BVerfGE 25, 352 - Gnadengesuch
Zur Frage der Justitiabilität von Gnadenentscheidungen (Art. 19 Abs. 4 GG).
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 23. April 1969
- 2 BvR 552/63 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des ... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt ... - gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts München vom 4. Oktober 1963 - VAs 5/64
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
 
Gründe
 
A. - I.
1. Der Beschwerdeführer ist durch Urteil des Amtsgerichts Ingolstadt vom 14. Mai 1962 wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtstrafe von 3 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Das Gericht hatte die Bewilligung einer Bewährungsfrist gemäß § 23 StGB abgelehnt, weil nach seiner Auffassung keine begründete Erwartung für ein künftiges gesetzmäßiges Verhalten des Beschwerdeführers, der kurz vorher, und zwar am 10. und 19. Februar sowie am 5. April 1962 einmal wegen Unterschlagung und zweimal wegen Betruges bestraft worden war, bestand. Der Beschwerdeführer verzichtete auf Rechtsmittel gegen das Urteil, das damit rechtskräftig wurde.
Am 9. Juli 1962 reichte der Beschwerdeführer ein Gnadengesuch ein. Er machte geltend, er sei durch Not zu der Straftat getrieben worden. Der Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht München lehnte das Gesuch gemäß § 13 Abs. 2 der Bayerischen Gnadenordnung ab. Auf Anrufung durch den Beschwerdeführer entschied das Staatsministerium der Justiz, daß es bei der Entschließung des Generalstaatsanwalts sein Bewenden habe. Eine Eingabe bei dem Bayerischen Landtag blieb gleichfalls erfolglos.
2. Nunmehr erhob der Beschwerdeführer beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage gegen den Freistaat Bayern mit dem Antrag, die Entschließungen des Generalstaatsanwalts bei dem Oberlandesgericht München und des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz aufzuheben und den Beklagten für verpflichtet zu erklären, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verbescheiden. Er vertrat die Auffassung, daß die Ablehnung eines Gnadenerweises einen Verwaltungsakt im Sinne des § 40 VwGO darstelle und kam unter Heranziehung der Rechtsprechung und Literatur zur Frage der Justitiabilität von Gnadenentscheidungen zu dem Ergebnis, eine solche Entscheidung unterliege der gerichtlichen Nachprüfung hinsichtlich der fehlerfreien Ausübung des Ermessens. In seinem Fall sei das Ermessen mißbräuchlich ausgeübt worden.
In der Stellungnahme zur Klageschrift wies das Bayerische Staatsministerium der Justiz nach Erörterung der Frage der Justitiabilität von Gnadenentscheidungen darauf hin, daß nach § 19 Abs. 2 Satz 3 der Bayerischen Gnadenordnung Gnadenakten vertraulich zu behandeln seien und der Akteneinsicht nicht unterlägen, so daß die Gnadenakten nicht übersandt werden könnten. Unter Bezugnahme hierauf beantragte der Vertreter des Beschwerdeführers eine gerichtliche Entscheidung nach § 99 Abs. 2 VwGO darüber, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Weigerung des Beklagten, die Gnadenakten vorzulegen, nicht gegeben seien.
Ehe hierüber entschieden war, verwies das Verwaltungsgericht auf Antrag des Beschwerdeführers die Sache an das Oberlandesgericht München mit der Begründung, es komme zwar zu der Auffassung, daß ablehnende Gnadenentscheidungen gerichtlich nachprüfbar seien, hier handle es sich indessen um die Entscheidung einer Justizbehörde, für deren Nachprüfung nach § 23 Abs. 1 EGGVG das Oberlandesgericht zuständig sei.
