BGHSt 34, 215 - Prozessualer Beschuldigtenbegriff |
Prozessuale Gemeinsamkeit mehrerer Ermittlungsverfahren mit der Folge, daß mehrere Beschuldigte förmlich zu Mitbeschuldigten werden und den Angehörigen eines der Mitbeschuldigten ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 StPO erwächst, kann nur durch eine ausdrückliche Entscheidung der Staatsanwaltschaft begründet werden. |
StPO § 52 Abs. 1 |
1. Strafsenat |
Urteil |
vom 4. November 1986 g.P. |
- 1 StR 498/86 - |
Landgericht Stuttgart |
Aus den Gründen: |
Die Revision beanstandet zu Recht, daß die Zeugen E., L. und Sch. in der Hauptverhandlung dahin belehrt wurden, ihnen stehe jeweils ein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 Abs. 1 StPO als Angehörigen früherer Mitbeschuldigter zu. Diese Belehrung war fehlerhaft. Zwar handelt es sich nach den Feststellungen bei den Zeugen E., L., W. Sch. und M. Sch. um die Lieferanten und die Diebe der Scheckformulare und Scheckkarten, welche die Angeklagte zusammen mit ihrem getrennt verfolgten Ehemann aufgekauft, zum überwiegenden Teil mit den gefälschten Unterschriften der Kontoinhaber versehen und bei Banken oder Geschäften mit den eingesetzten Beträgen eingelöst hat. Auch sind der Zeuge E. als der frühere, der Zeuge W. Sch. als der jetzige Ehemann der Zeugin M. Sch. und die Zeugin L. als deren Tochter jeweils Angehörige im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 StPO. Doch scheitert ein Zeugnisverweigerungsrecht nach dieser Vorschrift daran, daß gegen die Angeklagte und die Zeugen getrennte Verfahren durchgeführt wurden, die zu keiner Zeit förmlich miteinander verbunden waren.
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Richtet sich ein einheitliches Verfahren gegen mehrere Beschuldigte und steht der Zeuge auch nur zu einem von ihnen in einem Angehörigenverhältnis nach § 52 StPO, so ist er zur Verweigerung des Zeugnisses hinsichtlich aller Beschuldigten berechtigt, sofern der Sachverhalt, zu dem er aussagen soll, auch seinen Angehörigen betrifft (BGHSt 7, 194; 32, 25 [29]; BGHSt 34, 138f; BGH NStZ 1985, 419; 1984, 176; 1982, 389; BGH StV 1981, 117; BGH NJW 1980, 67). Nicht erforderlich ist, daß das einheitliche Verfahren gegen die mehreren Beschuldigten im Zeitpunkt der Zeugenvernehmung vorliegt. Es genügt vielmehr, daß zwischen den Angehörigen des Zeugen und dem anderen, zu dessen Gunsten das Zeugnisverweigerungsrecht wirken soll, in irgendeinem Stadium des Verfahrens prozessuale Gemeinsamkeit in dem Sinne bestanden hat, daß sie in bezug auf das gleiche historische Ereignis nach prozeßrechtlicher Betrachtungsweise förmlich Mitbeschuldigte gewesen sind (BGHSt 34, 138; BGH NStZ 1985, 419; BGH StV 1982, 557; BGH MDR 1979, 952; BGH NJW 1974, 758; BGH NStZ 1984, 176; vgl. auch BGHSt 32, 25 [29] sowie Pelchen in KK § 52 Rn. 6).
