BVerfGE 2, 213 - Straffreiheitsgesetz |
1. In einem Normenkontrollverfahren auf Antrag eines Gerichts sind "Beteiligte" im Sinne des § 25 Abs. 1 BVerfGG nur die Verfassungsorgane, die durch Ausübung des ihnen in § 82 Abs. 2 BVerfGG gewährten Beitrittsrechts eine besondere Rechtsstellung im Verfahren gewonnen haben. |
2. Die Äußerung eines Verfassungsorgans zu dem Antrag eines Gerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG stellt für sich allein keinen Beitritt im Sinne des § 82 Abs. 2 BVerfGG dar. |
3. Die Beteiligten des Verfahrens vor dem Gericht, das den Antrag nach Art. 100 Abs. 1 GG gestellt hat, werden dadurch, daß ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden muß, und daß sie zur mündlichen Verhandlung zu laden sind (§ 82 Abs. 3 BVerfGG), nicht zu "Beteiligten" an dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. |
4. Ist in einem Normenkontrollverfahren auf Antrag eines Gerichts kein Verfassungsorgan beigetreten, so steht es im Ermessen des Bundesverfassungsgerichts, ob es auf Grund mündlicher Verhandlung entscheiden will. |
5. Die Befugnis des Bundes zum Erlaß eines Straffreiheitsgesetzes ergibt sich aus seiner Zuständigkeit zur konkurrierenden Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafverfahrens und des Strafvollzugs (Art. 74 Ziff. 1 GG). |
6. Die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht (Art. 72 Abs. 2 GG), ist eine Frage pflichtmäßigen Ermessens des Bundesgesetzgebers und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen. |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 22. April 1953 |
- 1 BvL 18/52 - |
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit vom 31. Dezember 1949 (BGBl. S. 37) auf Antrag des Amtsgerichts Markt Oberdorf, Zweigstelle Obergünzburg. |
Entscheidungsformel: |
Das Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 31. Dezember 1949 (BGBl. S. 37) ist mit dem Grundgesetz vereinbar. |
Gründe: |
A. - I. |
Die Hausfrau Philomena Z. aus Obergünzburg ist vor dem Amtsgericht Markt Oberdorf, Zweigstelle Obergünzburg, angeklagt,
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1. in der Faschingszeit 1948 einen anderen angestiftet zu haben, die Leibesfrucht einer Schwangeren abzutöten (Verbrechen nach § 218 Abs. 3, § 48 StGB),
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2. Anfang September 1949 die Abtötung ihrer Leibesfrucht durch einen anderen zugelassen zu haben (Vergehen nach § 218 Abs. 1 StGB),
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II. |
Das Amtsgericht hat durch Beschluß vom 19. Dezember 1951 - 2 Ds 11/50 - das Verfahren ausgesetzt und beim Bundesverfassungsgericht beantragt, festzustellen:
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"Das Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 31. Dezember 1949 (BGBl. S. 37) ist verfassungswidrig."
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1. Das Amtsgericht hält für die beiden vor dem Stichtag des Straffreiheitsgesetzes liegenden Taten der Angeklagten eine Gesamtstrafe von 6 Monaten und für sämtliche der Angeklagten zur Last gelegten Taten eine Gesamtstrafe von 8 Monaten Gefängnis für angemessen. Es glaubt, soweit diese Taten vor dem 15. September 1949 liegen, entscheiden zu müssen, ob das Verfahren gemäß § 1, § 3 Abs. 1 StFG einzustellen oder ob eine zu verhängende Gefängnisstrafe gemäß § 2 Abs. 2 StFG bedingt zu erlassen ist. Es sieht sich jedoch gehindert, das Straffreiheitsgesetz anzuwenden, da es dieses Gesetz für verfassungswidrig hält. Das Gericht macht sich im wesentlichen die von Schmidt-Leichner (NJW 1950 S. 41 ff.) vertretene Auffassung zu eigen, wonach der Bund für den Erlaß eines Straffreiheitsgesetzes nicht zuständig ist: Die Amnestie sei wie die Begnadigung im Einzelfall ein Akt der Rechtspflege, deren Ausübung grundsätzlich den Ländern zustehe; nur in Sachen, in denen Bundesgerichte zur Entscheidung im ersten Rechtszuge berufen seien, stehe das Begnadigungsrecht dem Bund zu und damit auch die Befugnis, Amnestien zu erlassen; der Bund könne seine Befugnis zum Erlaß von Amnestien nicht aus Art. 74 Ziff. 1 GG herleiten, da die Gewährung von Straffreiheit nicht zur Gesetzgebung auf den Gebieten des Strafrechts, des Strafvollzugs, der Gerichtsverfassung und des gerichtlichen Verfahrens gehöre; schließlich habe auch für den Erlaß des Straffreiheitsgesetzes kein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bestanden.
