BVerfGE 11, 351 - Reserveliste Nordrhein-Westfalen
Die institutionelle Garantie der Selbstverwaltung des Art. 28 Abs. 2 GG fordert, daß in dem Prozeß der Willensbildung im überschaubaren kommunalen Bereich allen Gruppen gleiche Chancen offengehalten werden.  Diesem Gebot ist nur Genüge getan, wenn die Bürger Reservelisten auch für nicht parteigebundene Kandidaten aufstellen können.
 
Urteil
des Zweiten Senats vom 2. November 1960 auf die mündliche Verhandlung vom 18. Oktober 1960
-- 2 BvR 504/60 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Rechtsanwalts Dr. Heinz Dreismann, Münster i. W..., gegen § 16 Absatz 1 Satz 1 und 2, § 29 Satz 2 und 3 des nordrhein-westfälischen Kommunalwahlgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Juni 1960 (GVBl. S. 187).
Entscheidungsformel:
§ 16 Absatz 1 Satz 1 und 2 und § 29 Satz 2 und 3 des Gesetzes über die Kommunalwahlen im Lande Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Juni 1960 (GVBl. S. 187) verletzen das Grundrecht des Artikels 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.  Sie sind daher nichtig.
 
Gründe:
 
A. -- I.
Das Gesetz über die Kommunalwahlen im Lande Nordrhein-Westfalen (Kommunalwahlgesetz -- KWG) in der Fassung des Gesetzes zur  Änderung des Kommunalwahlgesetzes und der Amtsordnung vom 30. Mai 1960 (GVBl. S. 187) verbindet die relative Mehrheitswahl im Wahlbezirk mit dem vollständigen Verhältnisausgleich im Wahlgebiet für die an der Wahl beteiligten politischen Parteien.
Wahlgebiet ist das Gebiet der Körperschaft, deren Vertretung zu wählen ist (§ 1 Abs. 2). Das Wahlgebiet gliedert sich in so viele Wahlbezirke, wie -- gestaffelt nach der Bevölkerungszahl der jeweiligen Körperschaft -- Vertreter in den Wahlbezirken zu wählen sind (§ 4 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 2). Wahlvorschläge für die in den Wahlbezirken zu wählenden Vertreter können von politischen Parteien und von Wählergruppen eingereicht werden (§ 15). Im Wahlbezirk gewählt ist derjenige Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt (§ 30).
Daneben werden in den Gemeinden mindestens ebenso viele und in den Landkreisen mindestens halb so viele Sitze, wie Vertreter in den Wahlbezirken zu wählen sind §§ 3 Abs. 3), auf Reservelisten vergeben, die nur von den politischen Parteien aufgestellt werden können.
Die dafür maßgebenden Bestimmungen lauten:
    "§ 16
    (1) Für die Reserveliste können nur Bewerber benannt werden, die für eine politische Partei (Art. 21 des Grundgesetzes) auftreten. Die Reserveliste muß von der für das Wahlgebiet zuständigen Parteileitung unterzeichnet sein. ...
    (2) bis (3) ...
    § 29
    Jeder Wähler hat eine Stimme. Mit ihr wählt er den Vertreter im Wahlbezirk (§ 30) und, falls der Bewerber von einer politischen Partei aufgestellt ist, die von ihr für das Wahlgebiet aufgestellte Reserveliste. Die Sitze werden auf die an der Listenwahl teilnehmenden politischen Parteien nach den Grundsätzen des d'Hondt'schen Höchstzahlenverfahrens unter Anrechnung der in den Wahlbezirken errungenen Sitze (§ 31) verteilt."
Bei der Verteilung der Sitze aus der Reserveliste werden nur politische Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben (§ 31 Abs. 6). Erringt eine an der Listenwahl teilnehmende politische Partei mehr Direktmandate in den Wahlbezirken, als ihr im Rahmen des Verhältnisausgleichs zustehen würden, so verbleiben ihr die Überhangmandate. In diesem Fall erhöht sich die Zahl der im Rahmen des Verhältnisausgleichs zu vergebenden Sitze soweit, daß auch die übrigen an der Listenwahl beteiligten politischen Parteien eine ihrem Stimmenanteil entsprechende Anzahl von Sitzen erhalten (§ 31 Abs. 3 und 4). Innerhalb der politischen Parteien werden die Sitze auf die Bewerber in der Reihenfolge verteilt, die sich aus den Reservelisten der politischen Parteien ergibt (§ 31 Abs. 5 Satz 1). Bewerber, die in einem Wahlbezirk gewählt sind, bleiben auf der Reserveliste unberücksichtigt (§ 31 Abs. 5 Satz 2).
