BVerfGE 1, 418 - Ahndungsgesetz
1. Das Recht auf Freiheit der Person ist kraft Gesetzes -- Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG -- durch die auf einem Gesetz beruhende, in gesetzmäßigem Verfahren ergehende richterliche Entscheidung begrenzt.
2. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung der Gesetze und ihre Anwendung auf den einzelnen Fall sind grundsätzlich allein Sache der Strafgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen, es sei denn, daß Verfassungsrecht verletzt ist.
3. Das hessische Gesetz zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 29. Mai 1946 (GVBl. S. 146) verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, da es nur eine infolge der nationalsozialistischen Willkürherrschaft eingetretene Ungleichheit wieder beseitigt.
4. Die Vorschriften der Strafprozeßordnung (§§ 250, 251) über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme geben dem Angeklagten kein Grundrecht, so daß aus einer Verletzung dieser Vorschriften eine Verfassungsbeschwerde nicht hergeleitet werden kann.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 18. September 1952 gemäß dem § 24 BVerfGG
-- 1 BvR 612/52 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Paul L.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.
 
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil der III. Strafkammer des Landgerichts Kassel vom 13. Juni 1952 -- III 14/52 und 3 a KLs 4/51 --. Der Beschwerdeführer trägt vor:
Er sei durch dieses Urteil wegen Landfriedensbruchs zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. Die Tat, derentwegen die Verurteilung erfolgte, sei im März 1933 im Zusammenhang mit einem Zusammenstoß von SA und Kommunisten begangen worden. Das Verfahren gegen ihn sei seinerzeit mit der Begründung eingestellt worden, daß er in "Notwehr und Nothilfe" gehandelt habe; die Strafverfolgung sei also gemäß § 67 Abs. 1 StGB im Jahr 1943 verjährt gewesen. Nunmehr sei die Verhandlung auf Grund des hessischen Gesetzes zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 29. Mai 1946 (GVBl. S. 146) - nachstehend "Ahndungsgesetz" genannt - durchgeführt worden, das nachträglich eine Hemmung von Verjährungsfristen eingeführt habe. Gegen das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil des Landgerichts habe er zwar Revision an den Bundesgerichtshof eingelegt. Er bitte aber, über die Verfassungsbeschwerde vor Erschöpfung des Rechtsweges zu entscheiden, da seine Beschwerde von allgemeiner Bedeutung sei und ihm ein schwerer unabwendbarer Nachteil entstehen würde, falls er auf den Rechtsweg verwiesen werden sollte.
Er greift das Urteil aus drei Gesichtspunkten an:
1. Er hält das Ahndungsgesetz für nichtig, daher durch dessen Anwendung Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 1 GG für verletzt.
2. Er meint, das Ahndungsgesetz sei zu Unrecht auf ihn angewendet worden -- falsche Subsumtion und Nichtberücksichtigung des Straffreiheitsgesetzes vom 31 . Dezember 1949 (BGBl. S. 37) --; dadurch seien Art. 3 und 33 GG verletzt.
3. Er glaubt, daß durch Verfahrensmängel, insbesondere durch Nichtbeachtung des Grundsatzes der unmittelbaren Beweisaufnahme, Art. 103 Abs. 1 GG verletzt sei.
Er beantragt deshalb
    die Aufhebung des Urteils der III. Strafkammer, Landgericht Kassel, vom 13. Juni 1952 in der Strafsache gegen L. und 16 andere wegen Landfriedensbruchs - III 14/52 und 3 KLs 4/51 - und Zurückverweisung an das örtlich und sachlich zuständige Gericht.
Für die Durchführung der Verfassungsbeschwerde erbittet er die Beiordnung eines Anwalts zur unentgeltlichen Wahrnehmung seiner Rechte.
II.
A. Gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtsweges zulässig. Hier ist nach dem eigenen Vorbringen des Beschwerdeführers der Rechtsweg noch nicht erschöpft, da über seine Revision bisher nicht entschieden ist. Das Bundesverfassungsgericht macht jedoch von der Möglichkeit Gebrauch, ausnahmsweise vor Erschöpfung des Rechtsweges zu entscheiden, weil die Frage, ob das Ahndungsgesetz nichtig ist und ob seine Anwendung deshalb das Grundgesetz verletzt, von allgemeiner Bedeutung ist, so daß eine baldige verfassungsgerichtliche Entscheidung geboten erscheint.