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a) Der Bundestag und der Bundesrat haben von einer Stellungnahme abgesehen; der Bundesrat hat gleichzeitig erklärt, daß er dem Verfahren nicht beitreten werde. Die Länder haben sich zu dem Antrag des Amtsgerichts nicht geäußert.
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b) Der Bundesminister der Justiz hat sich namens der Bundesregierung für die Verfassungsmäßigkeit des Straffreiheitsgesetzes ausgesprochen. Er leitet die Zuständigkeit des Bundes zum Erlaß des Straffreiheitsgesetzes aus der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis des Bundes auf den Gebieten des Strafrechts und Strafvollzugs her, in deren Bereich nach seiner Meinung die Gewährung von Straffreiheit fällt: Das Straffreiheitsgesetz schaffe einen neuen Strafaufhebungsgrund, der dem Täter zugute kommen solle, gleichgültig, ob er der Bestrafung erst entgegensehe oder bereits verurteilt sei; daß damit in einzelnen Fällen die Vollstreckung einer rechtskräftig erkannten Strafe unzulässig werde, sei nur die notwendige Folge der mit dieser Bestimmung gewollten Änderung des materiellen Strafrechts; soweit durch das Straffreiheitsgesetz rechtskräftig erkannte Strafen erlassen würden, ergebe sich die Zuständigkeit des Bundes hierfür auch aus seinem Recht, durch Gesetz den Strafvollzug, der als Teil der Justizverwaltung an sich Ländersache sei, einzuschränken; bei Erlaß des Gesetzes habe ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG bestanden; zu einer Nachprüfung dieser Voraussetzung für die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis des Bundes sei das Bundesverfassungsgericht im übrigen nur in Fällen offensichtlicher Ermessensüberschreitung befugt, von der bei Erlaß des Straffreiheitsgesetzes nicht die Rede sein könne.
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c) Die Angeklagte hält das Straffreiheitsgesetz für verfassungsmäßig.
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B. - I. |
Die Entscheidung ergeht auf Grund des § 25 Abs. 1 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung.
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Nach dieser Vorschrift ist eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zulässig, wenn alle Beteiligten auf sie verzichtet haben. Wer als Beteiligter im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, richtet sich nach der jeweiligen Verfahrensart. Ein Normenkontrollverfahren ist seinem Wesen nach ein von subjektiven Berechtigungen unabhängiges, objektives Verfahren zum Schutze der Verfassung und dient lediglich der Prüfung von Rechtsnormen am Maßstabe des Grundgesetzes und sonstigen Bundesrechts (Urt. vom 30. Juli 1952 - 1 BvF 1/52 -, BVerfGE 1, 396 [407]). An einem solchen Verfahren ist begrifflich notwendig niemand "beteiligt", so daß als "Beteiligte" nur die Verfassungsorgane gelten können, die durch Ausübung des ihnen in § 82 Abs. 2 BVerfGG gewährten Beitrittsrechts eine besondere Rechtsstellung im Verfahren gewonnen haben.
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Dem vorliegenden Verfahren ist keines der in § 82 Abs. 1 in Verbindung mit § 77 BVerfGG genannten Verfassungsorgane beigetreten, auch nicht die Bundesregierung. Die Äußerung eines Verfassungsorgans zu dem Antrag des Gerichts stellt für sich allein keinen Beitritt im Sinne des § 82 Abs. 2 BVerfGG dar. Die Angeklagte ist ebenfalls nicht Beteiligte im Sinne des § 25 Abs. 1 BVerfGG. Zwar wird nach § 82 Abs. 3 BVerfGG den Beteiligten des Verfahrens vor dem antragstellenden Gericht Gelegenheit zur Äußerung gegeben, und sie werden zur mündlichen Verhandlung geladen. Hierdurch werden sie jedoch keine Beteiligten an dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Für sie ist ein Beitritt im Gesetz nicht vorgesehen. § 82 Abs. 3 BVerfGG bestimmt nur, daß sie im Falle mündlicher Verhandlung zu laden sind. Über die Frage, ob mündlich verhandelt werden muß, besagt diese Vorschrift nichts.
