BGHSt 12, 262 - Rücklieferung |
1. Ein Verfolgter, der auf Grund einer Durchlieferungsbewilligung der deutschen Regierung von einem ausländischen Staat an eine zuständige deutsche Behörde zum Zwecke der Durchlieferung übergeben worden ist, darf an den übergebenden Staat zurückgeliefert werden, wenn sich vor Beendigung der Durchlieferung herausstellt, daß er deutscher Staatsangehöriger ist. |
2. Der Haftbefehl zur Sicherstellung der Rücklieferung ist gemäß den §§ 33 Abs. 2 Nr. 1, 30 DAG zu erlassen. |
Deutsches Auslieferungsgesetz (DAG) §§ 30, 33 |
4. Strafsenat |
Beschluß |
vom 7. Januar 1959 |
- 4 ARs 45/58 - |
(Fall Baer) |
Gründe: |
Auf Ersuchen der Republik Österreich bewilligte der Justizminister der Bundesrepublik Deutschland die Durchlieferung des Kaufmanns B., dessen Staatsangehörigkeit ungeklärt war, aus Frankreich nach Österreich zur Strafverfolgung wegen mehrerer in Österreich begangener Straftaten, wobei er annahm, der Verfolgte besitze nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. B. wurde im April 1958 in Kehl der deutschen Behörde übergeben und auf Grund des Durchlieferungshaftbefehls des Oberlandesgerichts in Karlsruhe in Haft genommen. Vor dem Amtsrichter in Kehl erklärte er sich mit der Durchlieferung einverstanden. Später widersprach er dieser Maßnahme jedoch, weil er deutscher Staatsangehöriger sei. Da sich diese Behauptung als zutreffend erwies, konnte er nach § 33 Abs. 1 DAG den österreichischen Behörden nicht überstellt werden. Der Durchlieferungshaftbefehl wurde deshalb aufgehoben. B. wurde aber nunmehr wegen seiner in Österreich und weiterer im Jahre 1955 in Deutschland verübten Straftaten in Untersuchungshaft genommen.
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Das österreichische Bundesministerium für Justiz verlangt die Rückgabe des Verfolgten an die französischen Behörden. Es ist der Ansicht, die Bundesrepublik sei nach dem Widerruf der Durchlieferungsbewilligung nicht berechtigt, über den Verfolgten so zu verfügen, als ob er von der französischen Regierung an Deutschland zur Strafverfolgung ausgeliefert worden sei. Die einseitige Aufhebung der aus der Durchlieferungsbewilligung fließenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland könne nur dazu führen, daß die Übernahme des Verfolgten rückgängig gemacht, dieser den französischen Behörden zurückgestellt und solange zu diesem Zweck - jedoch nicht in Untersuchungshaft für ein deutsches Strafverfahren - festgehalten werde. Dabei sei zu beachten, daß die französische Regierung auf Grund eines Auslieferungsersuchens der spanischen Regierung gleichzeitig mit der Bewilligung der Auslieferung des Verfolgten an Österreich auch die Zustimmung zu seiner Weiterleitung aus Österreich nach Spanien erteilt habe.
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Der Generalbundesanwalt hat beantragt, über folgende Rechtsfragen zu entscheiden:
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a) Darf ein Verfolgter, der auf Grund einer Durchlieferungsbewilligung übergeben worden ist, an den übergebenden Staat zurückgeliefert werden, wenn sich nachträglich herausstellt, daß er Deutscher ist und seine Durchlieferung daher nicht möglich ist, oder steht eine Rücküberstellung einer durch Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG verbotenen Auslieferung gleich?
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b) Auf Grund welcher gesetzlichen Bestimmung ist der Haftbefehl zur Sicherstellung der Rücklieferung zu erlassen?
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Nach deutscher Rechtsauffassung, die der allgemeinen kontinental-europäischen Auslieferungsgesetzgebung und Vertragsgestaltung entspricht (vgl. Schniederkötter, Die Durchlieferung, Heft 29 der Hamburger Rechtsstudien, S. 25 ff.), ist die Durchlieferung zwar ein Unterfall der Auslieferung, wie sich auch aus § 33 DAG eindeutig ergibt. Die gesetzlichen Voraussetzungen stimmen daher für beide Maßnahmen weitgehend überein. Die Durchlieferung eines deutschen Staatsangehörigen ist mithin ebenso ausgeschlossen wie seine Auslieferung. Beides verbietet auch der verfassungsrechtliche Schutz des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. In beiden Fällen darf die deutsche Regierung nicht dazu beitragen, daß ein deutscher Staatsangehöriger der Gerichtsbarkeit eines fremden Staates unterworfen wird.
