BGHSt 44, 196 - Konkurrenzen Tötungs-/Körperverletzungsdelikte
1. Eine mit einem versuchten Tötungsdelikt zusammentreffende vorsätzliche Körperverletzung tritt nicht zurück, sondern steht dazu in Tateinheit (Aufgabe von BGHSt 16, 122; BGHSt 21, 265; BGHSt 22, 248).
2. Erweist sich eine materiell-rechtlich selbständig angeklagte Tat als Bestandteil der Tat, derentwegen die Verurteilung erfolgt, ist ein Teilfreispruch nicht erforderlich.
StGB §§ 211, 212, 23, 223, 223 a; StPO § 260
4. Strafsenat
 
Urteil
vom 24. September 1998 g.S. u. B.
- 4 StR 272/98 -
Landgericht Schwerin
 
Aus den Gründen:
Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen "schweren Raubes in Tateinheit mit versuchtem Totschlag in weiterer Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung" und den Angeklagten B. wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Gegen dieses Urteil wenden sich der Angeklagte S. und die Staatsanwaltschaft, diese zuungunsten des Angeklagten B., mit ihren Revisionen.
I.
Nach den Feststellungen der Jugendkammer faßten die zur Tatzeit alkoholisierten Angeklagten den spontanen Entschluß, die ihnen unbekannte 18jährige M., die gerade aus der Straßenbahn ausgestiegen war und einen Rucksack über der Schulter trug, zu überfallen. Während B. das Tatopfer von hinten ergriff und an den Oberarmen umfaßte, riß S. den Rucksack an sich. Sodann forderte einer der Angeklagten das Tatopfer zur Herausgabe von Bargeld auf. Im weiteren Verlauf stach S. mit einem sogenannten Bundeswehrkappmesser, das er - wie B. wußte - am Tatabend bei sich führte, in dessen Gegenwart mit bedingtem Tötungsvorsatz mehrfach auf die Geschädigte in Richtung ihres Oberkörpers ein. Dabei durchtrennte ein Stich den Brustkorb, wodurch es zum Kollaps des linken Lungenflügels kam. Davon, daß auch B. mit dem Tod des Tatopfers gerechnet hatte, vermochte sich das Landgericht nicht zu überzeugen. Die Geschädigte ging aufgrund des Angriffs zu Boden, wo sie "insbesondere in den Kopfbereich getreten" wurde. Dabei äußerte einer der Angeklagten: "Verrecke endlich, Du Aas". Wer von den Angeklagten auf die Geschädigte eintrat und wer die Äußerung tat, konnte das Landgericht nicht feststellen. Die Angeklagten ließen die Geschädigte schließlich im Gebüsch liegen und entfernten sich. Aus dem Rucksack, in dem sich kein Geld befand, nahm B. die Brieftasche der Geschädigten mit deren Papieren und ein Deodorantspray an sich. Den Rucksack selbst warf S. später weg. Die inneren Verletzungen führten bei der Geschädigten zu akuter Lebensgefahr. Sie konnte jedoch durch eine Notoperation gerettet werden.
II.
Revision des Angeklagten S.
...
Es entsprach allerdings bisher der Rechtsprechung aller Senate des Bundesgerichtshofs, daß nicht nur ein vollendetes, sondern auch ein "nur" versuchtes Tötungsdelikt eine damit zusammentreffende vorsätzliche (vollendete) Körperverletzung im Sinne der §§ 223, 223 a und 224 StGB a.F. "verdrängt" (BGHSt 16, 122; BGHSt 21, 265; BGHSt 22, 248). Diese Rechtsprechung wird nunmehr aufgegeben:
a) Gesetzeseinheit liegt, wie der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs in der Entscheidung BGHSt 39, 100, 108 herausgestellt hat, nur vor, wenn der Unrechtsgehalt einer Handlung durch einen von mehreren, dem Wortlaut nach anwendbaren Straftatbeständen erschöpfend erfaßt wird. Dem wird eine Verurteilung allein wegen des versuchten Tötungsdelikts aber nicht gerecht, wenn das Opfer bei der Tat verletzt wird. Der hier zu beurteilende Sachverhalt zeigt vielmehr mit besonderer Deutlichkeit, daß sich der Unrechtsgehalt eines folgenlosen (versuchten) Tötungsdelikts maßgeblich von dem einer versuchten Tötung unterscheidet, die - mitunter schwerste - gesundheitliche Schäden nach sich zieht.