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In diesem Verfahren gibt es also keine "Beteiligten", die auf mündliche Verhandlung verzichten könnten und verzichten müßten, um nach § 25 Abs. 1 BVerfGG eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zu ermöglichen. Gibt es aber in einem Verfahren keine Beteiligten, so folgt daraus nicht, daß deshalb nur auf Grund mündlicher Verhandlung entschieden werden könnte. Eine sinngemäße Auslegung des § 25 Abs. 1 BVerfGG ergibt, daß es in einem Verfahren, an dem niemand beteiligt ist, im Ermessen des Bundesverfassungsgerichts steht, ob es auf Grund mündlicher Verhandlung entscheiden will (im Ergebnis ebenso Geiger, Kommentar zum BVerfGG, § 82 Anm. 1). Im vorliegenden Verfahren ist eine mündliche Verhandlung entbehrlich, weil eine weitere Klärung der für die Beurteilung des Antrags maßgeblichen, im Schrifttum eingehend behandelten Rechtsfragen durch eine mündliche Verhandlung nicht zu erwarten ist.
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II. |
Der Antrag ist zulässig.
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Das vorlegende Gericht hält das Straffreiheitsgesetz für verfassungswidrig, und es kommt bei der ihm obliegenden Entscheidung auf die Gültigkeit dieses Gesetzes an. Das Amtsgericht erachtet für die vor dem Stichtag des Straffreiheitsgesetzes (15. September 1949) liegenden, der Angeklagten zur Last gelegten Straftaten eine (fiktive) Gesamtstrafe von 6 Monaten Gefängnis für angemessen und hätte daher gemäß § 1, § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs.4 StFG das Verfahren insoweit einzustellen; dagegen müßte es bei Nichtigkeit des Gesetzes das Hauptverfahren gemäß § 203 StPO in vollem Umfange eröffnen.
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III. |
Die Rechtsansicht des Amtsgerichts ist jedoch unzutreffend. Das Straffreiheitsgesetz verstößt nicht gegen das Grundgesetz.
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1. Das Grundgesetz enthält keine Bestimmungen darüber, ob der Bund für den Erlaß von Gesetzen über die Gewährung von Straffreiheit zuständig ist, insbesondere läßt sich die Vorschrift über das Gnadenrecht des Bundespräsidenten (Art. 60 Abs. 2 GG) zur Begründung einer solchen Befugnis des Bundes nicht heranziehen.
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a) Die überkommene Lehre versucht, Rechtswohltaten der im Straffreiheitsgesetz gewährten Art als "Amnestie" dem Begriff der Begnadigung unterzuordnen: Begnadigung im weitesten Sinn sei ein staatlicher Eingriff in die Strafrechtspflege, durch den die durch ein rechtskräftiges Urteil herbeigeführten Straffolgen gemildert oder beseitigt (Begnadigung im engeren Sinn) oder durch den die Einleitung oder Fortsetzung eines Strafverfahrens verhindert würden (Niederschlagung); Begnadigung sei zugunsten eines einzelnen Verurteilten oder Verfolgten möglich (Einzelbegnadigung, Einzelabolition), sie könne aber auch für eine "generell bezeichnete Vielheit von Fällen" ausgesprochen werden (Amnestie) (so Eb. Schmidt in HdbDStR II, 563).
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Die Anschauungen über das Wesen der "Amnestie" haben sich jedoch mit der staatsrechtlichen Entwicklung vom alten Obrigkeitsstaate zum modernen demokratischen Rechtsstaat gewandelt. Im Volksbewußtsein wird die Gewährung von Amnestie nicht mehr als Ausfluß einer dem Recht vorgehenden Gnade, sondern als Korrektur des Rechts selbst empfunden. Außerdem entspricht es dem Wesen des modernen Rechtsstaates, daß Amnestie nicht mehr durch einen Gnadenerweis des Staatsoberhauptes, sondern gesetzlich gewährt wird. Diese wesensmäßige Wandlung war bereits zur Zeit der Geltung der Weimarer Verfassung in der Lehre von Anschütz und Poetzsch-Heffter erkennbar, die die Gewährung von Straffreiheit für noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftaten nicht mehr als Gnadenakt ansahen (vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Auflage, Berlin 1933, Art. 49 Anm. 3; Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung, 3. Aufl. Berlin 1928, Art. 49 Anm. 4).