Wenn ein gewählter Bewerber stirbt oder die Annahme der Wahl ablehnt oder wenn ein Vertreter stirbt oder sonst aus der Vertretung ausscheidet, so wird der Sitz nach der Reserveliste derjenigen politischen Partei besetzt, für die der Ausgeschiedene bei der Wahl aufgetreten ist. Ist der Ausgeschiedene bei der Wahl nicht als Bewerber für eine politische Partei aufgetreten oder ist die Reserveliste erschöpft, so bleiben die betreffenden Sitze unbesetzt (§ 43 Abs. 1).
II.
Der Beschwerdeführer, ein wahlberechtigter Bürger der Stadt Münster i. W., wendet sich mit der am 14. August 1960 eingegangenen Verfassungsbeschwerde gegen die in § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 29 Satz 2 und 3 des Kommunalwahlgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Juni 1960 getroffene Regelung und beantragt, diese Bestimmungen wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz für nichtig zu erklären und dem Land die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Zur Begründung trägt er im wesentlichen vor: Die Beschränkung des Rechts zur Aufstellung von Reservelisten auf die politischen Parteien im Sinne von Art. 21 GG (§ 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 KWG) beeinträchtige ihn in mehrfacher Hinsicht bei der Ausübung seines aktiven und passiven Wahlrechts. Die angegriffenen Vorschriften nähmen ihm die Möglichkeit, sich als Kandidat einer freien Wählervereinigung mit den gleichen Erfolgschancen wie ein von einer politischen Partei benannter Kandidat um einen Sitz in der kommunalen Vertretungskörperschaft zu bewerben, und verwehrten ihm das Recht, Kandidaten einer freien Wählervereinigung auf einer Reserveliste zu benennen. In Fortführung dieser in § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 KWG bestimmten Beschränkungen werde nach § 29 KWG der Stimme des Wählers eines Kandidaten einer freien Wählervereinigung nicht der gleiche Erfolgswert zugemessen wie der des Wählers eines von den politischen Parteien benannten Bewerbers. Während die dem Kandidaten einer freien Wählervereinigung gegebene Stimme nur bei der relativen Mehrheitswahl im Wahlbezirk zum Zuge komme, werde die für einen Parteikandidaten abgegebene Stimme nicht nur bei der Ermittlung des Wahlergebnisses im Wahlbezirk, sondern auch bei der Verteilung der Sitze aus den Reservelisten berücksichtigt. Das sei weder mit dem allgemeinen Gleichheitssatz noch mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl vereinbar.
III.
Das Bundesverfassungsgericht hat gemäß § 94 BVerfGG dem Bundesrat, der Bundesregierung, dem Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen sowie sämtlichen Landesregierungen Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Stellung genommen hat lediglich die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig, aber für unbegründet.
Bei der Mehrheitswahl in den Wahlbezirken sei die Chancengleichheit aller Bewerber gewahrt. Nur im Rahmen der Listenwahl im Wahlgebiet werde zwischen politischen Parteien im Sinne des Art. 21 GG und sonstigen Wählergruppen differenziert. Die dadurch herbeigeführte Ungleichheit rechtfertige sich jedoch aus den grundsätzlichen Entscheidungen der Verfassung über die politischen Parteien, die Wahlen und die kommunale Selbstverwaltung.
