BVerfGE 7, 194 - Ehegattenbesteuerung
§ 26 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 13. November 1957 (BGBl. I S. 1793) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
 
Beschluß
des Ersten Senats (durch den gem. § 91a Abs. 1 BVerfGG gebildeten Ausschuß) vom 12. Dezember 1957
– 1 BvR 678/57 –
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Fleischermeisters ... gegen: 1. § 26 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 13. November 1957 (BGBl. I S. 1793), 2. § 26 EStG in den in den Jahren 1949 bis 1954 geltenden Fassungen, 3. die Einkommensteuerbescheide des Finanzamtes ... – Außenbezirk, für die Veranlagungszeiträume 1949 bis 1952 vom 6. Oktober 1953 (Steuer-Nr. ...).
 
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde vom 19. November 1957 wird gemäß § 91 a Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) in der Fassung des Gesetzes vom 21. Juli 1956 (BGBl. I S. 662) verworfen.
 
Gründe:
I.
Die Beschwerdeführer, ein Fleischermeister und seine Ehefrau, wurden für das Jahr 1949 bis 1952 durch Steuerbescheide des Finanzamtes ... vom 6. Oktober 1953 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sämtliche Steuerbescheide sind vor dem 21. Februar 1957 rechtskräftig geworden.
Mit Schriftsatz vom 19. November 1957 haben die Beschwerdeführer gegen § 26 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 13. November 1957 – EStG 1957 – (BGBl. I S. 1793), gegen § 26 EStG in den in den Jahren 1949 bis 1954 geltenden Fassungen sowie gegen ihre Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer in den Jahren 1949 bis 1952 Verfassungsbeschwerde erhoben. Nach ihrer Auffassung verstoßen § 26 EStG und die auf ihm beruhenden Steuerbescheide aus den im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 1957 (BVerfGE 6, 55) genannten Gründen gegen Art. 6 Abs. 1 GG; § 26 Abs. 5 EStG 1957 verhindere, daß die Nichtigkeit dieser Steuerbescheide geltend gemacht werden könne, und verletze damit ebenfalls Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 79 Abs. 3 GG.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nach § 91 a Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu verwerfen.
1. Soweit sie sich gegen § 26 Abs. 5 EStG 1957 richtet, ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unbegründet. Diese Bestimmung ist durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung steuerrechtlicher Vorschriften vom 26. Juli 1957 (BGBl. I S. 848) in das Einkommensteuergesetz eingefügt worden; die zur Prüfung gestellte Vorschrift ist damit Bestandteil der Übergangsregelung der Veranlagung von Ehegatten zur Einkommensteuer, die durch die Nichtigerklärung des § 26 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 17. Januar 1952 – EStG 1951 – (BVerfGE 6, 55) erforderlich geworden war. Nach § 26 Abs. 5 EStG 1957 kann die Berichtigung vor dem 21. Februar 1957 rechtskräftig gewordener Steuerbescheide nicht mit der Begründung verlangt werden, daß § 26 des Einkommensteuergesetzes in den vor dem 21. Februar 1957 angewendeten Fassungen nichtig sei. Die Bestimmung entspricht damit dem in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG aufgestellten Grundsatz, wonach rechtskräftige Entscheidungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm beruhen, rechtsbeständig bleiben.
Bei der gesetzlichen Regelung der Frage, welche Wirkungen die Nichtigerklärung einer Rechtsnorm für die nicht mehr anfechtbaren Hoheitsakte hat, die auf der nachträglich für nichtig erklärten Norm beruhen, treten notwendig zwei Grundsätze in Widerstreit: Die Forderung nach Rechtssicherheit, wozu auch die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen gehört (BVerfGE 2, 380 [403]), und die Forderung nach Gerechtigkeit im Einzelfall. Vor der Frage, welchem dieser Prinzipien der Vorzug zu geben sei, stand der Gesetzgeber bereits bei der Beratung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (vgl. die Nachweise in BVerfGE 2, 380 [404]). Er hat