Es bedarf hiernach keines Eingehens darauf, ob eine Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtsweges auch deshalb geboten wäre, weil dem Beschwerdeführer andernfalls ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstehen würde.
a) Das Recht auf Freiheit der Person ist kraft Gesetzes - Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG - durch die auf einem Gesetz beruhende, in gesetzmäßigem Verfahren ergehende richterliche Entscheidung begrenzt; es ist von vornherein nur mit dieser Begrenzung gewährt. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung der Gesetze und ihre Anwendung auf den einzelnen Fall sind daher nach wie vor grundsätzlich allein Sache der Strafgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen, es sei denn, daß spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist.
Beruht aber die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf einem verfassungswidrigen Gesetz, so ist das Urteil selbst jedenfalls mit der Verfassungsbeschwerde anfechtbar.
Daß das angegriffene Urteil auf dem Ahndungsgesetz beruht, liegt auf der Hand, denn ohne dieses Gesetz wäre die Strafverfolgung mit Rücksicht auf den Ablauf der zehnjährigen Verjährungsfrist nach 1943 nicht mehr zulässig gewesen (§§ 125 Abs. 2, 67 Abs. 1 StGB).
Die Behauptung des Beschwerdeführers, das Ahndungsgesetz sei nichtig, ist hiernach erheblich.
b) Die Artikel dieses Gesetzes, die für das vorliegende Verfahren von Bedeutung sind, haben folgenden Inhalt:
Nach Art. 1 sind Verbrechen und Vergehen, insbesondere Verbrechen und Vergehen, die mit Gewalttaten und Verfolgungen aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen verbunden sind und die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen nicht bestraft wurden, zu verfolgen, wenn Grundsätze der Gerechtigkeit, insbesondere die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die nachträgliche Sühne verlangen.
Nach Art. 2 Abs. 1 wird die Verfolgung nicht dadurch gehindert, daß die Tat zu irgendeiner Zeit durch ein Gesetz, eine Verordnung, einen Erlaß oder einen Befehl der nationalsozialistischen Regierung oder eines ihrer Machthaber für straffrei oder nach ihrer Begehung für rechtens erklärt worden ist oder auf Grund behördlicher Anordnung die Einleitung eines Strafverfahrens unterblieb oder ein eingeleitetes Verfahren niedergeschlagen oder aus anderen Gründen nicht durchgeführt wurde.
Nach Art. 2 Abs. 3 stehen bei einer Strafverfolgung einer Strafverhandlung oder einer Strafvollstreckung wegen einer der vorbezeichneten Straftaten dem Angeklagten die Rechtsvorteile der Verjährung bezüglich der Zeitspanne vom 30. Januar 1933 bis zum 1. Juli 1945 nicht zu. Für diese Zeit ist die Verjährung als gehemmt anzusehen.
Nach Art. 3 ist bis zum Ablauf von 12 Monaten seit dem Inkrafttreten des Gesetzes (Zeitpunkt des Inkrafttretens: 15. Juni 1946) unter den Voraussetzungen des Art. 1 auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein Verfahren zu ungunsten des Täters wiederaufzunehmen, wenn aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen zu Unrecht die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt, die Hauptverhandlung nicht angeordnet oder der Täter außer Verfolgung gesetzt wurde.
c) Der Beschwerdeführer stützt seine Ansicht, das Ahndungsgesetz sei nichtig, auf folgende Erwägungen:
aa) Es verstoße gegen die Menschenwürde, Straftaten nach so langer Zeit zu verfolgen; die Menschenwürde erfordere sofortige Ahndung einer Straftat (Art. 1 GG).
bb) Es verstoße gegen übergeordnete Rechtsnormen, nämlich gegen Art. 116 WeimVerf. und Art. 103 Abs. 2 GG, da der Begriff der "Strafbarkeit" auch die Nicht-Verjährung mitumschließe, und gegen § 67 StGB, wonach die Strafverfolgungsverjährung in seinem Fall - Landfriedensbruch 10 Jahre betragen habe. Sollte man aber annehmen, daß das Ahndungsgesetz durch die Sonderbestimmung des Art. 139 GG bzw. 158 hessische Verfassung gedeckt sei, so verstoße die Anwendung des Ahndungsgesetzes jetzt jedenfalls gegen die Gesetze über den Abschluß der politischen Befreiung vom 30. November 1949 (GVBl. Hess. S. 165) und vom 18. Oktober 1951 (GVBl. Hess. S. 69).