So wie das Wahlrecht historisch gewachsen sei, solle zwar nach dem Grundgesetz grundsätzlich jedermann seine staatsbürgerlichen Rechte in formal möglichst gleicher Weise ausüben können. Dieser Grundsatz schließe aber nicht aus, daß die Wahlen zugleich auch dazu bestimmt seien, politisch funktionsfähige Organe zu bilden. Zur Sicherung dieses staatspolitisch vorrangigen Zweckes seien Differenzierungen zwischen politischen Parteien und Wählergruppen in gewissen Grenzen zulässig. Die beherrschende Stellung der politischen Parteien bei den Wahlen sei auch eine politische Realität, die der Grundgesetzgeber in Art. 21 GG ausdrücklich anerkannt habe. In dieser Bestimmung finde das Listenprivileg der politischen Parteien im Rahmen der personalisierten Verhältniswahl seine verfassungsrechtliche Legitimation.
Das Recht zur Listenaufstellung setze begrifflich eine Gruppe voraus, deren Kandidaten durch ein gemeinsames für alle verbindliches Programm verbunden seien. Diese Voraussetzung werde von den parteilosen Wählergruppen, bei denen es sich in aller Regel um Zufallsbildungen heterogener Elemente von kurzer Lebensdauer handle, nicht erfüllt. Selbst wenn man dessenungeachtet die Aufstellung von Wahllisten durch parteilose Wählergruppen für möglich halte, sei es jedenfalls staatspolitisch dringend geboten und daher für den Gesetzgeber legitim, die am Gesamtwohl orientierten politischen Parteien, die die Wahlen im wesentlichen vorbereiteten und durchführten, dadurch zu stärken, daß sie gegenüber Wählervereinigungen, die meist einseitige Interessen verfolgten, im Wahlrecht privilegiert würden. Eine solche Privilegierung sei das notwendige Korrelat zu der besonderen Inpflichtnahme der politischen Parteien auf Grund des Art. 21 GG.
Die Gleichstellung der Wählergruppen mit den politischen Parteien würde im übrigen bedeuten, daß die ersteren bevorzugt würden. Den Wählergruppen mit ihrer regelmäßig lockeren Organisation und heterogenen Zusammensetzung bereite es in der Regel keine Schwierigkeiten, sich zum Zwecke wahlrechtlicher Manipulationen mit anderen Gruppen zusammenzuschließen, während die politischen Parteien durch ihre homogene Struktur und durch ein sie verpflichtendes Programm an einem solchen Zusammenschluß gehindert seien. Den politischen Parteien müßten deshalb für diesen Fall die gleichen Möglichkeiten für wahltaktische Zusammenschlüsse eröffnet werden. Damit würden jedoch die wahlrechtlich legitimen Unterschriftenquoren und Sperrklauseln, deren Aufgabe es sei, eine übermäßige Stimmenzersplitterung zu vermeiden und die Arbeitsfähigkeit der Volksvertretungen zu sichern, praktisch wieder wirkungslos werden. Sei das Listenprivileg der politischen Parteien aber aus allgemeinen staatspolitischen Erwägungen sachlich gerechtfertigt, so könne auch die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der sich aus ihm zwangsläufig für die einzelnen Wähler ergebenden Ungleichheiten nicht in Zweifel gezogen werden.
Ebensowenig stehe die im Art. 28 GG enthaltene Garantie der kommunalen Selbstverwaltung dem Listenprivileg auf der Kommunalebene entgegen. Art. 28 GG wehre nur die äußersten Konsequenzen eines perfektionierten Parteienstaates ab, indem er parteilosen Bewerbern die Chance der Einzelkandidatur und des Einzelmandats und dadurch die Möglichkeit einer örtlich bestimmten Kandidatenauslese offenhalte. Diesem Gebot sei durch das nordrhein-westfälische Kommunalwahlgesetz Rechnung getragen. Parteilose Bewerber könnten unter den gleichen Bedingungen wie die Parteibewerber in den Wahlbezirken kandidieren und mit absoluter Chancengleichheit an der Mehrheitswahl im Wahlbezirk teilnehmen. Eine weitergehende Berücksichtigung des örtlich-kommunalen Elements werde von Art. 28 GG nicht gefordert und sei auch von der Sache her nicht zu rechtfertigen.
Die politischen Parteien könnten die ihnen durch Art. 21 GG zugewiesene Aufgabe, an der politischen Willensbildung teilzunehmen und so der staatlichen Integration zu dienen, ohne eine hinreichende Verwurzelung im kommunalen Bereich nicht erfüllen.
