BVerfGE 12, 276 - Politische Bildungsarbeit
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 15. März 1961
– 2 BvQ 3/60 –
in dem Verfahren über den Antrag, durch einstweilige Anordnung dem Bundesminister des Innern aufzugeben, bis zur Entscheidung über die Anträge in dem Verfahren 2 BvE 1/60 keine Zahlungen an die politischen Parteien für politische Bildungsarbeit zu leisten. Antragsteller: Gesamtdeutscher Block/BHE, Bevollmächtigte: Rechtsanwälte ...
 
Entscheidungsformel:
Der Antrag wird abgelehnt.
 
Gründe:
 
A. – I.
1. Im Bundeshaushalt für die Rechnungsjahre 1959 und 1960 ist jeweils im Einzelplan 06 für den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern im Kapitel 0602 unter dem Titel 620 ein Betrag von 5 000 000 DM zur Förderung der politischen Bildungsarbeit der Parteien angesetzt. Die Mittel sind übertragbar. Sie waren zunächst gesperrt und dürfen ausweislich der Zweckbestimmung nur mit Zustimmung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages ausgegeben werden. Der Haushaltsausschuß hat in seiner 107. Sitzung am 10. Februar 1960 einstimmig beschlossen:
    1. Der Titel 620 bei Kapitel 0602 soll für das Rechnungsjahr 1959 entsperrt werden. Die Aufteilung erfolgt auf die im Bundestag vertretenen Parteien nach dem Schlüssel ihrer Stärke im Bundesparlament.
    2. Die Überweisung erfolgt auf ein Sonderkonto der Bundeszentralen der Parteien. Zwei verantwortliche Vertreter der Parteien bestätigen der Bundesregierung für die Bundesvorstände schriftlich den Empfang der Mittel für den im Bundeshaushalt genannten Verwendungszweck. Die Parteien verwenden die Mittel ohne besondere ministerielle Verwendungsrichtlinien in eigener Verantwortung. Sie geben dem Präsidenten des Bundesrechnungshofs spätestens sechs Monate nach Schluß des Rechnungsjahres einen schriftlichen Bericht über die Verwendung des Betrages.
2. Der Gesamtdeutsche Block/BHE, der im Bundestag nicht durch Abgeordnete vertreten ist, beantragte mit Schreiben vom 29. Februar 1960 bei dem Bundesminister des Innern, daß der GB/BHE in den Kreis der Empfänger von Sondermitteln für die politische Bildungsarbeit einbezogen werde. Der Bundesminister des Innern antwortete mit Schreiben vom 5. April 1960, daß nach dem Beschluß des Haushaltsausschusses vom 10. Februar 1960 die für das Rechnungsjahr 1959 zur Verfügung stehenden Mittel auf die im Bundestag vertretenen Parteien nach dem Schlüssel ihrer Stärke im Bundesparlament aufgeteilt werden sollten, und daß für den Haushalt 1960 die gleiche Regelung zu erwarten sei. Bei dieser Rechtslage könne der GB/BHE nicht berücksichtigt werden.
II.
1. Der GB/BHE hat daraufhin mit Antrag vom 15. Juni 1960 eine Organklage gegen den Deutschen Bundestag, den Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages und den Bundesminister des Innern erhoben, mit der er die Feststellung begehrt, daß der "Ansatz in dem Titel 620 im Kapitel 0602 der Haushaltsgesetze 1959 und 1960 in Verbindung mit dem Beschluß des Haushaltsausschusses vom 10. Februar 1960 und der Bescheid des Bundesministers des Innern vom 5. April 1960 gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen". Der GB/BHE, der Landtagsabgeordnete Frank Seiboth und der Landesminister Gotthold Franke haben ferner mit dem gleichen Ziel Verfassungsbeschwerden eingelegt.
Die Anträge werden im wesentlichen wie folgt begründet: Der Sinn des Haushaltsansatzes sei offenbar, die politischen Parteien bei der Erfüllung der ihnen durch das Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben finanziell zu unterstützen. Die Verweigerung dieser Unterstützung für den GB/BHE verletze den Grundsatz der Chancengleichheit. Der GB/BHE sei an vier Landesregierungen und damit an der Beschlußfassung im Bundesrat beteiligt. Obwohl er bei der Bundestagswahl im Jahre 1957 an der 5 %-Klausel gescheitert sei, komme er für die nächste Bundestagswahl wiederum als ernsthafter Bewerber um Bundestagsmandate in Betracht. Deshalb müsse er bei der Vergabe der Mittel für die politische Bildungsarbeit der politischen Parteien berücksichtigt werden.
2. Der GB/BHE hat ferner beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung dem Bundesminister des Innern aufzugeben, bis zur Entscheidung über die Hauptsache keinerlei Zahlungen an die politischen Parteien für "politische Bildungsarbeit" zu leisten. Zur Begründung trägt er im wesentlichen vor: Die finanzielle Begünstigung der im Bundestag vertretenen Parteien beeinträchtige den GB/BHE in seinem Recht auf Chancengleichheit. Sie müsse in einem Wahljahr zu Nachteilen führen, die nicht mehr auszugleichen seien. Die politische Aufklärungs- und Werbearbeit sei ohne erhebliche finanzielle Aufwendungen nicht möglich. Jede Benachteiligung oder Bevorzugung einer politischen Partei bei der Vergabe von Mitteln für die politische Bildungsarbeit beeinträchtige die freie Meinungsbildung des Wählers. Der Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung sei daher auch zum gemeinen Wohl dringend geboten.
Der Bundesminister des Innern hält die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht für gegeben. Über die im Bundeshaushalt 1960 unter Kapitel 0602 Titel 620 ausgewiesenen Mittel werde bis zur Entscheidung über die Hauptsache nur insoweit verfügt, daß der GB/BHE im Falle seines Obsiegens in der Hauptsache auch noch nachträglich berücksichtigt werden könne. Im übrigen seien im Rahmen des § 32 BVerfGG nicht nur die Belange des jeweiligen Antragstellers, sondern auch die der Allgemeinheit zu berücksichtigen. Die Haushaltsmittel sollten es den dazu berufenen Parteien ermöglichen, an der politischen Bildung und Vertiefung der staatsbürgerlichen und demokratischen Gesinnung des deutschen Volkes mitzuwirken. Die Erfüllung dieser, die parteipolitischen Zwecke überragenden Aufgabe würde durch den Erlaß der von dem GB/BHE beantragten einstweiligen Anordnung ernsthaft gefährdet werden.
 