cc) Zugleich verstoße das landesrechtliche Abweichen des Ahndungsgesetzes von reichs- bzw. bundesrechtlichen Bestimmungen gegen Art. 3 und 33 GG; es sei verfassungsrechtlich unmöglich, in Hannover nach anderen Verjährungsbestimmungen zu verfahren als in Kassel; es sei dies eine Nichtachtung der Rechtseinheit.
dd) Das Ahndungsgesetz würdige die Betroffenen zu Bürgern niederen Ranges herab. Es beseitige die Verjährungsfolgen für die aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen begangenen Verbrechen und Vergehen, lasse sie aber für alle mit gleich harter Strafe bedrohten gemeinen Verbrechen und Vergehen bestehen. Auch das verstoße gegen Art. 3 und 33 GG.
d) Alle diese Angriffe gegen das Ahndungsgesetz gehen fehl.
Zu aa): Nicht ersichtlich ist, inwiefern eine Strafverfolgung nach langer Zeit die Menschenwürde verletzen sollte. Die Strafverfolgungs-Verjährungsfristen liegen nach § 67 StGB je nach der Schwere der Straftat zwischen 3 Monaten und 15 Jahren. Schon nach dieser Bestimmung kann also von der Notwendigkeit einer alsbaldigen Ahndung jeder Straftat nicht die Rede sein. Außerdem unterbricht nach § 68 StGB jede richterliche Handlung den Lauf der Verjährung mit der Wirkung, daß die Verjährungsfrist neu zu laufen beginnt, und § 69 StGB ordnet das Ruhen der Verjährung für die Zeit an, in welcher auf Grund gesetzlicher Vorschrift die Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann oder in der die Fortsetzung des Strafverfahrens daran scheitert, daß es von einer Vorfrage abhängig ist, deren Entscheidung in einem anderen Verfahren erfolgen muß. Durch die Bestimmungen der §§ 68 und 69 StGB konnte also die Verjährungsfrist von jeher weit über die in § 67 StGB festgesetzte normale Dauer hinaus verlängert werden. Das Ahndungsgesetz enthält nur einen weiteren Anwendungsfall des in § 69 StGB ausgedrückten Rechtsgedankens: daß die Verjährung nicht laufen kann, solange der Wille der Verfolgungsbehörde rechtlich gehemmt ist; und er verstößt ebensowenig wie diese Gesetzesbestimmung gegen die Menschenwürde.
Zu bb): Ebenso nimmt der Beschwerdeführer zu Unrecht an, das Ahndungsgesetz verstoße gegen Art. 103 Abs. 2 GG, der verbietet, daß Strafgesetze sich rückwirkende Kraft beilegen. Landfriedensbruch, um dessentwillen der Beschwerdeführer verurteilt worden ist, war vor der Begehung der Tat ebenso strafbar wie heute. Nur darauf aber kommt es in diesem Zusammenhang an. Art. 103 Abs. 2 GG steht daher einem Gesetz, das die Bestimmungen über die Hemmung der Strafverfolgungsverjährung mit Wirkung auch für bereits begangene Taten ergänzt, nicht entgegen.
    Ebenso OGH BZ, Urt. v. 11. Juli 1950, OGHSt 3, 95, und Urt. des BGH v. 20. Dezember 1951, abgedruckt NJW 1952, 271, beide zu der dem Ahndungsgesetz inhaltsgleichen Verordnung des Zentraljustizamts für die Britische Zone zur Beseitigung nationalsozialistischer Eingriffe in die Strafrechtspflege v. 23. Mai 1947, VOBl. BZ S. 65.
Dasselbe gilt für die dem Art. 103 Abs. 2 GG entsprechende Bestimmung des Art. 116 der Weimarer Verfassung. Verstößt das Ahndungsgesetz aber gar nicht gegen Art. 103 GG, so bedarf es auch keiner Rechtfertigung aus der Spezialbestimmung des Art. 139 GG (Art. 158 HessVerf.), so daß es auf die Ausführungen des Beschwerdeführers zu dieser Bestimmung nicht ankommt. Seine Ausführungen liegen im übrigen neben der Sache, da das Ahndungsgesetz nicht zu den Vorschriften zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus im Sinne von Art. 139 GG gehört.