Die Privilegierung der politischen Parteien durch das nordrhein-westfälische Kommunalwahlgesetz trage im übrigen einer historischen Entwicklung Rechnung, die sich schon zur Zeit der Weimarer Republik angebahnt habe. Eine Analyse der Wahlergebnisse zu jener Zeit lasse deutlich erkennen daß schon damals die Selbstverwaltung überwiegend von den politischen Parteien getragen worden sei. Die Mitwirkung des ausschließlich örtlich orientierten Elements in der Selbstverwaltung sei eine Ausnahme gewesen; ihr Gepräge habe sie im übrigen weniger von lebenskräftigen Rathausparteien und Wählervereinigungen als von profilierten Einzelpersönlichkeiten erhalten. Nach 1945 seien die politischen Parteien aber endgültig zu den Trägern der Kommunalwahlen und der Kommunalpolitik geworden. Diese Entwicklung sei die Konsequenz des sich seit Jahrzehnten immer deutlicher herausbildenden Parteienstaats, der im Art. 21 GG seine verfassungsrechtliche Anerkennung gefunden habe. Dadurch habe die Selbstverwaltung keinen Schaden genommen.
Schließlich verbiete die besondere Struktur des Landes Nordrhein-Westfalen, in dem mehr als 67% der Bevölkerung in Gemeinden mit über 20 000 und mehr als 50% der Bevölkerung in Gemeinden mit über 50000 Einwohnern lebe, daß die Kommunalpolitik unter den Einfluß vielfach zufälliger Wählergruppen gerate, deren Unbeständigkeit und Mangel an staatspolitischer Orientierung das Funktionieren der Selbstverwaltung und die lebensnotwendige Zusammenarbeit der Gemeinden und Kreise miteinander bei der Erledigung überörtlicher Aufgaben ernsthaft gefährden würde. Dieser Gefahr könne der Landesgesetzgeber entgegentreten, ohne damit dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, mit dem Gleichheitssatz in Konflikt zu geraten, da die formale Wahlrechtsgleichheit insoweit von vorrangigen staatspolitischen Notwendigkeiten überlagert werde.
IV.
In der mündlichen Verhandlung haben der Beschwerdeführer und für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen der Innenminister ihre Rechtsauffassung dargelegt. Dieser hat vor allem hervorgehoben, daß -- von besonders gelagerten Ausnahmefällen abgesehen -- in Nordrhein-Westfalen kommunalpolitisch intendierte Bürgervereine keine Rolle spielten und daß hier die Wählergruppen sich im wesentlichen aus auf kommunaler Ebene sich formierenden Interessentengruppen und anderen Gruppen zusammensetzten, denen es nicht gelungen sei, sich auf Landesebene durchzusetzen.
Der Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen war durch seinen Präsidenten vertreten.
 
B.
1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich unmittelbar gegen das nordrhein-westfälische Kommunalwahlgesetz. Dies ist zulässig. Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffene Bestimmung unmittelbar in seinem Wahlrecht betroffen (BVerfGE 1, 97 [101 f.]; 1, 208 [237 f.]; 3, 19 [23]; 3, 383 [392]; 5, 77 [81]; 6, 121 [128]; 7, 63 [66]; Beschluß vom 12. Juli 1960 -- 2 BvR 373/60, 2 BvR 442/60 -- Seite 7 f.). Die Verfassungsbeschwerde ist auch fristgerecht erhoben.
2. Angegriffen sind Normen der nordrhein-westfälischen Kommunalwahlgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes und der Amtsordnung vom 30. Mai 1960 (GVBl. S. 155 -- Änderungsgesetz), das am Tage nach seiner Verkündung, dem 21. Juni 1960 in Kraft getreten ist (Art. IV).
a) Eine dem § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 KWG entsprechende Regelung fand sich zwar bereits in § 17 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Kommunalwahlgesetzes vom 12. Juni 1954 (GS NW S. 65). § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 KWG ist jedoch weder der Form noch dem Inhalt nach mit dem früheren § 17 Abs. 1 Satz 1 und 2 identisch.