Im Verfahren vor dem Oberlandesgericht äußerte sich nur die Staatsanwaltschaft mit einem Schriftsatz vom 1. August 1963, in dem sie ihren schon beim Verwaltungsgericht vertretenen Standpunkt, Gnadenentscheidungen seien nicht justitiabel, wiederholte und auf weitere Belege aus Rechtsprechung und Literatur hinwies. Dieser Schriftsatz ist dem Beschwerdeführer nicht mitgeteilt worden. Seinem Antrag, "wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage" eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, wurde nicht stattgegeben.
Durch Beschluß vom 4. Oktober 1963 verwarf das Oberlandesgericht München den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig. Zur Begründung führte es aus: Eine mündliche Verhandlung sei im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG nicht vorgesehen; zu einer persönlichen Anhörung des Beschwerdeführers habe kein Anlaß bestanden. Der Antrag nach § 99 VwGO sei durch die Verweisung gegenstandslos geworden; im Verfahren vor dem Oberlandesgericht habe der Beschwerdeführer Akteneinsicht nicht beantragt. Der Antrag in der Sache selbst sei unzulässig. Ein solcher Antrag setze nach § 24 EGGVG voraus, daß der Antragsteller durch die angefochtenen Maßnahmen in seinen Rechten verletzt sei. Bei der angefochtenen Entscheidung handle es sich um eine Gnadenentschließung, die keinen gerichtlich nachprüfbaren Justizverwaltungsakt darstelle; denn auf einen Gnadenerweis bestehe kein Rechtsanspruch. Dieser Standpunkt sei in Rechtsprechung und Literatur vorherrschend.
3. Gegen diesen Beschluß hat der Beschwerdeführer fristgerecht Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt Verletzung der Art. 103 Abs. 1, 20 und 28 sowie des Art. 19 Abs. 4 GG und macht zur Begründung geltend:
a) Das Oberlandesgericht habe seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verletzt, daß es ihm keine Akteneinsicht gewährt, ihm den Schriftsatz der Staatsanwaltschaft vom 1. August 1963 nicht zugeleitet und keine mündliche Verhandlung anberaumt habe.
b) Ablehnende Gnadenentscheidungen müßten gerichtlich nachprüfbar sein.
Die Auffassung, die Gnade sei ein Akt der Barmherzigkeit und des Wohlwollens, könne unter der heute geltenden Rechtsordnung nicht mehr vertreten werden. Irrationale Gnadenmotive seien in einem Rechtsstaat mit funktionsbezogenen Staatsgewalten ausgeschlossen.
Die im Strafurteil oft nicht mögliche und erst durch den Gnadenakt erfolgende Würdigung tragischer Konfliktsituationen könne nicht mehr als "wohlwollende Gunst", sondern nur noch als Aufgabe der Findung des Rechts selbst verstanden werden. Die Argumentation zugunsten des außerrechtlichen Charakters und damit der Bindungslosigkeit der Gnade sei im Grunde schon deshalb nicht überzeugend, weil sie an konstitutionelle Anschauungen anknüpfe, ohne die damals gültige Begründung aufnehmen zu können.
Der Gnadenakt sei der vollziehenden Gewalt zuzuordnen. Entscheidend für die Versagung oder Gewährung des Rechtsschutzes sei nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht mehr die begriffliche Einordnung einer hoheitlichen Maßnahme in die übernommenen Gruppen der Verwaltungs- oder Regierungsakte, sondern allein die Frage, ob "jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt" werde. Ein "gerichtsfreier" Akt der öffentlichen Gewalt im Bereich des Art. 19 Abs. 4 GG sei nicht vorstellbar.
c) In einem Schriftsatz vom 31. Juli 1964 hat der Beschwerdeführer zusätzlich noch gerügt, die angefochtene Entscheidung verletze auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; denn wenn es sich - wie das Oberlandesgericht annehme - um eine Maßnahme der vollziehenden Gewalt gehandelt habe, so hätte das Verwaltungsgericht entscheiden müssen.
4. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat sich wie folgt geäußert:
Der Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung des rechtlichen Gehörs sei nicht verletzt. Daß das Oberlandesgericht eine Nachprüfung der Gnadenentscheidung abgelehnt habe, verstoße nicht gegen Art. 19 Abs. 4 GG.
Die Gnade stehe nicht nur außerhalb der Rechtsordnung, sondern sie richte sich ganz bewußt gegen die Rechtsordnung als ein Befehl "contra legem". Der Eingriff der Gnade in das Gefüge der Rechtsordnung sei ein irrationaler, rechtlich nicht greifbarer Vorgang. Die Gnade wisse von keinem Zwang, nicht einmal von dem Zwang der Gerechtigkeit (Radbruch). In diesem Sinn lasse sich sagen, daß zwar eine positive Gnadenentscheidung stets die Rechtsordnung als solche verletze, dagegen eine negative Gnadenentscheidung die Rechtsordnung und damit die Rechte des einzelnen gerade nicht berühre. Im Gnadenverfahren sei auch kein Raum für Beanstandungen wegen Ermessensmißbrauchs. Die Rechtsordnung prüfe Ermessensverstöße nur in bezug auf Entscheidungen, denen selbst Rechtswert zukomme. Dagegen vermöge die Rechtsordnung keine Regeln dafür aufzustellen, in welchen Fällen es ermessensmißbräuchlich, also rechtswidrig wäre, die rechtmäßige Ordnung durch einen ablehnenden Gnadenbescheid aufrechtzuerhalten.
II.
Gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bestehen keine Bedenken.
Zwar macht der Beschwerdeführer auch die Verletzung der Art. 20 und 28 GG, die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG nicht aufgeführt sind, geltend. Das ist indessen unschädlich, da sich die Verfassungsbeschwerde im übrigen zulässigerweise auf Art. 103 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG stützt. Die Rüge aus Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG ist verspätet (vgl. BVerfGE 18, 85 [89]).
 
B.
1. Der angefochtene Beschluß verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Es kann dahingestellt bleiben, ob das Oberlandesgericht den Antrag nach § 99 VwGO als einen Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht ansehen und entsprechend hätte behandeln müssen. Jedenfalls beruht die angefochtene Entscheidung nicht auf dem vom Oberlandesgericht eingeschlagenen Verfahren. Die Gnadenakten ergeben nichts, was für die Entscheidung der allgemeinen Frage, ob die Ablehnung eines Gnadenerweises gerichtlich nachprüfbar ist, von Bedeutung sein könnte. Das Oberlandesgericht hat den Gnadenakten ersichtlich keinerlei Tatsachen oder Beweisergebnisse entnommen und verwertet.
2. Das Oberlandesgericht hätte an sich den Schriftsatz der Staatsanwaltschaft vom 1. August 1963 dem Beschwerdeführer mitteilen müssen. Indessen kann die Entscheidung auch auf dieser Unterlassung nicht beruhen. Der Schriftsatz vom 1. August 1963 enthielt ausschließlich Rechtsausführungen zur Frage der gerichtlichen Nachprüfbarkeit von Gnadenakten. Sie war schon im Verwaltungsgerichtsverfahren auf beiden Seiten erörtert worden. Zwar brachte der Schriftsatz vom 1. August 1963 noch einige weitere Literaturnachweise. Der Beschwerdeführer hätte ihm aber nichts anderes entgegensetzen können als Wiederholungen aus dem Schrifttum, das auch vom Oberlandesgericht sorgfältig geprüft und verwertet worden ist. Unter diesen Umständen kann ausgeschlossen werden, daß eine weitere Äußerung des Beschwerdeführers das Oberlandesgericht zu einer anderen Entscheidung hätte veranlassen können.