b) Deshalb wird eine vollendete Körperverletzung durch eine (nur) versuchte Tötung nicht verdrängt; vielmehr gebietet es die Klarstellungsfunktion der Tateinheit (Stree in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 52 Rdn. 2), die vollendete Körperverletzung als tateinheitlich verwirklicht auch im Schuldspruch zum Ausdruck zu bringen (Eser in Schönke/Schröder, a.a.O. § 212 Rdn. 23; Tröndle, StGB 48. Aufl. § 211 Rdn. 16; zweifelnd auch Lackner/Kühl, StGB 22. Aufl. § 212 Rdn. 9; a.A. Horn in SK-StGB 5. Aufl. § 212 Rdn. 32; zum Ganzen ausführlich Maatz NStZ 1995, 209 mit zahlr. weit. Nachw. aus dem Schrifttum). Anders verhielte es sich nur, wenn sich der Tötungsvorsatz einerseits und der Körperverletzungsvorsatz andererseits schon begrifflich gegenseitig ausschlössen, wie es noch das Reichsgericht angenommen hat (RGSt 61, 375). Diese Auffassung ist aber spätestens seit der Entscheidung BGHSt 16, 122, 123 überholt.
c) Daher könnte der bisherigen Rechtsprechung zum Konkurrenzverhältnis nur dann weiter gefolgt werden, wenn es zuträfe, daß "kein sachliches Bedürfnis (besteht), denjenigen, der des versuchten Totschlags schuldig ist, außerdem noch wegen der in seiner Tat notwendig liegenden Körperverletzung zu verurteilen, (weil) der rechtliche und sittliche Unwert seiner Tat durch die Verurteilung wegen des Tötungsdelikts voll erfaßt (wird)" (BGHSt 22, 248/249). So verhält es sich aber gerade nicht. Daß die Körperverletzung ein notwendiges Durchgangsstadium zur Tötung bildet und deshalb auch vom Tötungswillen notwendig mit umfaßt wird (BGHSt 16, 122, 123), ändert nichts daran, daß eben nicht mit jeder versuchten Tötung das Opfer "notwendig" auch verletzt wird (vgl. die Fallbeispiele bei Maatz a.a.O. S. 211). Dann ist es aber - und zwar auch im Hinblick auf die berechtigten Opferbelange und die damit zusammenhängende Genugtuungsfunktion des Schuldspruchs - unangemessen, in den Fällen, in denen es beim Versuch der Tötung zu einer vollendeten Körperverletzung gekommen ist, diesen Umstand im Schuldspruch nicht zum Ausdruck zu bringen (vgl. Schröder JZ 1967, 709 = Anm. zu BGHSt 21, 265).
d) Im übrigen war schon die bisherige Rechtsprechung widersprüchlich: Während der Bundesgerichtshof bisher die Auffassung vertreten hat, die versuchte Tötung verdränge die vorsätzliche Körperverletzung im Sinne der §§ 223, 223 a und 224 StGB a.F. (= §§ 223, 224 und 226 Abs. 1 StGB i.d.F. des 6. StrRG), hat er Tateinheit angenommen beim Zusammentreffen mit beabsichtigter schwerer Körperverletzung (§ 225 StGB a.F. = § 226 Abs. 2 StGB n.F.; in BGHSt 22, 248 noch offengelassen, so jetzt aber BGHR StGB § 225 Konkurrenzen 2), mit Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB a.F. = § 227 StGB n.F.; dazu BGHSt 35, 305, 307/308) und mit Mißhandlung von Schutzbefohlenen in der Alternative des Quälens (§ 223 b Abs. 1 StGB a.F. = § 225 Abs. 1 StGB n.F.; dazu BGHR StGB § 223 b Konkurrenzen 2 sogar für den Fall des vollendeten Totschlags; zur Annahme von Tateinheit von Mißhandlung eines Schutzbefohlenen und Körperverletzung mit Todesfolge BGHSt 41, 113, 115 f.), und zwar ausdrücklich mit Rücksicht auf die Klarstellungsfunktion des Schuldspruchs. Es gibt keinen einleuchtenden Grund, weshalb dies nicht im Verhältnis zu allen vorsätzlichen Körperverletzungsdelikten gelten soll.