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Entscheidend für das Zeugnisverweigerungsrecht des Angehörigen nach § 52 StPO ist nicht die Teilnahme des Beschuldigten an derselben Tat im materiellrechtlichen Sinne oder gar die bloße tatsächliche Verstrickung in einen sachlich zusammengehörigen Geschehensablauf, sondern der prozessuale Gesichtspunkt des einheitlichen Verfahrens gegen die mehreren Beschuldigten (vgl. Pelchen a.a.O.), also die prozessuale Gemeinsamkeit der mehreren Verfahren. Der Bundesgerichtshof hat bisher noch nicht entschieden, welcher Akt die prozessuale Gemeinsamkeit zweier Verfahren begründet, die Voraussetzung dafür ist, daß mehrere Beschuldigte förmlich als Mitbeschuldigte zu bezeichnen sind; es blieb offen, ob nur eine ausdrückliche Verbindungsanordnung der Staatsanwaltschaft oder auch der Polizei genüge oder ob die von der Rechtsprechung verlangte förmliche Verbindung der Verfahren gegen mehrere Beschuldigte bereits dadurch hergestellt werde, daß die Ermittlungen bei der Polizei faktisch in einem Vorgang zusammen geführt werden (BGH NStZ 1985, 419, 420). Der Senat ist der Auffassung, daß die prozessuale Gemeinsamkeit mehrerer Ermittlungsverfahren mit der Folge, daß mehrere Beschuldigte förmlich zu Mitbeschuldigten werden und deshalb den Angehörigen eines der Mitbeschuldigten ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO erwächst, nur durch eine förmliche Entscheidung der Staatsanwaltschaft begründet werden kann. Nach der Konzeption der Strafprozeßordnung hat die Staatsanwaltschaft als Justizbehörde den rechtlich einwandfreien Ablauf der Ermittlungen zu garantieren und die ständige rechtliche Kontrolle über die polizeiliche Ermittlungstätigkeit auszuüben (vgl. Gerhard Schmidt in LdR 8/480); ihr obliegt im Ermittlungsverfahren die Leitungs- und Kontrollfunktion (Kaiser in LdR 8/1410), die umfassende Sachleitungskompetenz (Krüger in LdR 8/1140; vgl. auch BVerfG NJW 1976, 231; Kleinknecht/Meyer, StPO 37. Aufl. § 163 Rn. 3 m.w.N.). Hierzu gehört auch die Entscheidung über Verbindung oder Trennung zusammenhängender Strafsachen (Kleinknecht/Meyer a.a.O. Rn. 5); bei ihr handelt es sich um eine prozessuale Entscheidung, die Auswirkungen für das gerichtliche Verfahren hat. Eine förmliche Entscheidung der Staatsanwaltschaft bewirkt die erforderliche Rechtsklarheit. Der erkennende Richter muß in der Hauptverhandlung in der Lage sein, ohne zeitraubendes Studium umfangreicher Ermittlungsakten sofort zu entscheiden, ob zu irgend einem Zeitpunkt eine prozessuale Gemeinsamkeit zwischen mehreren Ermittlungsverfahren bestanden hat und deswegen einem zu vernehmenden Zeugen ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO zusteht oder nicht. Das wäre nicht gewährleistet, wenn es schon genügen könnte, daß die Ermittlungen bei der Staatsanwaltschaft oder der Polizei faktisch in einem Vorgang zusammen geführt werden.
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Im vorliegenden Falle bestand zu keinem Zeitpunkt eine prozessuale Gemeinsamkeit im dargelegten Sinne. Die Staatsanwaltschaft hat vielmehr die Ermittlungsverfahren gegen die Diebe, den Ehemann der Angeklagten und gegen diese selbst unter getrennten Aktenzeichen geführt und später lediglich die Verfahren gegen den Ehemann der Angeklagten und gegen diese miteinander verbunden. Eine förmliche Verbindung dieses Verfahrens mit den gegen die Diebe geführten Ermittlungsverfahren ist nicht angeordnet worden.
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Da die Zeugen nach der Belehrung das Zeugnis verweigerten, kann das angefochtene Urteil auf der rechtsfehlerhaften Belehrung beruhen. Der Senat vermag nicht auszuschließen, daß die Zeugen, wären sie ordnungsgemäß zur Sache vernommen worden, Umstände hätten bekunden können, die zur Entlastung der Angeklagten geeignet gewesen wären. Der Hinweis des Generalbundesanwalts auf die polizeilichen Vernehmungsprotokolle geht fehl. Es handelt sich um Protokolle über die Vernehmung der Zeugen als Beschuldigte innerhalb der gegen sie durchgeführten Ermittlungsverfahren. Als Zeugen im Verfahren gegen die Angeklagte sind sie zu keinem Zeitpunkt vernommen worden. Die Strafverfahren gegen die Zeugen sind inzwischen abgeschlossen. Die Revision hat zutreffend dargelegt, daß jedenfalls im Hinblick auf die Zahl der der Angeklagten zur Last gelegten Einzelfälle und auf die konkrete Ausgestaltung ihrer Tatbeteiligung entlastende Angaben nicht ausgeschlossen werden können.
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