3. Ein Recht auf mündliche Verhandlung wird nicht schon durch den Anspruch auf rechtliches Gehör begründet; es ist Sache des Gesetzgebers, wie weit er in einem bestimmten Verfahren einen Anspruch auf mündliche Verhandlung geben will (BVerfGE 5, 9 [11]). In dem in Frage kommenden Verfahren vor dem Oberlandesgericht ist eine mündliche Verhandlung nicht vorgesehen (§ 29 Abs. 2 EGGVG, § 309 Abs. 1 StPO).
 
C.
Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, daß die Ablehnung eines Gnadenerweises nach Art. 19 Abs. 4 GG der gerichtlichen Nachprüfung unterliege. Bei der Entscheidung dieser Frage ergab sich im Senat Stimmengleichheit. Infolgedessen kann gemäß § 15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG nicht festgestellt werden, daß der angefochtene Beschluß gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstößt.
I.
Nach der die Entscheidung gemäß § 15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG tragenden Auffassung gilt Art. 19 Abs. 4 GG für ablehnende Gnadenentscheidungen nicht.
1. Der Grundgesetzgeber hat in Art. 60 Abs. 2 GG das Institut des Begnadigungsrechts in seinem historisch überkommenen Sinn übernommen. Art. 60 Abs. 2 GG ist dem Art. 49 Abs. 1 WRV nachgebildet, der seinerseits an den Rechtszustand im Kaiserreich anknüpfte. Er enthält keine Neuordnung des Gnadenwesens. Auch die Entstehungsgeschichte spricht dafür, daß es nicht neu gestaltet werden sollte. Im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates wurde über den Inhalt des Begnadigungsrechts nicht diskutiert; man setzte ihn als selbstverständlich voraus. Erörtert wurden nur Probleme der Amnestie. In dem Bericht an das Plenum wies der Vorsitzende des Hauptausschusses darauf hin, daß die Stellung des Bundespräsidenten wesentlich schwächer sei als die des Reichspräsidenten, daß ihm aber gewisse Befugnisse des Reichspräsidenten, darunter das Begnadigungsrecht, "geblieben" seien.
Dasselbe gilt für die Landesverfassungen. Weder der Wortlaut der Bestimmungen über das Gnadenrecht noch die Materialien zu diesen Bestimmungen enthalten einen Anhaltspunkt dafür, daß an dem überkommenen Inhalt des Gnadenrechts etwas hätte geändert werden sollen. Irgendein Zweifel an der Berechtigung des traditionellen Gnadeninstituts im gewaltenteilenden Rechtsstaat trat bei den Verfassungsberatungen nicht hervor.
2. Das Begnadigungsrecht, wie es das Grundgesetz in Art. 60 Abs. 2 kennt, besteht in der Befugnis, im Einzelfall eine rechtskräftig erkannte Strafe ganz oder teilweise zu erlassen, sie umzuwandeln oder ihre Vollstreckung auszusetzen. Es eröffnet die Möglichkeit, eine im Rechtsweg zustande gekommene und im Rechtsweg nicht mehr zu ändernde Entscheidung auf einem "anderen", "besonderen" Weg zu korrigieren.
Im deutschen Rechtsbereich trat das Gnadenrecht mit der Entstehung des Königtums in Erscheinung. Es wurde zwar nicht mehr von kultisch-sakralen Vorstellungen getragen, war aber auf das engste mit der Person des Herrschers und seinem Gottesgnadentum verknüpft und noch von der Weihe einer charismatischen Barmherzigkeit und Gnadengesinnung erfüllt. Im übrigen lag es, soweit die richterliche Gewalt als Bestandteil und Ausfluß der Herrschergewalt angesehen wurde, nahe, dem Herrscher den Eingriff durch "Gnade" in jeder Rechtssache vorzubehalten.