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Dennoch unterscheidet sich die Durchlieferung wesentlich von der Auslieferung, weil sie nur eine von einem fremden Staat einem anderen ausländischen Staat bewilligte Auslieferung unterstützen soll (vgl. RGSt 65, 374 [388]). Diese Zweckrichtung beeinflußt auch die völkerrechtliche Stellung des die Durchlieferung übernehmenden Zwischenstaates.
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Der ausländische Staat, der die Auslieferung eines Missetäters bewilligt, verzichtet nur zugunsten eines bestimmten anderen ausländischen Staates auf die Ausübung seiner Strafgewalt als Teil der Hoheitsgewalt, die ihm über alle in seinem Staatsgebiet weilenden Personen zusteht (vgl. RGSt 34, 191 [193]). Der Zwischenstaat aber hat bei der Bewilligung der Durchlieferung eine solche aus seiner Gebietshoheit fließende Herrschaftsgewalt über den Durchzuliefernden nicht. Er könnte sie überhaupt erst mit der Übergabe des Verfolgten an seine Vollzugsbeamten erhalten. Mit der Durchlieferungsbewilligung hat er jedoch zugleich auf die Ausübung der Hoheitsgewalt zu eigener Strafverfolgung verzichtet; denn dazu soll nach dem Willen aller bei der Durchlieferung beteiligten Staaten nur der auslieferungsberechtigte Empfangsstaat mit der Übergabe des Verfolgten an ihn befugt sein. Der ausliefernde Staat ist nicht gewillt, dem durchliefernden Staat weitergehende Machtbefugnisse über den Verfolgten einzuräumen, als es zur Ausführung der Durchlieferung erforderlich ist. Er ist lediglich damit einverstanden, daß der Zwischenstaat zu diesem Zweck Zwangsmaßnahmen gegen den ihm übergebenen Gefangenen anwendet. Da der Durchzuliefernde nur auf Grund des übereinstimmenden Willens der beiden an der Ausliefrung beteiligten Staaten zu einem bestimmten Zweck in den Machtbereich des Zwischenstaates gelangt, ist er - ähnlich wie bei der Auslieferung eines einer fremden Gewalt Unterworfenen an ihn (RGSt 34, 199) - an die ihm durch die Zweckbestimmung gesetzten Grenzen völkerrechtlich gebunden.
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Diese Rechtsstellung des Zwischenstaates verstärkt sich auch nicht dadurch, daß sich der Durchlieferung nach innerstaatlichem Recht ein unüberwindliches Hindernis entgegenstellt, weil sich der Verfolgte als sein eigener Staatsangehöriger zu erkennen gegeben hat. Ist es in einem solchen Fall nach Völkergewohnheitsrecht auch zulässig, die Überstellung des Gefangenen an den auf Grund der Durchlieferungsbewilligung empfangsberechtigten Staat zu verweigern, so wird der Heimatstaat des Verfolgten dadurch doch nicht zur Ausübung der vollen staatlichen Hoheitsgewalt über ihn berechtigt. Die Verfügungsgewalt steht vielmehr nach wie vor dem übergebenden Staat zu, der auf sie nur zugunsten des die Auslieferung begehrenden Staates verzichten wollte. Der Zwischenstaat darf deshalb mit dem ihm zu treuen Händen überlassenen Gefangenen, wenn sich die Durchlieferung als unausführbar erweist, nicht nach eigenem Gutdünken verfahren. Er muß ihn vielmehr zur Verfügung des ausliefernden Staats halten und diesem auf Verlangen der beiden an der Auslieferung beteiligten Staaten zurückgeben.
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Diese Verpflichtung des Zwischenstaats besteht kraft der von ihm bei der Durchlieferungsbewilligung eingegangenen und bei der Übernahme des Gefangenen aufrechterhaltenen Selbstbeschränkung auch dann, wenn der zur Durchlieferung übernommene sein eigener Staatsangehöriger ist. Er kann über seinen Staatsbürger keine weitergehenden Hoheitsrechte ausüben, als der ausliefernde Staat ihm durch die Übergabe des Verfolgten eingeräumt hat, selbst wenn dieser damit einverstanden wäre. Denn nur der fremde Staat selbst entscheidet darüber, in welchem Umfang er seine staatliche Macht über die seiner Gewalt Unterworfenen - ganz gleich, welche Staatsangehörigkeit sie besitzen - zugunsten eines anderen Staates einschränken will (RG a.a.O. S. 195).