B. – I.
Das Bundesverfassungsgericht kann nach § 32 Abs. 1 BVerfGG im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grunde zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
Über die Verfassungsmäßigkeit der vom Beschwerdeführer angegriffenen staatlichen Akte kann in diesem Verfahren nicht entschieden werden, da in dem Verfahren über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen werden darf.
Die meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, machen es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts notwendig, bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG vorliegen, einen strengen Maßstab anzulegen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht ergeht, die angegriffenen Maßnahmen in dem späteren Verfahren jedoch für verfassungswidrig erklärt werden, gegen die Nachteile, die entstehen würden, wenn die angegriffene Regelung vorläufig außer Anwendung gesetzt würde (BVerfGE 3, 34 [37]; 3, 41 [44]; 6, 1 [4]; 11, 102 [104]; 11, 306 [308 f.]).
II.
Im vorliegenden Fall kommt der mit der Aussetzung des Gesetzesvollzuges drohenden Beeinträchtigung des gemeinen Wohls das größere Gewicht zu. Es kann dahingestellt bleiben, ob die fraglichen Haushaltsmittel lediglich dazu bestimmt sind, es den politischen Parteien zu erleichtern, sich neben anderen vom Staat zum gleichen Zweck mit öffentlichen Mitteln versehenen Institutionen in den Dienst der staatsbürgerlichen Erziehung zu stellen. Selbst wenn man mit dem Antragsteller der Auffassung ist, daß sie in erster Linie dazu dienen sollen, die Parteien bei der ihnen durch Art. 21 GG zugewiesenen Aufgabe finanziell zu unterstützen, es sich also um eine staatliche Parteienfinanzierung im eigentlichen Sinn handelt, vermag das Interesse des GB/BHE an einer alsbaldigen Beseitigung seiner Benachteiligung den Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung nicht zu rechtfertigen.
Bei der Prüfung des Antrags auf den Erlaß einer einstweiligen Anordnung sind nicht nur das Interesse des Antragstellers, sondern "alle in Frage kommenden Belange" und "widerstreitenden Interessen" zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen (BVerfGE 1, 85 [86]; 3, 34 [37]). Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, daß es mit Rücksicht auf die entscheidende Rolle, die den Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes, insbesondere bei der Wahlvorbereitung, zukommt, verfassungsrechtlich zulässig ist, den die Wahlen tragenden politischen Parteien finanzielle Mittel von Staats wegen zur Verfügung zu stellen (BVerfGE 8, 51 [63]). Die Aussetzung des Vollzugs einer solchen Maßnahme, die es den begünstigten Parteien ermöglicht, ihrer Aufgabe als Verfassungsorgan unabhängiger von sachfremden Finanzierungsquellen als zuvor gerecht zu werden, würde das Gemeinwohl auch und zwar mehr beeinträchtigen als der möglicherweise vorübergehende Ausschluß einer im Bundestag nicht vertretenen Partei von der staatlichen Finanzierung.
Im übrigen werden nach der Erklärung des Bundesministers des Innern von den im Bundeshaushalt 1960 unter Kapitel 0602 Titel 620 ausgewiesenen Mitteln bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Hauptsache Zahlungen nur in einem Umfange geleistet, der es gestattet, den Antragsteller im Falle seines Obsiegens in der Hauptsache noch nachträglich zu berücksichtigen. Der GB/BHE läuft also, wenn er in der Hauptsache obsiegen wird, lediglich Gefahr, daß ihm ein Anteil an den Sondermitteln später ausgezahlt wird als den im Bundestag vertretenen Parteien. Dieser dem GB/BHE drohende Nachteil aber wiegt nicht so schwer wie die mit der Aussetzung der staatlichen Unterstützung der politischen Parteien drohende Beeinträchtigung des allgemeinen Wohls.