Daneben entwickelte sich in der mittelalterlichen Erscheinung des "Richtens mit Gnade" oder "nach Gnade" eine Form, bei der die Begnadigung mit dem Akt des Richters selbst verbunden, also diesem mitüberlassen wurde. Diese Erscheinung hatte aber keinen Bestand, nicht nur weil sie wegen der für zulässig gehaltenen Auferlegung einer dem Richter zufließenden Buße zur Verwilderung des Gnadenwesens führte, sondern vor allem, weil sich mit der zunehmenden Stärkung der landesherrlichen Gewalt der Grundsatz durchsetzte, daß das Begnadigungsrecht nur dem Landesherrn zustehe. Im Zuge dieser Entwicklung lag es, daß das Begnadigungsrecht in allen Verfassungen der deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts und auch in der Verfassung des Kaiserreiches als Prärogative des Monarchen anerkannt wurde. Mit dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und mit der Ausbildung einer von der Staatsgewalt im übrigen getrennten und vom Herrscher unabhängigen rechtsprechenden Gewalt erhielt die Begnadigung neben ihrem ursprünglichen Sinn auch die Bedeutung eines Mittels, Härten des Strafgesetzes ausgleichen und Zweifeln an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Entscheidungen gerecht werden zu können. Gleichwohl lag über dem Begnadigungsrecht des Monarchen noch ein Abglanz des charismatischen Geistes; der Monarch übte sein Gnadenrecht auch aus Anlaß besonderer Ereignisse in der Herrscherfamilie oder aus anderen mit seiner Person verbundenen Anlässen aus, wie etwa bei der Einzelbegnadigung von 24 000 Zivilpersonen durch Kaiser Wilhelm II. anläßlich seines 25. Regierungsjubiläums (vgl. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, 1930, II. Band, S. 574).
Dadurch, daß die Weimarer Reichsverfassung das Gnadeninstitut übernommen und das Begnadigungsrecht ohne nähere Umschreibung und Normierung auf das demokratische Staatsoberhaupt übertragen hat, mußte allerdings das irrationale Element entfallen, das in einer modernen demokratischen Gesellschaft keinen Platz haben kann. Das Begnadigungsrecht erfüllte nur noch die Funktion, Härten des Gesetzes, etwaige Irrtümer der Urteilsfindung sowie Unbilligkeiten bei nachträglich veränderten allgemeinen oder persönlichen Verhältnissen auszugleichen. So wird es von der Allgemeinheit verstanden und für notwendig gehalten. Es wurde zum Korrelat der Strafe.
3. Der Grundgesetzgeber stand vor der Frage, in welcher Form das Gnadenrecht als notwendiges Korrelat der Strafgerichtsbarkeit gestaltet werden sollte. Ein Ausgleich für Härten und Unbilligkeiten von strafgesetzlichen Entscheidungen läßt sich in verschiedener Weise verwirklichen.
Ihering (Der Zweck im Recht, I (1884), S. 427 ff.) schlug die Einsetzung eines höchsten Gerichtshofs für Gnadensachen vor, eines "Gerechtigkeitsgerichtshofs", der durch die Art seiner Besetzung "jede Besorgnis, daß er jemals ein Werkzeug in den Händen der Willkür der Staatsgewalt werden könne", von vornherein ausschlösse. In dieser Richtung bewegen sich auch die Überlegungen zu einer Neuordnung des Gnadenrechts in Österreich. Sie gehen davon aus, daß nur eine eingehende Regelung der Bedingungen für die Handhabung des Gnadenrechts, eine einwandfreie Determinierung der Gnadenbefugnisse "die Spannungen, denen das Gnadenrecht aus der Sicht des Gleichheitsprinzips, des demokratischen Prinzips und der Rechtssicherheit ausgesetzt ist", lösen und daß die Übertragung des Begnadigungsrechts an die Gerichte - sei es das erkennende Gericht selbst, mit einer nachprüfenden Kontrolle durch ein übergeordnetes Gericht, oder an ein zentrales richterliches Kollegium - eine weitere Sicherheit geben könne (vgl. Klecatsky, Die staatsrechtlichen Wurzeln des Gnadenrechts, (Österreichische) Juristische Blätter, 89. Jahrgang 1967, Seite 445 ff.). Hierin läge in der Tat eine echte "Verrechtlichung der Gnade".