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Unerheblich ist es deshalb auch, ob die Durchlieferungsbewilligung auf einem Irrtum über die Staatsangehörigkeit des Verfolgten beruhte; denn dadurch erhält die lediglich zugunsten des auslieferungsberechtigten dritten Staats erklärte Machtübertragung des ausliefernden Staats keinen anderen Inhalt. Ohne dessen Zustimmung kann der Zwischenstaat auf Grund des Widerrufs der Durchlieferungsverpflichtung allein nicht über den Verfolgten verfügen, als ob er ihm ausgeliefert, nicht bloß zum Zwecke der Durchlieferung übergeben worden wäre. Das gilt selbst dann, wenn angenommen wird, daß die Durchlieferungsbewilligung von vornherein nur unter der selbstverständlichen Voraussetzung erteilt sei, daß der Verfolgte kein deutscher Staatsangehöriger ist. Denn dadurch, daß die Durchlieferungspflicht entfällt, gewinnt der die Durchlieferungsbewilligung widerrufende Staat keinen Machtzuwachs.
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Der Rücklieferungspflicht steht auch das innerstaatliche Verbot der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger nicht entgegen (Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG, § 1 DAG). Dieses hindert die deutsche Regierung nur, dazu beizutragen, daß über seine Staatsbürger ein fremder Staat Gerichtsbarkeit ausüben kann, wenn dieser nicht aus eigener Macht dazu in der Lage ist (vgl. BGHSt 5 , 396 [405]). Auslieferung ist daher nur die amtliche Überantwortung einer Person aus dem Bereich inländischer Gerichtsbarkeit in eine ausländische Gerichtsbarkeit (RGSt 65, 374 [377]). Allerdings greift das Verbot auch bei der Durchlieferung deutscher Staatsbürger Platz, obwohl der deutsche Staat in diesem Fall mit der Übergabe des Verfolgten keine Strafgewalt über diesen erlangt hatte. Jedoch würde er durch die Überstellung des Verfolgten an den auslieferungsberechtigten Empfangsstaat dazu beitragen, daß dieser auf Grund der Auslieferungsbewilligung des ausländischen Staates die Macht erhielte, Strafgewalt über einen deutschen Staatsangehörigen auszuüben, die er nicht ohne die Durchlieferung - wenigstens nicht in diesem Zeitpunkt - bekäme. Durch die Rücklieferung empfängt aber der Staat, der den Verfolgten zur Durchlieferung übergeben hat, keinen Zuwachs seiner Machtbefugnisse, sondern er erhält nur die tatsächliche Möglichkeit zurück, sie auszuüben, die er - ohne seine Hoheitsrechte zugunsten des Durchlieferungsstaates völlig aufzugeben - durch die Übergabe einbüßte, weil er auf die zur Förderung des Auslieferungsverfahrens übernommene Durchlieferungsverpflichtung des Zwischenstaats vertraute. Die Rücklieferung eines nur zum Zwecke der Durchlieferung übernommenen Deutschen bedeutet deshalb auch nicht die Aufgabe der aus der staatlichen Hoheitsgewalt fließenden Strafgewalt, weil der deutsche Staat durch die Übergabe des Verfolgten zur Durchlieferung nicht zur Ausübung der Strafgewalt ermächtigt worden war. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß der Rückgelieferte alsbald auf anderem Wege ohne Hilfe seines Heimatstaates ausgeliefert werden kann (vgl. auch RGSt 65, 387). Denn die auf Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG gestützte Verweigerung der Durchlieferung umfaßt nicht das Recht, die Auslieferung eines Deutschen durch einen anderen Staat überhaupt unmöglich zu machen.
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Entgegen der Meinung des Generalbundesanwalts ist die Rücklieferung daher ebenso zulässig wie die Rückführung eines vorläufig ausgelieferten deutschen Staatsangehörigen nach Erledigung des inländischen Strafverfahrens. In diesem Falle wird die Rücklieferung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs deshalb nicht als Auslieferung angesehen, weil der deutsche Staat auf Grund einer vorläufigen Auslieferung nur einen Teil der Hoheitsgewalt des ausländischen Staats übertragen erhalten hat und durch die Rücklieferung nur der Zustand wiederhergestellt wird, der schon vor der vorläufigen Auslieferung bestanden hat. Sie setzt den ausliefernden Staat wieder in die Lage, in der er sich schon vorher befunden und die er freiwillig zugunsten des ersuchenden Staats aufgegeben hat. Dieser erhält den ihm übertragenen Teil der Gewalt nur mit der Rücklieferungsverpflichtung belastet. Infolgedessen kann der Heimatstaat des Verfolgten diesem keinen größeren Schutz angedeihen lassen als vor seiner vorläufigen Auslieferung, also während seines Aufenthalts im Gebiet des ausländischen Staats (vgl. BGHSt 5, 396 [404 ff.]; von Mangoldt/Klein, Bonner Grundgesetz 2. Aufl. Art. 16 Anm. IV 2 d; Grützner in NJW 1954, 1023 II b und bei Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte S. 590 f.; Jescheck, Internationale Rechtshilfe in Europa ZStW 66, 531; LK 7. Aufl. Bd. 1 § 9 Anm. 3; a.A. die ältere Literatur: Mettgenberg, DAG 2. Aufl. S. 288 f; Meyer, Die Einlieferung S. 49; Wernicke, Bonner Kommentar Art. 16 Il 3 e).