Die Annahme von Tateinheit im Verhältnis von versuchter Tötung und schwerer Körperverletzung (§ 224 StGB a.F. = § 226 Abs. 1 StGB n.F.) läuft auch nicht - wie in der Entscheidung BGHSt 22, 248, 249 mit Blick auf die Regelung des § 56 StGB a.F. (§ 18 StGB n.F.) ausgeführt ist - auf den Vorwurf hinaus, "der Täter habe es bei der von ihm beabsichtigten Tötung an der erforderlichen und zumutbaren Sorgfalt fehlen lassen". Der in der Verurteilung (auch) wegen schwerer Körperverletzung enthaltene Vorwurf, "wenigstens" fahrlässig gehandelt zu haben (§ 18 StGB), betrifft nicht die Tötungshandlung, sondern ausschließlich die Herbeiführung der besonderen Folgen der Körperverletzung. Darin liegt kein Widerspruch; auch bei tateinheitlich zusammentreffenden Delikten ist die Schuld des Täters für jeden der verwirklichten Straftatbestände gesondert festzustellen. Dabei ist es ohne weiteres miteinander vereinbar, daß der Täter zwar den Tod des Opfers herbeiführen will, daß er aber die Möglichkeit qualifizierender körperlicher Folgen bei dem die Tat überlebenden Opfer nicht in seine Vorstellung aufnimmt und deshalb insoweit nicht mit Vorsatz, sondern nur fahrlässig handelt.
e) Die Annahme von Tateinheit zwischen versuchtem Tötungs- und vollendetem Körperverletzungsdelikt läßt den Schuldgehalt unberührt, weil sich dieser unabhängig von der Entscheidung des Konkurrenzverhältnisses bemißt (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 1 Konkurrenzen 1 m.w.N.). Daß sie nicht zu einer "Doppelverwertung" zu Lasten des Angeklagten führt, bedarf keiner besonderen Begründung; es versteht sich von selbst, daß dem Täter das in den Bereich tatbestandlicher Überschneidung fallende Unrecht nur einmal angelastet werden kann (BGHSt - GSSt - 39, 100, 109). Deshalb spricht nichts dagegen, die zusammen mit der versuchten Tötung verwirklichte Körperverletzung in den Schuldspruch aufzunehmen, zumal der Tatrichter die verschuldeten Auswirkungen der Tat ohnehin bei der Strafzumessung beachten muß (BGHSt 22, 248, 249) und mithin auch nicht durch das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB gehindert ist, die Schwere der Verletzungen und der sonstigen Tatfolgen strafschärfend zu berücksichtigen.
f) Die anderen Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben auf Anfrage des Senats gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 und 3 GVG erklärt, daß sie an entgegenstehender Rechtsprechung nicht mehr festhalten.
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6. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist ein Freispruch von dem als materiell selbständige Handlung angeklagten Vorwurf des versuchten Mordes nicht veranlaßt. Durch die zugelassene Anklage war beiden Angeklagten zur Last gelegt worden, neben der Raubtat durch eine weitere Straftat jeweils in Verdeckungsabsicht versucht zu haben, die Geschädigte (durch Unterlassen) zu töten, indem sie, "obwohl (sie) erkannten, daß die Geschädigte durch ihr Tun schwer verletzt war und die Möglichkeit in Betracht zogen, daß sie ohne Hilfe ihren Verletzungen erliegen könnte, aus Angst, entdeckt zu werden, die Herbeiholung ärztlicher Hilfe (unterließen)" Das Landgericht hat gemeint, insoweit von einem Teilfreispruch absehen zu können, weil es "für den Angeklagten S. ein versuchtes Tötungsdelikt durch aktives Tun für erwiesen gehalten (hat)" und es "hier zu Gunsten der Angeklagten für das gesamte Geschehen von Tateinheit ausgegangen (ist)". Das weist hinsichtlich des Angeklagten S. im Ergebnis keinen Rechtsfehler auf.
Allerdings muß, wenn nicht wegen aller Delikte verurteilt wird, die nach der Anklage in Tatmehrheit (§ 53 StGB) begangen worden sein sollen, insoweit grundsätzlich freigesprochen werden, um Anklage und Eröffnungsbeschluß zu erschöpfen; dies gilt auch dann, wenn das Gericht das Konkurrenzverhältnis anders beurteilt und der Meinung ist, daß bei zutreffender rechtlicher Würdigung Tateinheit (§ 52 StGB) vorliegt (st. Rspr.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. § 260 Rdn. 13 m.N.). Doch trifft dies nur zu, wenn das Gericht in einem solchen Fall die als tatmehrheitlich angeklagte "Tat" nicht für erwiesen hält (vgl. BGHR StPO § 260 Abs. 1 Teilfreispruch 2; BGH bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1984, 212; NStZ 1984, 566). So verhält es sich hier aber nicht. Das Landgericht hat die als versuchten Mord angeklagte Tat nicht etwa für nicht erwiesen erachtet, sondern sie zutreffend als tatbestandsmäßiges vorsätzliches (versuchtes) Tötungsdelikt gewertet, das nur deshalb nicht Gegenstand eines selbständigen Schuld- und Strafausspruchs sein kann, weil es Bestandteil des durch den Angriff mit dem Messer verübten versuchten Totschlags (durch aktives Tun) ist. Unter diesen Umständen ist für einen Teilfreispruch kein Raum.