Der Form nach liegt eine neue Norm vor, weil Art. I Ziff. 13 Buchst. a des Änderungsgesetzes vom 30. Mai 1960 den § 17 Abs. 1 Satz 1 neu gefaßt hat. Inhaltlich unterscheidet sich die jetzt gültige von der bisherigen Fassung dadurch, daß hinter die Worte "politische Partei" in Klammern die Worte "Art. 21 des Grundgesetzes" eingefügt worden sind. Damit sollte -- was nach dem bisherigen Wortlaut hätte zweifelhaft sein können -- klargestellt werden, daß das Listenprivileg nur politischen Parteien auf Bundes- und Landesebene unter Ausschluß von sonstigen organisierten Wählergruppen wie den sogenannten Rathausparteien vorbehalten sein soll. Von dieser Präzisierung wird auch der Satz 2 betroffen. Der Kreis der in Betracht kommenden "zuständigen Parteileitungen" sollte damit bestimmter abgegrenzt werden.
b) § 29 KWG fand sich als § 28 mit gleichem Wortlaut bereits im Kommunalwahlgesetz vom 12. Juni 1954. Das Änderungsgesetz vom 30. Mai 1960 ließ ihn unberührt. In der Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes über die Kommunalwahlen im Lande Nordrhein-Westfalen vom 21. Juni 1960 (GVBl. S. 187) erschien er lediglich infolge der neuen Paragraphenzählung als § 29. Zugleich wurde die Verweisung auf die bisherigen §§ 29 und 30, die ohne sachliche Änderung zu den §§ 30 und 31 geworden waren, der Änderung der Paragraphenfolge angepaßt. Diese Bestimmung ist also im Gegensatz zu dem früheren § 17 Abs. 1 Satz 1 und 2 formal nicht geändert worden. Der Landesgesetzgeber hat jedoch auch ihren Anwendungsbereich durch die Präzisierung des Begriffs der politischen Partei in der neuen Fassung des § 16 Abs. 1 Satz 1 KWG eindeutiger als bisher begrenzt und ihr damit einen neuen Inhalt gegeben.
Die Jahresfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG ist also neu in Lauf gesetzt worden.
 
C. -- I.
Der Beschwerdeführer hält die Beschränkung seines Wahlrechts durch den Ausschluß der Wählergruppen vom Verhältnisausgleich für unvereinbar mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl.
Diese Rüge kann im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Wahlgesetz erhoben werden. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl ist ein Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes. Deshalb enthält jeder Verstoß gegen ihn zugleich eine Verletzung des in § 90 BVerfGG in Bezug genommenen Art. 3 Abs. 1 GG, auf den der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde stützt (BVerfGE 1, 208 [242]; 3, 383 [390 f.]; 6, 84 [91]; Beschluß vom 12. Juli 1960 -- 2 BvR 373/60, 2 BvR 442/60 -- Seite 9).
II.
Die Gleichbewertung aller Aktivbürger bei der Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte gehört zu den wesentlichen Grundlagen der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes. Sie hat für das Bundestagswahlrecht in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und für das Wahlrecht in den Ländern, Kreisen und Gemeinden in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ihren verfassungsrechtlich verbindlichen Ausdruck gefunden. Der Grundsatz der gleichen Wahl verlangt, daß die Stimme eines jeden Wahlberechtigten den gleichen Zählwert hat und daß jede gültig abgegebene Stimme im Rahmen des Wahlsystems den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis hat. Insbesondere dürfen bei der Verhältniswahl die Stimmen nicht je nach der politischen Meinung, für die sich der Wähler entschieden hat, verschieden bewertet werden. Daher hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung daran festgehalten, daß nach dem Grundsatz der gleichen Wahl jedermann sein Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können. Dem Gesetzgeber verbleibt auf dem Gebiete des Wahlrechts nur ein engbemessener Spielraum; Differenzierungen in diesem Bereich bedürfen stets eines besonderen rechtfertigenden Grundes (BVerfGE 1, 208 [248 f.]; 4, 375 [382 ff.]; 6, 84 [91]; 6, 104 [120]; Beschluß vom 12. Juli 1960 2 BvR 373/60, 2 BvR 442/60 -- Seite 10).
