BGHSt 22, 213 - Verfahrenshindernis nach Urteilserlaß
Ist gegen ein Urteil form- und fristgerecht Revision eingelegt, so führt eine nach dem Erlaß des Urteils eingetretene Verjährung zur Einstellung des Verfahrens, auch wenn die Revision nicht oder nicht ordnungsgemäß begründet worden ist.
StPO § 346
3. Strafsenat
 
Beschluß
vom 17. Juli 1968 g.B.
- 3 StR 117/68 -
I. Amtsgericht Geldern
II. Oberlandesgericht Düsseldorf
 
Gründe:
1. Das Amtsgericht Geldern hat den Angeklagten wegen zweier Übertretungen der Gewerbeordnung verurteilt. Hiergegen hat der Angeklagte fristgerecht Revision eingelegt, sie aber nicht begründet (§ 345 Abs. 1 StPO); die Begründungsfrist lief am 28. April 1967 ab. In der Zeit zwischen dem 26. Mai 1967 und Anfang September 1967 ist eine richterliche Handlung in dieser Sache gegen den Angeklagten nicht mehr vorgenommen worden (vgl. §§ 68 Abs. 1, 67 Abs. 3 StGB). Durch Beschluß vom 19. Oktober 1967 hat das Amtsgericht die Revision des Angeklagten wegen unterlassener Begründung gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen. Dagegen hat der Angeklagte auf Entscheidung des Revisionsgerichts angetragen (§ 346 Abs. 2 StPO).
Das Oberlandesgericht Düsseldorf möchte den Antrag verwerfen. Es ist der Auffassung, daß das Revisionsgericht zu einer Nachprüfung in der Sache selbst, auch auf etwaige Verfahrenshindernisse, nicht vordringen könne. Unter Berufung auf den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 16. Juni 1961 - 1 StR 95/61 (BGHSt 16, 115) betrachtet es als unabdingbare Voraussetzung für eine sachliche Prüfung nicht nur die rechtzeitige Einlegung, sondern ebenso die rechtzeitige und formrichtige Begründung des Rechtsmittels. Für eine Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung der Strafverfolgung sei im übrigen, so führt das Oberlandesgericht weiter aus, auch deshalb kein Raum, weil das Urteil des Amtsgerichts bereits mit Ablauf der nicht genutzten Revisionsbegründungsfrist rechtskräftig geworden sei.
An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das vorlegende Oberlandesgericht durch einen Beschluß des Oberlandesgerichts Hamburg (NJW 1963, 265) gehindert. Das Oberlandesgericht Hamburg vertritt die Meinung, die in BGHSt 16, 115 ff. ausgesprochene Rechtsansicht gelte nur für den dort entschiedenen Fall des bereits vor Urteilsfällung eingetretenen und vom Tatrichter nicht beachteten Verfahrenshindernisses. Trete Verjährung erst nach Erlaß des Urteils ein, so sei das Verfahren auch beim Fehlen einer rechtzeitigen oder formrichtigen Revisionsbegründung einzustellen.
Zu den Entscheidungen über das Rechtsmittel der Revision im Sinne des § 121 Abs. 2 GVG, die eine Vorlegungspflicht auslösen können, zählen auch Beschlüsse nach § 346 Abs. 2 StPO (BGHSt 11, 152). Allerdings ist ein Oberlandesgericht, das der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs folgen will, nicht deshalb zur Vorlegung verpflichtet, weil ein anderes Oberlandesgericht nachträglich vom Bundesgerichtshof abgewichen ist, ohne ihm die Sache vorzulegen (BGHSt 13, 149). Um eine solche Abweichung handelt es sich aber bei dem Beschluß des Oberlandesgerichts Hamburg nicht; die Rechtsfrage ist, wie noch darzulegen sein wird, nicht dieselbe.