Der Grundgesetzgeber hat diesen Weg nicht beschritten, sondern es bei der historisch überkommenen Gestaltung des Begnadigungsrechts belassen. Das Grundgesetz knüpft die Ausübung des Begnadigungsrechts nicht an bestimmte normative Voraussetzungen. Es legt dem Gesetzgeber nicht auf, solche Voraussetzungen zu schaffen und eröffnet nicht einmal die Möglichkeit hierzu, da dies eine Bindung und Beschränkung bedeuten würde, die nach der unbedingten Übertragung des Begnadigungsrechts auf den Bundespräsidenten - in den Ländern auf die Landesregierung oder den Ministerpräsidenten - nicht zulässig wäre. Dementsprechend sind auch keine gesetzlichen Regelungen des Gnadenrechts getroffen worden; die sogenannten Gnadenordnungen stellen lediglich verwaltungsinterne Weisungen über das Verfahren dar. Auch in der gemäß Art. 95 Abs. 2 der Verfassung des Saarlandes ergangenen gesetzlichen Regelung vom 2. März und 5. August 1948 und in dem trotz Art. 103 Abs. 1 der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz ergangenen rheinland-pfälzischen Gesetz über die Neuregelung des Gnadenrechts vom 15. April 1948 sind materiellrechtliche Bestimmungen nicht getroffen worden.
4. Art. 60 Abs. 2 GG begründet demnach eine dem Amte des Trägers des Begnadigungsrechts eigene Befugnis, da helfend und korrigierend einzugreifen, wo die Möglichkeiten des Gerichtsverfahrens nicht genügen. Das hat zur Folge, daß der Gnadenakt - wie immer man ihn rechtlich auch charakterisieren mag, etwa als Verzicht, Befehl oder Dispens - in jedem Fall einen Eingriff der Exekutive in die rechtsprechende Gewalt bedeutet, wie er sonst dem Grundsatz der Gewaltenteilung fremd ist. Das Grundgesetz hat jedoch dadurch, daß es das Begnadigungsrecht in dem geschichtlich überkommenen Sinn übernommen und auf ein Organ der Exekutive übertragen hat, die Gewaltenteilung modifiziert und im Bereich der Einzelbegnadigung dem Träger des Gnadenrechts eine Gestaltungsmacht besonderer Art verliehen. Das Gnadeninstitut kann daher nicht den Sicherungen, den Gewaltenverschränkungen und -balancierungen unterliegen, die gewährleisten sollen, daß Übergriffe der Exekutive durch Anrufung der Gerichte abgewehrt werden können. Aus dem System und dem Gesamtgefüge des Grundgesetzes ergibt sich, daß Art. 19 Abs. 4 GG für Gnadenentscheidungen nicht gilt. Mit der fast einhelligen Rechtsprechung (vgl. BVerwGE 14, 73 ff.) und der herrschenden Meinung im Schrifttum (vgl. z.B. K. Peters, Strafprozeßrecht, 1966, S. 610) ist demgemäß davon auszugehen, daß ebenso wie positive Gnadenakte auch ablehnende Gnadenentscheidungen einer gerichtlichen Nachprüfung nicht unterliegen.