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Ist hiernach die Gewährung von Straffreiheit von der Begnadigung wesensmäßig verschieden, so bietet schon deshalb Art. 60 Abs. 2 GG keinen Anhalt für die Entscheidung der Frage, ob die Befugnis für den Erlaß von Straffreiheitsgesetzen dem Bunde zusteht.
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b) Auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes gibt keinen Aufschluß über die Zuständigkeit für die Gewährung von Straffreiheit. Im Parlamentarischen Rat war man zwar zunächst geneigt, dem Bund die ausschließliche Zuständigkeit für die Amnestierung von Verstößen gegen Bundesgesetze zuzusprechen (vgl. PR, Verhandlungen des Hauptausschusses 1948/49 S. 108 f., 405). Diese Absicht des Gesetzgebers ist jedoch im Grundgesetz nicht zum Ausdruck gekommen, so daß sie für die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Straffreiheitsgesetzes nicht herangezogen werden kann, hierfür zumindest für sich allein nicht ausreicht.
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2. Die Zuständigkeit des Bundes zum Erlaß des Straffreiheitsgesetzes ergibt sich jedoch aus Art. 74 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 Ziff. 3 GG.
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a) Es wird zwar die Auffassung vertreten, daß der Bund auf Grund seiner ihm in Art. 74 Ziff. 1 GG eingeräumten Gesetzgebungsmacht keine Straffreiheit für Straftaten gewähren könne, über die im ersten Rechtszug Gerichte der Länder zu urteilen haben (vgl. Kern JR 1949 S. 367 ff.; Nöldeke ZJBl. BrZ 1949 S. 44; Mangoldt BGG Art. 60 Anm. 3; Schmidt-Leichner NJW 1950 S. 41 ff.). Dies entspricht der im Schrifttum zur Zeit der Geltung der Weimarer Verfassung überwiegend vertretenen Ansicht; danach galt eine "Amnestie" als genereller Gnadenakt, der als nur formelles Gesetz nicht dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung des Reiches (Art. 7 Nr. 2 und 3 WRV) zugerechnet werden könnte (vgl. Eb. Schmidt in HdbDStR II, 563 ff. und die dort, Anm. 4, Zitierten).
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Auch bei der Beratung der gesetzgebenden Körperschaften über den Entwurf des Straffreiheitsgesetzes (Deutscher Bundestag l. Wahlperiode, Drucks. Nr. 251 ) stand die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes nicht außer Zweifel (vgl. Sitzungsbericht des Deutschen Bundesrates 1949 S. 68-73; Prot. der 6. Sitzung des Bundestagsausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht vom 7. Dezember 1949; Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, Bd. 1 ,1949 S. 651 ff.).
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In der Rechtsprechung sind, wie zahlreiche Entscheidungen über Einzelfragen des Straffreiheitsgesetzes beweisen, Zweifel an der Gültigkeit dieses Gesetzes nicht aufgetreten. Das OLG Stuttgart, Nebensitz Karlsruhe, (Beschluß vom 6. Februar 1950 - 1 Ws 7/50 -, NJW 1950 S. 275) und das OLG Oldenburg (Beschluß vom 24. Februar 1950 - Ws l5/50 - NJW 1950 S. 474) haben zur Verfassungsmäßigkeit des Straffreiheitsgesetzes eingehend Stellung genommen und diese bejaht. Der Bundesgerichtshof hat schon mehrfach über Einzelfragen des Straffreiheitsgesetzes entschieden und dieses damit als gültig behandelt (vgl. z. B. BGHSt 1, 74, 223; 2, 216). Auch das Bundesverfassungsgericht ist in seinem Beschluß vom 18. September 1952 - 1 BvR 612/52 (BVerfGE 1, 418 [429]) stillschweigend von der Gültigkeit des Straffreiheitsgesetzes ausgegangen.
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Im Schrifttum ist die Verfassungsmäßigkeit des Straffreiheitsgesetzes überwiegend bejaht worden (vgl. Kuhnt, SchlHA 1950 S. 25; Arndt SJZ 1950 Sp. 108 f.; Brandstetter, Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit, Straubing 1950, Vorbemerkung vor § 1, Anm. 1; Peters, Strafprozeß, Karlsruhe 1952, § 79 I 5; a. M. Schmidt-Leichner a.a.O.).