Wie des näheren im Beschluß vom 12. Juli 1960 dargetan ist, ergibt sich weiter aus der im Art. 28 Abs. 2 GG verfassungsmäßig garantierten kommunalen Selbstverwaltung, daß auf der kommunalen Ebene grundsätzlich die örtlich gebundenen Rathausparteien oder Wählervereinigungen den politischen Parteien rechtlich gleichgestellt sind. Den sich diesen Gruppen zurechnenden Bürgern wie ihren Kandidaten muß also grundsätzlich eine chancengleiche Teilnahme an den kommunalen Wahlen gewährt werden.
Diesem Grundsatz widerstreitet das nordrhein-westfälische Kommunalwahlgesetz in mehrfacher Hinsicht.
1. Nach § 29 Satz 2 und 3 KWG wird im kommunalen Raum der Stimme des Wählers, der sich für den von einer politischen Partei aufgestellten Bewerber entscheidet, in der Regel ein weit größerer Erfolgswert zugemessen als der eines Wählers, der dem von einer Wählergruppe benannten Kandidaten seine Stimme gibt. Während die Stimme des ersteren sowohl bei der relativen Mehrheitswahl wie bei der Zuteilung der weiteren Sitze aus der Reserveliste bewertet wird und, wenn man von der 5 v. H.- Klausel absieht, nicht verlorengehen kann, wird die letztere nur bei der Mehrheitswahl im Wahlbezirk berücksichtigt. Der Wähler des von einer Wählergruppe benannten Bewerbers hat also nicht die Möglichkeit, seine Stimme auch bei der Mandatsverteilung im gesamten Wahlgebiet nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zur Geltung zu bringen. Seine Stimme fällt überhaupt nicht ins Gewicht, wenn sein Kandidat nicht die meisten Stimmen im Bezirk auf sich vereinigt. Ist sein Kandidat im Wahlbezirk erfolgreich, so muß er in Kauf nehmen, daß ein etwaiger Stimmenüberschuß nicht berücksichtigt wird. Er muß überdies damit rechnen, daß der Sitz unbesetzt bleibt, wenn der Gewählte stirbt, die Annahme der Wahl ablehnt oder sonst aus der Vertretung ausscheidet (§ 43 Abs. 1 Satz 4 KWG). Hiernach haben die Stimmen, die bei einer Kommunalwahl für die politischen Parteien und für die Wählergruppen abgegeben werden, ein verschiedenes Gewicht. Diese Verschiedenheit des Erfolgswertes ist mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl unvereinbar.
Im nordrhein-westfälischen Kommunalwahlgesetz ist nun die Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl verbunden. Der Landesgesetzgeber hätte zwar die Möglichkeit gehabt, sich für die reine Mehrheitswahl zu entscheiden. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß der Verhältnisausgleich, der hinter eine Mehrheitswahl im Wahlbezirk gesetzt wird, auf einen Teil der an der Wahl teilnehmenden Gruppen mit der Begründung beschränkt werden darf, daß auch bei einer reinen Mehrheitswahl die für die unterlegenen Kandidaten abgegebenen Stimmen nicht zum Zuge gekommen wären. In ein Wahlsystem dürfen nicht Elemente eines anderen Wahlsystems eingeführt werden, die der Grundstruktur der diesem Wahlsystem eigenen Berechnung der Stimmen fremd sind. Entscheidet sich der Gesetzgeber für einen Teil des Wahlverfahrens für das Verhältniswahlsystem, so unterwirft er sich damit dem prinzipiellen Gebot des gleichen Erfolgswertes jeder Wählerstimme als der spezifischen Ausprägung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erfährt (BVerfGE 1, 208 [246 f.]; 6, 84 [90]). Er begibt sich damit der Möglichkeit, den Erfolgswert der Wählerstimmen im Rahmen eines Kommunalwahlgesetzes danach zu differenzieren, ob sie für den Kandidaten einer politischen Partei im Sinne des Art. 21 GG oder für den von einer Wählergruppe aufgestellten Bewerber gelten.