Da sich der Ausschluß der Anfechtbarkeit derartiger Gnadenentscheidungen aus dem Grundgesetz selbst ergibt, bedarf es keiner Erörterung der Frage, ob ein solcher Akt der öffentlichen Gewalt den Einzelnen überhaupt in seinen Rechten verletzen kann.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß durch Delegation der Begnadigungsbefugnis an untere Instanzen und eingehende Verfahrensvorschriften in Gnadenordnungen das Gnadenwesen bürokratisiert und zu "kleiner Münze" (Dürig) geschlagen und damit auf die Stufe normaler Verwaltungsakte herabgedrückt worden sei, und daß ablehnende Gnadenentscheidungen jedenfalls insoweit gerichtlich nachprüfbar sein müßten. Zwar haben die Träger des Begnadigungsrechts im Bund und in den Ländern ihre Befugnis delegiert, und zwar auf die Fachminister, zum weit überwiegenden Teil der Gnadensachen also auf die Justizminister. Eine weitere Delegation auf "untere Instanzen" ist aber - mit Ausnahme der Strafaussetzung zur Bewährung - nicht erfolgt. Sowohl in den Bundesländern, in denen noch die Gnadenordnung von 1935 angewandt wird, als auch in den Ländern, in denen neue Gnadenordnungen erlassen wurden, ist den unteren Instanzen, seien es die Generalstaatsanwälte oder die Oberstaatsanwälte, nur die Befugnis eingeräumt, gegebenenfalls ein Gnadengesuch "im Namen des Justizministers" abzulehnen. Es ist also in jedem Fall die Anrufung des Justizministers möglich, der über die Gewährung oder die Ablehnung eines Gnadenerweises entscheidet. Im übrigen darf auch nicht die Eigenart der Einzelbegnadigung außer Betracht gelassen werden. Zu dieser Eigenart gehört, daß ein Gnadenakt ohne Antrag, ohne Zustimmung, ohne Billigung und sogar gegen den Willen des Begünstigten ergehen kann. Zu seinen Besonderheiten gehört weiter, daß ein Recht auf einen Gnadenerweis nicht besteht. Ein solches Recht kann daher nicht verletzt werden. Für eine gerichtliche Nachprüfbarkeit der Ermessensfreiheit fehlt es angesichts der denkbaren Motivationen an greifbaren Maßstäben. Es war deshalb durchaus folgerichtig, daß der Grundgesetzgeber die gerichtliche Nachprüfbarkeit ablehnender Gnadenakte ausschloß und etwaige Mißbräuche bei der Handhabung des Gnadenrechts der politischen Verantwortlichkeit der Verfassungsorgane überantwortete.
II.
Nach Auffassung der vier dissentierenden Richter eröffnet Art. 19 Abs. 4 GG den Rechtsweg gegen willkürliche Gnadenentscheidungen.
1. Vom Grundgesetz ist das Begnadigungsrecht nicht als ein aus dem jus eminens fließendes, das Gewaltenteilungsprinzip aufhebendes Verfassungsinstitut übernommen worden. Die frühere Vorstellung, daß eine mit einem besonderen Charisma begabte Persönlichkeit nach ihrem Gutdünken einen justizfreien Gnadenakt setzen kann, ist mit der rechtsstaatlichen gewaltenteilenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, unvereinbar. Das Recht des Bundespräsidenten, im Einzelfall für den Bund das Begnadigungsrecht auszuüben (Art. 60 Abs. 2 GG), ebenso wie das Recht der Landesexekutivorgane, denen durch die Landesverfassung das Begnadigungsrecht übertragen ist
    Baden-Württemberg Art. 52; Bayern Art. 47; Bremen Art. 121; Hamburg Art. 44; Hessen Art. 109; Niedersachsen Art. 27; Nordrhein- Westfalen Art. 59; Rheinland-Pfalz Art. 103; Saarland Art. 95 i.V.m. der Verordnung vom 2. März 1948 (ABl. S. 447) und dem Gesetz vom 5. August 1948 (ABl. S. 1033); Schleswig-Holstein Art. 27,
kann nicht aus dem umfassenden, durch Art. 19 Abs. 4 GG mitgeprägten rechtsstaatlichen Verhältnis, in dem nach dem Grundgesetz der einzelne Mensch zur öffentlichen Gewalt steht, herausgenommen werden.