Zu Unrecht auch glaubt der Beschwerdeführer, der Ministerpräsident von Hessen habe nicht die Gesetzgebungsbefugnis gehabt, ein Reichsgesetz wie das Strafgesetzbuch (§§ 67, 69) abzuändern. Die gesamte Staatsgewalt über Deutschland ist nach der bedingungslosen Kapitulation des "Dritten Reiches" von den Regierungen der vier Besatzungsmächte übernommen worden und wurde auf Grund von Vereinbarungen zwischen diesen Mächten in den vier Besatzungszonen von der Militärregierung der zuständigen Besatzungsmacht, in Hessen also von der amerikanischen Militärregierung, ausgeübt. Durch die Proklamation Nr. 2 der Militärregierung für die amerikanische Zone vom 19. September 1945 - abgedruckt im ABl AmMilReg v. 1. Juni 1946, S. 2 - wurde das Land Groß-Hessen gebildet und dem neugebildeten Lande volle gesetzgebende Gewalt verliehen unter Vorbehalt der übergeordneten Machtbefugnis der Militärregierung und unbeschadet der Gesetzgebung des Kontrollrats oder einer neu zu errichtenden zentralen deutschen Behörde. Art. III der Proklamation bestimmt, daß bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Schaffung demokratischer Einrichtungen möglich sein würde, es für die Gültigkeit staatlicher Gesetzgebung genüge, daß sie von dem Ministerpräsidenten "genehmigt und verkündet" werde. Gemäß der Proklamation wurde die erste hessische Regierung am 18. Oktober 1945 von dem Direktor des Amtes der Militärregierung ernannt und vereidigt (vgl. DRZ 1946, 185), und gemäß Art. 3 Abs. 2 des Staatsgrundgesetzes vom 22. November 1945 (GVBl. S. 23) hat dann der Ministerpräsident bis zum Inkrafttreten der Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 (GVBl. S. 229) die Gesetzgebungsgewalt innegehabt. Er konnte also das Ahndungsgesetz erlassen, da Bestimmungen des Besatzungsrechts nicht entgegenstanden und es damals einen dem Landesgesetzgeber übergeordneten deutschen Reichs- oder Bundesgesetzgeber nicht gab.
Zu cc): Dieser Einwand einer Verletzung der Rechtsgleichheit in den deutschen Ländern geht schon deshalb fehl, weil der Beschwerdeführer zu Unrecht annimmt, die Strafverfolgungsverjährung sei nur in Hessen im Sinne des Ahndungsgesetzes gehemmt worden. Vielmehr hat für Verbrechen und Vergehen, die im "Dritten Reich" aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen nicht bestraft wurden, die Verjährung in der Zeit von Januar 1933 bis Juni 1945 in ganz Deutschland geruht. Dies ist zum Teil ausdrücklich ausgesprochen; so in der amerikanischen Zone für Bayern durch Gesetz vom 28. Mai 1946 - GVBl. S. 180 -, für Württemberg-Baden durch Gesetz vom 31. Mai 1946 - RegBl. S. 205 -, für Groß-Hessen durch das hier in Rede stehende Gesetz; in der gesamten britischen Zone durch die Verordnung des Zentraljustizamtes vom 23. Mai 1947 - VOBl. BZ S. 65 und in der französischen Zone für Baden durch die Landesverordnung vom 23. Dezember 1946 - ABl. Nr. 28 S. 151 -, für Württemberg-Hohenzollern durch die Rechtsanordnung vom 16. Mai 1947 - RegBl. S. 67 -, für Rheinland-Pfalz durch Landesgesetz vom 23. März 1948 - GVBl. S. 244 -; ohne entsprechende ausdrückliche Regelung wird das gleiche für die russische Zone angenommen (OLG Dresden, DRZ 1947, 165). Entgegen der Annahme des Beschwerdeführers ist also gerade hier die Rechtseinheit in Deutschland gewahrt worden. Es erübrigt sich deshalb, darauf einzugehen, ob Art. 3 und 33 G auf dem Gebiet des Strafrechts der verschiedenen Regelung einer Materie entgegenstehen, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat (Art. 74, 72 GG).