§ 29 Satz 2 und 3 KWG sind daher nichtig.
2. Die im nordrhein-westfälischen Kommunalwahlgesetz getroffene Regelung beeinträchtigt den Beschwerdeführer ferner in verfassungswidriger Weise in seinem Wahlvorschlagsrecht.
Da nach § 16 Abs. 1 Satz 1 KWG für eine Reserveliste nur Bewerber benannt werden können, die für eine politische Partei im Sinne des Art. 21 GG auftreten, ist ihm als Anhänger einer freien Wählervereinigung die Möglichkeit genommen, Bewerber für die aus den Reservelisten zu vergebenden Sitze in Vorschlag zu bringen. Während der Anhänger einer politischen Partei Wahlvorschläge für die Einerwahl im Wahlbezirk und für die letztlich entscheidende Listenwahl im Wahlgebiet machen kann, bleibt das Wahlvorschlagsrecht der Aktivbürger, die sich in einer Wählergemeinschaft organisieren, auf die Nominierung der in der relativen Mehrheitswahl im Wahlbezirk zu wählenden Bewerber beschränkt. Auch das ist mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der sich auch auf das Wahlvorschlagsrecht bezieht, unvereinbar. Wie das Gericht bereits in dem Beschluß vom 12. Juli 1960 hervorgehoben hat, gehört es nach dem in Art. 28 GG umrissenen Leitbild zum Wesen der kommunalen Selbstverwaltung, daß sie von der Mitwirkung angesehener, mit den heimischen Verhältnissen besonders vertrauter Mitbürger getragen wird und sich an den besonderen Bedürfnissen der örtlichen Gemeinschaft orientiert. Wenn auch die politischen Parteien keineswegs als ortsferne Institutionen bezeichnet werden können, die nur von außen her in den kommunalen Bereich hineinragen, so sind sie doch zugleich ihrem Wesen und ihrer Struktur nach als am Staatsganzen ausgerichtete Institutionen nicht selten geneigt, infolge der Verschränkung von Kommunal-, Landes- und Bundespolitik die Interessen der örtlichen Gemeinschaft den Zielsetzungen ihrer gesamtpolitischen Konzeption unterzuordnen. Die institutionelle Garantie der Selbstverwaltung des Art. 28 Abs. 2 GG fordert aber, daß in dem Prozeß der Willensbildung im überschaubaren, kommunalen Bereich allen Gruppen gleiche Chancen offengehalten werden. Diesem Gebot ist nur Genüge getan, wenn die Bürger Reservelisten auch für nicht parteigebundene Kandidaten aufstellen können.
§ 16 Abs. 1 Satz 1 KWG ist daher ebenfalls nichtig.
3. § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 29 Satz 2 und 3 KWG verstoßen schließlich auch gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl insofern, als sie das passive Wahlrecht des Beschwerdeführers verkürzen. Schon im Beschluß vom 12. Juli 1960 ist betont, daß der Grundsatz der gleichen Wahl ebenso wie das aktive Wahlrecht und das Wahlvorschlagsrecht auch die Ausgestaltung des passiven Wahlrechts maßgeblich bestimmt. Bezogen auf die Regelung des passiven Wahlrechts in einem Kommunalwahlgesetz bedeutet dieser Grundsatz, daß auch den Kandidaten lediglich kommunale Interessen verfolgender Wählergruppen (Rathausparteien oder Wählervereinigungen) eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen gewährleistet werden muß. Art. 28 Abs. 2 GG gebietet, daß die Verwaltung der kommunalen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft allen Bürgern in gleicher Weise anvertraut wird, ohne Rücksicht darauf, ob sie parteipolitisch gebunden sind oder nicht. Es verstößt deshalb gegen den Grundsatz der gleichen Wahl, wenn die angegriffenen Bestimmungen die Erfolgsaussichten eines nicht von einer politischen Partei aufgestellten Bewerbers von vornherein dadurch beschneiden, daß er nicht auch auf einer Reserveliste kandidieren kann.