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b) Es bedarf keiner Entscheidung, ob sich die Befugnis des Bundes zum Erlaß des Straffreiheitsgesetzes aus seinem Recht zur Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts herleiten läßt. Jedenfalls ergibt sich seine Befugnis zur Gewährung von Straffreiheit, soweit Niederschlagung des Verfahrens in Frage steht, aus seiner Kompetenz zur Gesetzgebung auf dem Gebiete des gerichtlichen Verfahrens (Art. 74 Ziff. 1 GG). Durch die Gewährung von Straffreiheit wird ein Strafverfolgungshindernis für alle amnestiefähigen Straftaten mit der Wirkung geschaffen, daß die Einleitung oder Fortführung aller noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren verboten ist (vgl. RGSt 69, 124 [126] ). Damit wird eine Regelung auf dem Gebiet des gerichtlichen Verfahrens getroffen. Soweit das Straffreiheitsgesetz rechtskräftig erkannte Strafen erläßt, ergibt sich die Zuständigkeit des Bundes aus seiner Gesetzgebungsmacht für den Bereich des Strafvollzugs. Durch den Erlaß rechtskräftig erkannter Strafen schafft der Gesetzgeber ein Hindernis für die Zulässigkeit des Strafvollzugs, indem er die Vollstreckung dieser Strafen verbietet. Eine solche gesetzgeberische Maßnahme gehört dem Gebiet des Strafvollzugs an. Dies wird dadurch deutlich, daß der Verurteilte gegen eine trotz Straffreiheit durchgeführte Vollstreckung der Strafe die Hilfe des Vollstreckungsgerichts anrufen kann (§ 458 StPO).
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Die Gewährung von Straffreiheit, die dieses Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungshindernis schafft, ist nicht, wie von der überkommenen Lehre vielfach angenommen wird, ein Verwaltungsakt in Gesetzesform, sondern ein Gesetz in materiellem Sinn. Es werden nicht wie bei Einzelbegnadigungen die Straffolgen von Einzelfällen, sondern von einer unübersehbaren und unbestimmten, nach Typen gekennzeichneten Zahl von Straftaten geregelt. Zwar schweben dem Gesetzgeber, der Straffreiheit gewährt, typische Einzelfälle vor; diese sind aber nur Anlaß oder Beweggrund, nicht aber Gegenstand seiner Regelung.
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c) Die Einwendungen gegen die Zuständigkeit des Bundes, die im Schrifttum (vgl. vor allem Schmidt-Leichner a.a.O.) unter den Gesichtspunkten der Justizhoheit, des verfassungswidrigen Eingriffs in die rechtsprechende Gewalt und der Vernichtung der Strafansprüche der Länder erhoben werden, greifen nicht durch. Es bedarf zu ihrer Widerlegung keiner Abgrenzung der Justizhoheit und der rechtsprechenden Gewalt zwischen Bund und Ländern und keiner Stellungnahme zu der Frage, wem die Strafansprüche zustehen: Mag die Gewährung von Straffreiheit durch den Bund auch in die Justizhoheit und die rechtsprechende Gewalt der Länder eingreifen und Strafansprüche der Länder zum Erlöschen bringen, so sind diese Eingriffe jedenfalls nicht verfassungswidrig. Es liegt im Wesen der Zuständigkeit für die Justizgesetzgebung, daß der Bund durch Ausübung der ihm in Art. 74 Ziff. 1 GG eingeräumten Befugnisse den Bereich der Strafbarkeit und den Umfang der Strafverfolgung menschlichen Verhaltens und damit zugleich den Tätigkeitsbereich der Länder beschränken kann. Der weitere Einwand, daß eine ausschließliche Zuständigkeit der Länder für die Gewährung von Straffreiheit durch deutsches Staatsgewohnheitsrecht begründet sei, findet in der Geschichte der Amnestiegesetzgebung keine Grundlage. Schon das Kaiserreich hat durch Gesetz in gewissen Fällen Straffreiheit gewährt für Straftaten, die im ersten Rechtszug der einzelstaatlichen Gerichtsbarkeit unterlagen, obwohl es nach der im Schrifttum damals herrschenden Auffassung hierfür keine Zuständigkeit besaß; vgl. die weitgehenden Amnestien im Deutsch-Russischen Zusatzvertrag zu dem Friedensvertrage zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei einerseits und Rußland andererseits (RGBl. 1918 S. 622 [644]), in dem Friedensvertrag zwischen Deutschland und Finnland (RGBl. 1918 S. 701 [708]) und im Deutsch-Ukrainischen Zusatzvertrag zu dem Friedensvertrage zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei einerseits und der Ukrainischen Volksrepublik andererseits (RGBl. 1918 S. 1030 [1046]).