Zu dd): Endlich verstößt das Ahndungsgesetz auch sonst nicht gegen Art. 3 Abs. 1 oder Art. 33 GG, da es "nicht zu einer ungleichen Behandlung der Staatsbürger führt, sondern ... nur eine infolge der nationalsozialistischen Willkürherrschaft eingetretene Ungleichheit wieder beseitigen will" (so zutreffend BGH, Urteil vom 20. Dezember 1951, abgedruckt NJW 1952, 271, für die dem Ahndungsgesetz inhaltsgleiche Verordnung des Zentraljustizamtes für die Britische Zone vom 23. Mai 1947).
Es ist nicht richtig, daß das Ahndungsgesetz die Verjährungsfolgen für die aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen begangenen Straftaten beseitigt, sie aber für alle gemeinen Verbrechen oder Vergehen bestehen läßt. Das Ahndungsgesetz bezieht sich vielmehr grundsätzlich auf alle Verbrechen und Vergehen, und die aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen begangenen Straftaten werden nur beispielsweise mit dem einleitenden Wort "insbesondere" als praktisch häufigster Anwendungsfall aufgeführt. In der Person des Täters wird also entscheidendes Gewicht nicht auf den Beweggrund, sondern allein auf die Schwere der Tat gelegt. Damit entfällt der auf die Differenzierung nach den Motiven des Täters gestützte Vorwurf der Ungleichheit.
Neben der Schwere der Tat - Verbrechen und Vergehen - aber ist Voraussetzung der Verjährungshemmung, daß die Tat in der Zeit -von 1933 bis 1945 aus politischen Gründen nicht bestraft worden ist. Nicht dem Motiv des Täters also, sondern dem mangelnden Willen des Staates, Unrecht zu ahnden, wird entscheidende Bedeutung beigemessen.
Das Gesetz geht von der Tatsache aus, daß während der nationalsozialistischen Herrschaft unter völliger Mißachtung rechtsstaatlicher Grundsätze Straftaten nicht verfolgt wurden, weil sie von den damaligen Machthabern teils veranlaßt oder gefördert, teils gern geduldet wurden.
Die straflose Ermordung von Millionen jüdischer Mitmenschen ist dafür das äußerste Beispiel, doch zeigten sich in geringeren Ausmaßen ähnliche Erscheinungen, wenn die Betroffenen, wie hier, zu den politischen Gegnern der Nationalsozialisten gehörten. Der innere Grund lag in beiden Fällen darin, daß die nationalsozialistischen Machthaber den durch die Straftat Verletzten als minderwertig ansahen, ja ihm menschlichen Wert und menschliche Würde gänzlich absprachen, d. h., daß sie die Idee von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz bewußt verleugneten. Es gehört zu den Folgen dieser Mentalität, daß Straftaten, die den damaligen Machthabern genehm waren, nicht verfolgt wurden und dadurch verjährten. Das Ahndungsgesetz verletzt also nicht die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern unternimmt es gerade um der Menschenwürde willen, die verletzte Gleichheit in diesem Bereich wiederherzustellen.
Der Beschwerdeführer meint offenbar, man hätte um der Gleichheit willen alle Fristen des § 67 StGB für die Zeit von 1933 bis 1945 hemmen müssen, auch soweit ihr Ablauf z. B. darauf beruhte, daß der Täter nicht ermittelt werden konnte. Dieses auch sonst gelegentlich vorgebrachte Argument ist völlig verfehlt. Hier wird irrigerweise aus dem Grundsatz der Gleichberechtigung ein allgemeines Verbot an den Gesetzgeber hergeleitet, gegenüber einer Grundregel unter gewissen Bedingungen eine Sonderregelung zu schaffen. Um der Gleichberechtigung willen ist nur zu fordern, daß die Sonderregel ebenso wie die Grundregel nicht für einen konkreten Fall für oder gegen eine bestimmte Person oder Personengruppe geschaffen wird, sondern daß sie auf sachlichen Erwägungen beruht und allgemein, abstrakt gefaßt ist, also auf eine unbestimmte Zahl von Fällen paßt.
So enthalten die §§ 68 und 69 StGB - über Unterbrechung und Hemmung der Verjährung - Sonder- oder Ausnahmeregeln gegenüber der allgemeinen Verjährungsregel des § 67 StGB, und das Ahndungsgesetz fügt - wie schon oben gesagt - lediglich dem § 69 StGB eine neue Regel für die Hemmung der Verjährungsfristen an. Daß diese Regel sachlich in höchstem Maße gerechtfertigt ist, wurde bereits dargetan; daß sie allgemein gefaßt ist und auf eine unbestimmte Zahl von Fällen angewendet werden kann, bedarf keiner Begründung.