a) Wie das Revisionsgericht auf eine formgerecht und rechtzeitig eingelegte, aber nicht oder nicht ordnungsgemäß begründete Revision zu entscheiden hat, wenn es ein Prozeßhindernis feststellt, ist streitig (zur Rechtsprechung des Reichsgerichts siehe die Darstellung in BayObLGSt 1953, 82 ff.). Das Bayerische Oberste Landesgericht hat darauf abgestellt, ob das Verfahrenshindernis vor oder nach Erlaß des tatrichterlichen Urteils eingetreten war, und im ersten Falle die Revision als unzulässig verworfen (BayObLGSt, a.a.O.), im zweiten Falle das Verfahren wegen des Hindernisses eingestellt (BayObLGSt 1953, 97). Dem haben sich Niethammer (JZ 1954, 580, 581) und G. Schwarz (NJW 1954, 1228, 1229) angeschlossen. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte zunächst die Auffassung vertreten, in beiden Fallgruppen sei auf Einstellung zu erkennen (BGHSt 15, 203 = JZ 1961, 390 mit - im Ergebnis - zust. Anm. Stratenwerth). Der 1. Strafsenat ist von dieser Ansicht mit Zustimmung des 4. Strafsenats für den von ihm entschiedenen Fall abgegangen, in dem das Verfahrenshindernis schon vor Erlaß des angefochtenen Urteils eingetreten, vom Tatrichter jedoch übersehen worden war (BGHSt 16, 115). Während Schäfer bei Löwe/Rosenberg (StPO, 21. Aufl., Einl. S. 74) ganz allgemein verlangt, daß sich erst das Rechtsmittel des Beschwerdeführers als zulässig erwiesen haben müsse, ehe an eine Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse herangegangen werden könne, billigen Müller/Sax (6. Aufl., Einl. 11 g und § 346 Anm. 1 b) und Sarstedt (Die Revision in Strafsachen, 4. Aufl., S. 111 Fn. 7) die Entscheidung BGHSt 16, 115 mit dem der Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts entsprechenden, ausdrücklich einschränkenden Hinweis, daß bei nachträglich eingetretenem Hindernis das Verfahren eingestellt werden müsse. Eb. Schmidt setzt sich für Einstellung in jedem Falle ein (JZ 1962, 155; vgl. auch Lehrkomm., 2. Aufl., Teil I S. 122 f Rn. 200; anders noch die Vorauflage Teil I S. 95 Rn. 179).
b) An der Rechtsauffassung in BGHSt 16, 115 ist für die dort gegebene Sachlage festzuhalten. Dort ist die Nichtbeachtung eines Verfahrenshindernisses in ein Urteil eingegangen. In diesem Falle ist es die Revision selbst, die in unmittelbarem Zugriff auf dem Wege über die Aufdeckung des Rechtsmangels das Urteil beseitigt. Diesen Zugriff, die Nachprüfung der Entscheidung auf Fehler, macht das Gesetz von dem Vorhandensein bestimmter förmlicher Voraussetzungen abhängig. Sind sie nicht erfüllt, so bleibt das Urteil der Prüfung verschlossen. Der Tatrichter kann es schon wegen der Bindung an seinen einmal gefällten Spruch nicht ändern. Aber auch das Revisionsgericht hat solange keine weitergehenden Befugnisse, als ihm nicht die Einhaltung der Zulässigkeitsvorschriften durch den Beschwerdeführer den Zugang zum Urteil eröffnet. jene absolute Bedeutung, die zur Folge hätte, daß sie stets durchschlügen, wenn nur das Verfahren noch anhängig ist, vermag der Senat den Verfahrenshindernissen nicht zuzuerkennen. Sie teilen damit das Schicksal anderer Rechtsfehler, die in einem sachlichrechtlichen Verstoß oder in der Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften bestehen und die mangels Zulässigkeit der Revision oder, weil der Fehler nicht ordnungsgemäß gerügt ist, ebenfalls nicht berücksichtigt werden können.
c) Anders liegt es indes bei nachträglichem Eintritt des Hindernisses.
Hier handelt es sich nicht um die Nachprüfung eines (fehlerhaften) Urteils und seine Richtigstellung, sondern um die Beachtung eines erst nach Urteilserlaß eingetretenen Ereignisses, das eine neue Verfahrenslage geschaffen hat. Der Generalbundesanwalt, der ebenfalls von der Rechtsansicht des 1. Strafsenats ausgeht, meint allerdings, es seien keine überzeugenden Gründe für die rechtliche Notwendigkeit zu erkennen, innerhalb der Verfahrenshindernisse in der Weise zu unterscheiden, daß das Revisionsgericht auf eine unzulässige Revision zwar ein vom Tatrichter übersehenes Verfahrenshindernis außer Betracht lassen und ein verurteilendes Erkenntnis bestätigen müsse, daß es aber wegen eines erst nach dem Erlaß eines tatrichterlichen Urteils eingetretenen Verfahrenshindernisses das Verfahren einstellen und damit dem auf Grund der damaligen Verfahrenslage zu Recht ergangenen Urteil seine rechtlichen Wirkungen abzuerkennen habe. Dem kann jedoch nicht beigetreten werden. Seiner rechtlichen Wirkungen wird das angefochtene Urteil freilich auch durch die Einstellung des Verfahrens beraubt. Das beseitigt aber nicht den grundsätzlichen Unterschied, der darin liegt, daß die Berücksichtigung des später eingetretenen Hindernisses nicht die - unzulässige - Nachprüfung in der Sache erfordert, vor die der Gesetzgeber die Hürden der §§ 341 Abs. 1, 344, 345 StPO gesetzt hat. Diesen Unterschied einzuebnen, sind auch allgemeine Gerechtigkeitserwägungen nicht geeignet (Stratenwerth, a.a.O.).
