den Zeugen, wenn er wie jeder andere Zeuge uneingeschränkt aussagen müßte, zu der Zwangslage führen, entweder den Beschuldigten wahrheitsgemäß zu belasten oder die Unwahrheit auszusagen. Diesem Pflichtenwiderstreit trägt § 52 StPO Rechnung. Er läßt das öffentliche Interesse an möglichst unbehinderter Strafverfolgung hinter das persönliche Interesse des Zeugen zurücktreten, nicht gegen einen Angehörigen aussagen zu müssen. Außerdem besteht auch ein allgemeines Interesse daran, daß der an sich aussagepflichtige Zeuge ohne seine bewußte Zustimmung nicht zur Aussage gegen einen Angehörigen gezwungen wird. § 52 StPO setzt deshalb nur die äußere Konfliktslage voraus, in den die familiären Beziehungen den Zeugen stellen. Ob er diesen Widerstreit empfindet, und ob er sich durch ihn zur Weigerung veranlaßt sieht, ist bedeutungslos.
III.
Da die Duldungspflicht des § 81c Abs. 2 StPO nur im Rahmen der Zeugnispflicht besteht, kann es auch hier nur auf das familienrechtliche Band zwischen der Beweisperson und dem Beschuldigten und nicht darauf ankommen, ob es die Beweisperson auch tatsächlich als einen Konflikt empfindet, in einem Verfahren gegen einen nahen Angehörigen sich als Gegenstand einer Untersuchung gemäß § 81c StPO hergeben zu müssen. Das Gesetz will, daß die - oft schwere - objektive Konfliktslage, die dadurch entsteht, daß die an sich beweispflichtige verwandte Beweisperson zu einem Beweisakt gegen den verwandten Beschuldigten veranlaßt werden soll, eine Konfliktslage, die in der Regel an das Gewissen des Beweispflichtigen rührt, nicht durch staatlichen Zwang, sondern durch die freie, selbstverantwortliche, gewissensmäßige Entscheidung der Beweisperson oder ihres Vertreters im Willen gelöst werde. Ob die Beweisperson infolge mangelnder Verstandesreife (oder geistiger Mängel) die Konfliktslage empfinden kann, ist deshalb unerheblich; denn das Bestehen der objektiven Konfliktslage entscheidet.
IV.
Während der aussagetüchtige Zeuge regelmäßig imstande sein wird, ein ihm zustehendes Zeugnisverweigerungsrecht zu begreifen und deshalb die Entscheidung, ob er aussagen soll, in' freier Entschließung zu treffen, kommt es im Bereich des § 81c Abs. 2 StPO weit häufiger vor, wenn es nicht sogar die Regel ist, daß einer Beweisperson zwar eine Blutprobe entnommen werden kann oder andere Untersuchungen an ihr vorgenommen werden können, ihr aber das Verständnis für diese Maßnahme oder für ein ihr zustehendes Weigerungsrecht wegen mangelnder Verstandesreife abgeht. Wie in einem solchen Falle zu verfahren ist, sagt weder § 52 noch § 81c StPO ausdrücklich. Es entspricht jedoch der deutschen Rechtsordnung, daß ,dann der gesetzliche Vertreter als der Vertreter im Willen die Entscheidung zu treffen hat. Dieser Weg wird auch im Verfahrensrecht in anderen ähnlichen Fällen ausdrücklich gewiesen, auch dort, wo es sich darum handelt, höchstpersönliche Befugnisse wahrzunehmen (vgl. z. B. § 374 Abs. 3 StPO oder das Gesetz über die religiöse Kindererziehung).
Das Reichsgericht hat zwar in einem sehr frühen, das Zeugnisverweigerungsrecht eines Kindes betreffenden Urteil RGSt 4, 398 dahin entschieden, es genüge, daß das Kind über das Zeugnisverweigerungsrecht belehrt werde und daß es daraufhin nicht erkläre, von ihm Gebrauch machen zu wollen; gleichgültig sei, ob das Kind bereits das erforderliche Verständnis für die ihm vom Gesetz eingeräumte Berechtigung gewonnen und welche überzeugung davon das Gericht erlangt habe. Dieser Rechtsansicht kann der Große Senat auf Grund der von ihm oben angestellten Erwägungen nicht folgen, auch nicht für § 81c Abs. 2 StPO. Sie würde im Bereich dieser Vorschrift Überdies zur Folge haben, daß das Weigerungsrecht in den meisten Fällen praktisch gegenstandslos würde.
Ebenso scheidet die andere Möglichkeit aus, die Entnahme einer Blutprobe bei einem Kinde oder seine sonstige Untersuchung gemäß § 81c Abs. 2 StPO solange für unzulässig zu halten, bis das Kind selbst die Entscheidungsreife erreicht hat. Dann würde häufig ein Strafverfahren aus Gründen, die nicht vom Beschuldigten selbst zu vertreten sind, auf Jahre hinaus in der Schwebe bleiben. Diese Folge wäre unerträglich.
V.
Gegen diese Auslegung des § 81c Abs. 2 StPO bestehen keine entscheidenden Bedenken.