in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG – ebenso wie später in § 26 Abs. 5 EStG 1957 – die Rechtssicherheit höher bewertet. Das Grundgesetz hat er hierdurch nicht verletzt: sowohl der Grundsatz der Rechtssicherheit wie das Prinzip der Gerechtigkeit im Einzelfall haben Verfassungsrang; die Rechtssicherheit ist ebenso wie die Gerechtigkeit wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, einer der Leitideen des Grundgesetzes (Beschluß vom 24. Juli 1957 – 1 BvL 23/52 –). Es stand daher dem Gesetzgeber frei, welchem der beiden Grundsätze er den Vorzug geben wollte. Seine Entscheidung für die Rechtssicherheit steht deshalb mit dem Grundgesetz in Einklang, selbst wenn infolgedessen die Durchsetzung eines Grundrechts – hier des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG – in rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht mehr möglich ist.
Den Bedenken des Bundesfinanzhofes (Urteil vom 31. Oktober 1957 – VI 33/56 U –) gegenüber ist festzustellen, daß durch eine Regelung, wie sie in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG und in § 26 Abs. 5 EStG 1957 getroffen ist, auch Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt wird. Stellt das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes fest, so wird diese Entscheidung im Hinblick auf die Regelung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG im allgemeinen für eine Vielzahl rechtskräftig abgeschlossener Verfahren ohne Wirkung sein, während sie für alle anhängigen Verfahren Rechtswirkungen äußert. Entsprechend folgt zwangsläufig aus der in § 26 Abs. 5 EStG 1957 getroffenen Entscheidung für die Rechtssicherheit, daß Steuerpflichtige verschieden behandelt werden, je nachdem, ob die Steuerbescheide vor dem 21. Februar 1957 rechtskräftig geworden sind oder nicht. Mag auch die verschiedene steuerliche Belastung der beiden Gruppen von Steuerpflichtigen das Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Einzelfall nicht voll befriedigen, so ist die verschiedene Behandlung doch durch das Bedürfnis nach Rechtssicherheit gerechtfertigt und deshalb auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich unbedenklich. Keinesfalls nötigte die besonders große Zahl bereits abgeschlossener Veranlagungen den Gesetzgeber unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, die sich aus der Nichtigerklärung des § 26 EStG 1951 ergebenden Wirkungen auf rechtskräftig abgeschlossene Verfahren abweichend von dem Grundsatz des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu regeln. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit rechtfertigt gerade die große Zahl bereits rechtskräftiger Veranlagungen die in § 26 Abs. 5 EStG getroffene Regelung.
2. Soweit die Beschwerdeführer die Nichtigkeit des § 26 EStG in den in den Jahren 1949 bis 1954 angewendeten Fassungen geltend machen, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Gegen ein Gesetz kann eine Verfassungsbeschwerde zulässigerweise nur erhoben werden, wenn die Beschwerdeführer unmittelbar durch das Gesetz, nicht erst durch einen Vollziehungsakt, in ihren Rechten betroffen werden. Die angegriffene Gesetzesbestimmung setzt aber zu ihrer Durchführung rechtsnotwendig einen besonderen, vom Willen der vollziehenden Gewalt getragenen Vollziehungsakt in Gestalt der Steuerveranlagung voraus (BVerfGE 1, 97 [101 ff.]).
3. Die Verfassungsbeschwerde ist verspätet, soweit sie sich gegen einzelne Steuerbescheide wendet. Sämtliche Steuerbescheide sind vor dem 21. Februar 1957 rechtskräftig geworden, so daß bei Eingang der Verfassungsbeschwerde am 22. November 1957 die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bereits verstrichen war.
Da die Verfassungsbeschwerde somit teils offensichtlich unzulässig, teils offensichtlich unbegründet ist, ist von der Entscheidung weder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten noch entsteht den Beschwerdeführern durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer und unabwendbarer Nachteil.