Auch unter diesem Blickpunkt verstoßen die §§ 16 Abs. 1 und 29 Satz 2 und 3 KWG gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
4. Die Feststellung, daß das Listenprivileg der politischen Parteien auf kommunaler Ebene mit dem sich aus Art. 3 Abs. 1 und 28 Abs. 2 GG ergebenden Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar ist, ergibt sich folgerichtig aus dem Beschluß des Gerichts vom 12. Juli 1960. Damit weicht das Gericht nicht von den Grundsätzen ab, die es in ständiger Rechtsprechung zur Bedeutung der politischen Parteien auf Bundes- und Landesebene, aber auch auf kommunaler Ebene entwickelt hat; dies gilt insbesondere auch für die Urteile vom 23. Januar 1957 (BVerfGE 6, 104 ff., 121 ff.), in denen die hier streitige Frage nicht zu entscheiden war.
5. Diese Ergebnisse können nicht durch den Hinweis der Landesregierung in Frage gestellt werden, daß die auf Bundes- und Landesebene bestehenden politischen Parteien nach 1945 stärker als vor 1933 in den Gemeinden Fuß gefaßt haben und insbesondere in den größeren Gemeinden und Landkreisen überwiegend die Willensbildung der Bürger formen und in die Tat umsetzen. Diese tatsächliche Entwicklung rechtfertigt jedoch nicht, den politischen Parteien besondere Wahlrechtsprivilegien zu gewähren.
Art. 28 Abs. 2 GG hindert nicht, daß die politischen Parteien in den kommunalen Raum vordringen und die "eigentlich motorischen Kräfte der Kommunalwahlen" sind. Andererseits garantiert Art. 28 Abs. 2 GG, unbeschadet des Wandels, den der Begriff der Selbstverwaltung im Laufe von nahezu eineinhalb Jahrhunderten erfahren hat (Beschluß vom 12. Juli 1960), einen Kernbestand der Selbstverwaltung und verbietet, die tatsächliche Vorherrschaft der politischen Parteien in den Selbstverwaltungskörperschaften zu Lasten der Wählergruppen (Rathausparteien und Wählervereinigungen) durch Wahlrechtsprivilegien institutionell zu verfestigen. Art. 28 Abs. 2 GG läßt nur zu, daß die politischen Parteien ihre Vorherrschaft im kommunalen Raum in fairem Wettbewerb gegen Wählergruppen erringen und stets aufs neue behaupten.
6. Der Hinweis auf Art. 21 GG, der die zentrale Stellung der Parteien im heutigen staatlichen Willensbildungsprozeß anerkennt, vermag das Listenprivileg der politischen Parteien auf kommunaler Ebene nicht zu rechtfertigen, da jedenfalls aus Art. 28 Abs. 2 GG folgt, daß allen im örtlichen Bereich wirkenden gruppenmäßig zusammengefaßten Kräften die Möglichkeit eröffnet sein soll, in grundsätzlich gleicher Weise an der öffentlichen Verwaltung der Gemeinden und Kreise teilzunehmen.
Auch das Bedenken, daß die Aufhebung des Listenprivilegs der politischen Parteien zu einer Wiederbelebung verfassungsfeindlicher Betätigung verbotener politischer Organisationen auf kommunaler Ebene führen werde, greift nicht durch, da der Staat über die notwendigen Machtmittel verfügt, um solcher Betätigung wirksam zu begegnen.
Schließlich ist die Aufstellung einer Liste nur sinnvoll, wenn sich die auf ihr zusammengefaßten Bewerber durch ein gemeinsames Programm verbunden fühlen. Diese Voraussetzung kann aber auch von örtlichen Wählergemeinschaften und Rathausparteien erfüllt werden, die, wie die Erfahrung zeigt, nicht notwendig Zufallsbildungen heterogener Elemente von kurzer Lebensdauer sein müssen, mag ihre Zielsetzung sich auch auf die Gestaltung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft beschränken und die Bundes- und Landespolitik, soweit diese keinen unmittelbaren Bezug zur Kommunalverwaltung hat, bewußt ausklammern.
Das letzte Urteil darüber, von wem die Interessen der örtlichen Gemeinschaft im Einzelfall am besten wahrgenommen werden, muß daher in einer freiheitlichen Demokratie dem Bürger überlassen bleiben.