1. Es mag sein, daß in einer Reihe von Verfahren (z. B. gegen uneheliche Mütter, die im Verdacht stehen, in Unterhaltsprozessen einen Meineid geleistet zu haben) Beweisschwierigkeiten eintreten. Unerträglich sind sie nicht. Vor dem Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 sind Untersuchungen der in § 81c Abs. 2 StPO erwähnten Art gegen nicht am Verfahren beteiligte Personen überhaupt nur mit deren Zustimmung zulässig gewesen. Wären hierdurch öffentliche Interessen an der Strafverfolgung in beachtlichem Umfange verletzt worden, so hätte der Gesetzgeber wohl schon vor dem Jahre 1933 eingegriffen, zumal das Gewohnheitsverbrechergesetz an den Entwurf einer Strafprozeßordnung vom Jahre 1909 anknüpft (§§ 81, 82). Außerdem liegt es in der Hand der Gerichte, Meineidsverfahren in hoher Zahl zu verhindern, indem sie bei Unterhaltsstreitigkeiten die Kindesmütter nicht sofort auf ihre Aussagen vereidigen, wie dies häufig geschieht, sondern erst dann, wenn die Ergebnisse der Blutgruppenbestimmungen und der erbbiologischen Untersuchungen vorliegen.
2. Gegen diese Auslegung des § 81c Abs. 2 StPO läßt sich auch nicht einwenden, daß der gesetzliche Vertreter durch solche Entscheidungen überfordert wäre. Die von ihm verlangte Entscheidung mag zwar oft schwer und verantwortungsvoll sein. Sie ist aber nicht schwerer als andere Entscheidungen, die ihm das Gesetz zumutet, wie etwa die Bestimmung über die religiöse Erziehung eines noch nicht 14 Jahre alten Kindes (Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 (RGBl I 939 - § 3 Abs. 2).
Es ist Sache des Vormundschaftsgerichts, gegebenenfalls einen geeigneten Vertreter, möglichst aus dem Verwandtenkreise des Kindes - u. U. im Einvernehmen mit dem Amtsvormund (§ 40 JWohlfG) - zu bestellen, der fähig ist, die höchstpersönliche Entscheidung für das Kind zu treffen.
Dem gesetzlichen Vertreter, der an Stelle des Kindes handelt, steht die Entscheidung über das Weigerungsrecht in jeder Richtung zu. Er darf den Eingriff ablehnen oder ihm zustimmen.
VI.
Der gesetzliche Vertreter ist über das Weigerungsrecht zu belehren, und zwar durch den mit der Sache befaßten Richter. Das ergibt sich aus § 81c Abs. 3 und 4 StPO. Die Untersuchung anordnen können neben dem Richter bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung allerdings auch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten. Unmittelbarer Zwang darf jedoch nur auf besondere Anordnung des Richters angewandt werden. Die ihrem Wesen nach besonders verantwortungsvolle Maßnahme zu treffen, ist also nur der Richter berufen. Da die sachgemäße Belehrung über das Weigerungsrecht von nicht geringerer Bedeutung ist, meint der Große Senat, daß nur der Richter sie vorzunehmen hat.
ist die richterliche Belehrung unterblieben, so darf ein Untersuchungsergebnis nicht verwertet werden, selbst wenn der gesetzliche Vertreter dem zustimmt; denn nur die richterliche Belehrung gewährleistet es, daß der gesetzliche Vertreter das Für und Wider seiner Entscheidung richtig beurteilen kann. Hingegen ist es zulässig, ein zunächst ohne wirksame Zustimmung des gesetzlichen Vertreters gewonnenes Untersuchungsergebnis als Beweismittel zu benutzen, wenn dieser nach richterlicher Belehrung darin einwilligt.
Da das unmündige Kind über sein Weigerungsrecht nicht entscheiden kann, braucht es naturgemäß auch nicht belehrt zu werden. Der gesetzliche Vertreter tritt hier in vollem Umfänge an dessen Stelle.
VII.
Für den Widerruf des Verzichts auf das Weigerungsrecht gelten die allgemeinen zu § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO entwickelten Grundsätze. Der gesetzliche Vertreter kann die nach richterlicher Belehrung erteilte Einwilligung in die Untersuchung widerrufen. Das hat zur Folge, daß weitere Untersuchungen nicht mehr stattfinden dürfen. Hingegen ist es zulässig, den vor dem Widerruf erlangten Untersuchungsbefund noch als Beweismittel zu verwerten. Nach beendeter Untersuchung ist ein Widerruf bedeutungslos.
VIII.
Der Angeklagte kann die Nichtbeachtung dieser Grundsätze ebenso wie die Verletzung des Zeugnisverweigerungsrechts des § 52 StPO mit der Revision geltend machen. Dabei versteht der Große Senat unter einer "gesetzwidrig erlangten Blutprobe" im Sinne der Vorlegungsfrage eine Blutuntersuchung, die ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters des unmündigen Kindes oder zwar mit seiner Zustimmung, aber ohne vorherige richterliche Belehrung über das Weigerungsrecht vorgenommen worden ist.