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Diese Erwägungen treffen in erhöhtem Maße auf die Rücklieferung eines deutschen Staatsangehörigen zu, der den deutschen Behörden lediglich zum Zwecke der Durchlieferung an einen anderen ausländischen Staat übergeben worden war. In diesem Fall hat der deutsche Staat noch geringere Machtbefugnisse über den Verfolgten erhalten, nämlich nur die Zwangsgewalt, ihn weiter in Haft zu behalten und dem empfangsberechtigten Staat zu überstellen. Daß er in diesem Falle keine ausdrückliche Rücklieferungspflicht gegenüber dem ausliefernden Staat übernommen hat, ist für die rechtliche Beurteilung bedeutungslos. Sie folgt zugunsten dieses Staates ohne weiteres auf Grund der zweckgebundenen Übernahme des Gefangenen aus der Herrschaftsgewalt des ausliefernden Staates. Mindestens der auslieferungsberechtigte Staat kann nach Aufhebung der ihm gegenüber erklärten Durchlieferungsbewilligung zugunsten des ausliefernden Staates die Rücküberstellung des Verfolgten an diesen verlangen.
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Der dem innerstaatlichen Auslieferungsverbot zugrunde liegende Schutzgedanke gegenüber den eigenen Staatsangehörigen verbietet die Rücklieferung ebenfalls nicht. Da der deutsche Staat durch die zwangsweise Übergabe des Verfolgten zum Zwecke der Durchlieferung nicht zur Ausübung unbeschränkter Hoheitsgewalt über ihn ermächtigt worden ist, darf er ihm auch keinen Schutz gegenüber demjenigen Staat gewähren, dem sich der Gefangene durch den Aufenthalt in dessen Staatsgewalt unterworfen hatte. Durch die Rücklieferung des unter irrigen Voraussetzungen übergebenen Verfolgten wird nur die Rechtslage wiederhergestellt, die für ihn vor Beginn der - unzulässigen - Durchlieferung bestand.
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Bei dieser Rechtslage kann es unerörtert bleiben, ob einem Strafverfahren gegen B. auch der Grundsatz der Spezialität entgegenstände. Denn der deutsche Staat ist überhaupt nicht berechtigt, irgendein Strafverfahren, ganz gleich wegen welcher Straftaten, gegen ihn einzuleiten, weil er nicht die Gerichtsgewalt über ihn ausüben darf. Er hat sich mit der Bewilligung der Durchlieferung vielmehr stillschweigend verpflichtet, von allen hoheitlichen Maßnahmen gegenüber dem nach Österreich Durchzuliefernden abzusehen, welche den Zweck der Durchlieferung vereiteln oder verzögern könnten. Dies gilt auch, wenn er die endgültige Überstellung des Gefangenen an den auslieferungsberechtigten Staat verweigern kann.
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Das Einverständnis des Verfolgten mit einem Strafverfahren gegen ihn, auch wegen der in Österreich begangenen Straftaten, ist wirkungslos, weil er nicht über die staatshoheitlichen Rechte des Landes, dessen Gewalt er sich unterworfen hatte, verfügen kann. Solange Frankreich, das seine Strafgewalt über ihn nicht zugunsten der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben hat, sich nicht mit seinem Verbleiben und der Strafverfolgung in Deutschland ausdrücklich einverstanden erklärt, können die deutschen Behörden nicht strafgerichtlich gegen ihn vorgehen. Die bereits ergangenen Haftbefehle müssen deshalb aufgehoben werden.
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2. Zu Frage b):
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Die deutschen Behörden sind nunmehr verpflichtet, B. für Frankreich in Verwahrung zu nehmen, um seine Rücklieferung zu ermöglichen. Zu diesem Zweck muß daher erneut Haftbefehl gegen ihn erlassen werden. Auf diesen sind die Vorschriften des § 30 DAG anzuwenden, weil es sich um die Abwicklung einer nicht ausführbaren Durchlieferung handelt (§ 33 Abs. 2 Nr. 1 DAG). Die für die Auslieferungshaft bestimmten Regeln des § 10 DAG gelten grundsätzlich nicht im Durchlieferungsverfahren.
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