Die verschiedenen Ahndungsgesetze und -verordnungen sind daher mit Recht von den Gerichten, insbesondere auch von allen Strafsenaten des Bundesgerichtshofs, in ständiger Rechtsprechung als gültiges Recht anerkannt worden.
    (Vgl. z. B. BGH. Urt. v. 12. Dezember 1951 - IV StR 9/50 -, abgedruckt NJW 1952, 271, und Urt. v. 8. Februar 1952 - II StR 43/50 -, abgedruckt Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk St Nr. 3 zur VO z. Beseitigung nationalsoz. Eingriffe i. d. Strafrechtspflege v. 23. Mai 1947.)
Ist aber das Ahndungsgesetz gültig, so ist der auf seine Nichtigkeit gestützte Angriff gegen das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Kassel offensichtlich unbegründet.
2. Unmittelbarer Verstoß des angegriffenen Urteils gegen Art. 3 und 33 GG:
Mit seinem Einwand, Art. 3 und 33 GG seien dadurch verletzt, daß das Ahndungsgesetz zu Unrecht auf ihn angewendet worden sei, kann der Beschwerdeführer nicht gehört werden. Er macht geltend,
    a) daß das Ahndungsgesetz nicht auf seinen Fall passe, weil die Strafverfolgung 1933 nicht aus politischen, sondern aus strafrechtlichen Gründen - Anerkennung von Notwehr und Nothilfe - unterblieben sei;
    b) daß der Verurteilung jedenfalls das Straffreiheitsgesetz vom 31. Dezember 1949 entgegengestanden habe.
Zu a): Es ist eine Auslegungsfrage, ob die Ahndungsvorschriften nur unmittelbare nationalsozialistische Eingriffe in die Einleitung oder Fortführung eines Strafverfahrens treffen oder ob eine Tat auch dann als "aus politischen Gründen nicht bestraft" anzusehen ist, wenn die Bestrafung infolge mittelbarer Einflüsse des Nationalsozialismus unterblieben ist. Für die Entscheidung dieser Frage sind allein die Strafgerichte zuständig; der Bundesgerichtshof hat sie in seinem Urteil vom 8. Februar 1952 - II StR 43/50-, aaO, im Sinne der Erheblichkeit auch mittelbarer Einflüsse beantwortet. Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte werden dabei nicht berührt.
Zu b): Ohne verfassungsrechtliche Bedeutung ist auch die Auslegung des Straffreiheitsgesetzes.
3. Verstoß des angegriffenen Urteils gegen Art. 103 Abs. 1 GG:
Endlich irrt der Beschwerdeführer auch in der Annahme, das Grundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör umfasse bestimmte Beweisregeln, insbesondere das Recht auf unmittelbare Beweisaufnahme, d. h. das Verbot, die Aussage einer Person über ihre Wahrnehmungen durch Verlesung eines Vernehmungsprotokolls oder einer schriftlichen Erklärung zu ersetzen. Art. 103 GG gibt dem Beteiligten grundsätzlich nur ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Das nicht in der Verfassung, sondern in der Strafprozeßordnung - §§ 250, 251 - geregelte Recht auf unmittelbare Beweisaufnahme ist kein Grundrecht, so daß selbst gegen seine Verletzung keine Verfassungsbeschwerde gegeben wäre, es sei denn, die Verletzung wäre derart schwerwiegend, daß dadurch der rechtsstaatliche Charakter des Verfahrens ernstlich beeinträchtigt würde. Im übrigen verkennt der Beschwerdeführer anscheinend, daß die Strafprozeßordnung die Verlesung von Protokollen zum Zweck des Beweises nicht schlechthin verbietet, sondern unter gewissen Voraussetzungen durchaus zuläßt. Durch die behauptete Verlesung von Protokollen aus dem Jahre 1933 an sich kann deshalb auf eine Verletzung des Rechts auf unmittelbare Beweisaufnahme nicht geschlossen werden.
Die Verfassungsbeschwerde ist daher in vollem Umfang offensichtlich unbegründet und deshalb zu verwerfen.
Der Armenrechtsantrag ist damit gegenstandslos.