Demnach besteht hier, solange das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, keine gesetzliche Schranke, die der Berücksichtigung der veränderten Verfahrenslage im Wege stünde, welche durch den nachträglichen Eintritt des Prozeßhindernisses entstanden ist. Ihr hat der Tatrichter durch Einstellung des Verfahrens Rechnung zu tragen, solange es noch bei ihm anhängig ist; in gleicher Weise verfährt das Revisionsgericht, das sich vor dieselbe Lage gestellt sieht. Beidemale handelt es sich, obschon der Beschluß im Rechtsmittelverfahren ergeht, ebenso um eine Erstentscheidung, wie sie der Tatrichter hätte erlassen müssen, wenn sich das Verfahrenshindernis im vorhergehenden Rechtszug eingestellt hätte (vgl. BayObLGSt, a.a.O.). Die Bedeutung der eingelegten Revision erschöpft sich in Fällen wie dem vorliegenden darin, daß sie das Verfahren in der Schwebe und damit für die Einwirkung des Hindernisses offen hält.
d) Für die Berücksichtigung des Umstands, daß während der Frist des § 67 Abs. 3 StGB eine richterliche Handlung gegen den Angeklagten nicht vorgenommen worden ist, wäre allerdings kein Raum mehr, wenn das Urteil des Amtsgerichts, wie das Oberlandesgericht Düsseldorf annimmt, bereits mit Ablauf der (nicht genutzten) Revisionsbegründungsfrist in Rechtskraft erwachsen sein würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Die - soweit ersichtlich - vereinzelt gebliebene Entscheidung des Kammergerichts in HRR 1928 Nr. 580, der sich das vorlegende Oberlandesgericht anschließt, beruft sich maßgeblich auf §§ 346 Abs. 2 Satz 2 zweiter Halbsatz, 449 StPO. Aus dem Zusammenhalt dieser Bestimmungen will das Kammergericht zunächst entnehmen, daß die Rechtskraft jedenfalls nicht erst mit der Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO eintrete. Da aber der Verwerfungsbeschluß nach § 346 Abs. 1 StPO die Rechtskraft nicht herbeiführen könne, solange er, noch mit dem Rechtsbehelf des § 346 Abs. 2 StPO angreifbar, selbst noch nicht rechtskräftig sei, müsse weiter, nämlich auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Begründungsfrist, zurückgegriffen werden. Indessen lassen die §§ 346 Abs. 2 Satz 2, 449 StPO auch den Schluß zu, daß durch die erstgenannte Vorschrift eine Ausnahme von dem Grundsatz des § 449 StPO verfügt und eine vorläufige Vollstreckbarkeit geschaffen werden sollte (so die herrschende Meinung, vor allem Niese JZ 1951, 758 III und Müller/Sax, § 346 StPO Anm. 7). Der Umstand, daß das Gesetz die Zulässigkeit der Vollstreckung vor der Entscheidung des Revisionsgerichts eines besonderen Ausspruchs bedürftig hielt, legt die letztere Annahme näher. Gegen die Meinung des Kammergerichts und des vorlegenden Oberlandesgerichts spricht ferner, daß die Ansicht, schon der Ablauf der Begründungsfrist führe die Rechtskraft herbei, eine unklare Verfahrenslage vor allem in den Fällen schüfe, in denen die Revision ihres sachlichen Inhalts wegen unzulässig ist. So geht denn in jüngerer Zeit der Streit auch nur noch darum, ob die Rechtskraft mit dem Beschluß nach § 346 Abs. 1 StPO oder erst mit der Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 346 Abs. 2 StPO) eintritt. Diese Frage braucht hier nicht untersucht zu werden, weil schon der die Revision verwerfende Beschluß des Amtsgerichts - der nicht mehr hätte ergehen dürfen - nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 67 Abs. 3 StGB erlassen worden ist. Für die Entscheidung des vorliegenden Falles genügt die Feststellung, daß ein mit der Revision angefochtenes Urteil jedenfalls mit dem Ablauf der Revisionsbegründungsfrist noch nicht rechtskräftig wird (so auch die weit überwiegende Meinung in Schrifttum und Rechtsprechung, vgl. Jagusch bei Löwe/Rosenberg, § 346 StPO Anm. 2 a; Müller/Sax, a.a.O.; Eb. Schmidt, Teil II, § 346 Rn. 6, § 349 Rn. 13, 14; RGSt 53, 235; OLG Neustadt GA 1955, 185, 188; OLG Hamburg NJW 1963, 265).
e) Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Sache dem Oberlandesgericht Düsseldorf zur Entscheidung in eigener Zuständigkeit zurückzugeben, da die Rechtsfrage in dem Beschluß BGHSt 16, 115 in dem dort ausgesprochenen Sinne mitentschieden sei.