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Zur Zeit der Geltung der Weimarer Verfassung war es streitig, ob das Reich Straffreiheit auch für Taten gewähren konnte, über die im ersten Rechtszug Gerichte der Länder zu entscheiden hatten; die im Schrifttum herrschende Meinung gestand dem Reich die Befugnis zum Erlaß von Amnestien nur in solchen Fällen zu, in denen ein Gericht des Reiches im ersten Rechtszug zu erkennen hatte (vgl. Eb. Schmidt, HdbDStR II, 564 und die dort, Anm. 4, Zitierten). Anschütz (a.a.O. Art. 49 Anm. 3) und Poetzsch-Heffter (a.a.O. Art. 49 Anm. 4), die zwar grundsätzlich auf dem Boden der herrschenden Lehre standen, erkannten an, daß dem Reich gemäß Art. 7 Nr. 2 WRV das Recht zu einer - von dem Erlaß einer Amnestie wesensmäßig zu unterscheidenden - gesetzlichen Gewährung von Straffreiheit zustand, allerdings nur, soweit Straftaten in Frage kamen, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt waren. Die Praxis ist mehrfach darüber hinausgegangen. Das Gesetz vom 23. Januar 1920 (RGBl. S. 91), betreffend die Gewährung von Straffreiheit an Personen aus den Abstimmungsgebieten sowie die Abänderung des deutsch-polnischen Vertrags über die vorläufige Regelung von Beamtenfragen vom 9. September 1919, und das Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 4. August 1920 (RGBl. S. 1487) erfaßten auch Straftaten, die im ersten Rechtszug der Gerichtsbarkeit der Länder unterlagen. Das Gesetz über Straffreiheit für politische Straftaten vom 21. Juli 1922 (RGBl. I S. 595) und das Gesetz über Straffreiheit vom 17. August 1925 (RGBl. I S. 313) beschränkten sich hingegen auf Strafsachen, für deren Entscheidung im ersten Rechtszug Gerichte des Reiches zuständig waren. Das Gesetz über Straffreiheit vom 14. Juli 1928 (RGBl. I S. 195) und das Gesetz zur Änderung dieses Gesetzes vom 24. Oktober 1930 (RGBl. I S. 467) erfaßten wiederum auch Straftaten, über die im ersten Rechtszug Gerichte der Länder entschieden hatten. In den Eingangsformeln dieser beiden letzten Gesetze ist allerdings "zur Vermeidung von Zweifeln" festgestellt, daß die Erfordernisse verfassungsändernder Mehrheit erfüllt gewesen seien.
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In Anbetracht dieser zwar schwankenden, keinesfalls aber eindeutig zugunsten ausschließlicher Zuständigkeit der Länder sprechenden Staatspraxis in Deutschland kann von einem Staatsgewohnheitsrecht, das der aus Art. 74 Ziff. 1 GG abgeleiteten Bundeskompetenz entgegenstehen könnte, nicht die Rede sein (übereinstimmend Arndt SJZ 1950 Sp. 109). Mit Rücksicht auf diese Staatspraxis besteht auch kein Anhalt für die Annahme, daß die Zuständigkeit des Bundes für den Erlaß eines Straffreiheitsgesetzes mit dem bundesstaatlichen Prinzip des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren sei.
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d) Sonach war der Bund für den Erlaß des Straffreiheitsgesetzes nach Art. 74 Ziff. 1 GG zuständig.
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Einer Prüfung der Frage, ob für den Erlaß dieses Gesetzes ein Bedürfnis im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG anzuerkennen ist, bedarf es zu dieser Feststellung nicht. Die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, ist eine Frage pflichtmäßigen Ermessens des Bundesgesetzgebers, die ihrer Natur nach nicht justitiabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen ist. Zwar sind - im Gegensatz zu Art. 9 WRV - die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts zur konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund (Art. 72 Abs. 2 GG) im einzelnen bezeichnet. Hierdurch wird die Ermessensfreiheit des Bundesgesetzgebers eingeengt, der Entscheidung der Bedürfnisfrage bleibt jedoch der Charakter einer echten Ermessensentscheidung. Die Frage, inwieweit diese Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen wäre, falls der Bundesgesetzgeber die seinem Ermessen gesetzten Grenzen verkannt oder das ihm eingeräumte Ermessen mißbraucht hätte, bedarf hier keiner Beantwortung; denn für die Feststellung einer Überschreitung oder mißbräuchlichen Ausübung dieses Ermessens bei Erlaß des Straffreiheitsgesetzes fehlt es an jedem Anhalt.
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