In der rechtsstaatlichen verfassungsmäßigen Ordnung enthält der Gnadenakt daher nicht mehr einen systemwidrigen Eingriff in die Rechtsprechung und die bestehende Rechtsordnung. Die Gerichte müssen die vom Gesetzgeber erlassenen, notwendigerweise abstrakt formulierten Normen im Einzelfall anwenden. Um der Berechenbarkeit und Sicherheit des Rechtes willen muß die gesetzliche Regelung allgemein gehalten sein und typisierend verfahren. Die Gerechtigkeit ist hingegen ihrem Wesen und ihrer inneren Struktur nach immer auf den konkret-individuellen Einzelfall bezogen. In der rechtsstaatlichen Ordnung dient der Gnadenakt dazu, die Auswirkungen gesetzeskonformer Richtersprüche zu modifizieren, wenn diese mit den Postulaten individueller Gerechtigkeit ausnahmsweise in einen Konflikt geraten.
Die Inhaber des Gnadenrechts dürfen dieses daher nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung und der durch diese, insbesondere durch Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG, gezogenen Grenzen ausüben. Jede positive und jede negative Gnadenentscheidung muß von Motiven getragen sein, die sich an der Gerechtigkeitsidee orientieren, wie sie vom Grundgesetz im einzelnen konkretisiert worden ist.
Eine willkürliche oder leichtfertige Kassation gerichtlicher Urteile im Gnadenwege wäre hiernach mit der verfassungsmäßigen Ordnung (Art. 20 Abs. 2, 92 GG) unvereinbar. Dagegen ist es legitim, wenn in der Gnadenentscheidung das Schicksal, das der Täter und seine Familie durch eine gesetzeskonforme Strafverurteilung erleiden, sowie die Wirkungen der Vollstreckung der Strafe auf das Gesamtinteresse (BVerfGE 10, 234 [246]) und die Persönlichkeit des Verurteilten berücksichtigt werden. Gerechtigkeitserwägungen können auch zu dem Schluß führen, daß die Strafe ihren Zweck schon vor dem Ende der Vollstreckung erreicht hat. Eine an der Gerechtigkeit orientierte Gnade steht nicht außerhalb des Rechts. Sie trägt dazu bei, daß der tatbezogene Richterspruch für den Verurteilten und die Gemeinschaft sinnvoll bleibt.
Die komplexe Motivation der Gnadenentscheidung ist einer normativen Erfassung entzogen. Die nach dem Grundgesetz und den Landesverfassungen zur Ausübung des Gnadenrechts berufenen Amtsträger können ihre Entscheidung grundsätzlich nach freiem Ermessen treffen. Nach diesem Ermessen kann ein Gnadenerweis aus jedem von der Wertordnung des Grundgesetzes nicht mißbilligten Grunde abgelehnt werden. Eine solche Entscheidung verletzt nicht Rechte des Petenten. Nur wenn das Begnadigungsrecht durch willkürliche Handhabung mißbraucht wird, wird der Verurteilte in seinem durch Art. 1 und 3 GG begründeten Recht auf eine rechtsstaatskonforme, d.h. nichtdiskriminierende, gerechte und sachbezogene Gnadenentscheidung verletzt. Ebensowenig dürfen Gnadenerweise unter Auflagen gewährt werden, die gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoßen oder den Wesensgehalt eines Grundrechts antasten. Gnadengesuche müssen von den zuständigen Stellen entgegengenommen, geprüft und beschieden werden. Gnade ist also zwar nicht völlig verrechtlicht, die Gewährung oder Versagung eines Gnadenerweises aber rechtlich begrenzt.
2. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet die rechtsstaatliche Forderung nach möglichst lückenlosem gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (BVerfGE 8, 274 [326]). Nicht zur öffentlichen Gewalt im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG gehören Akte der Rechtsprechung (BVerfGE 15, 275 [280]) und der Gesetzgebung (BVerfGE 24, 33 [49 ff.]). Dagegen kann ein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, richterlicher Nachprüfung nicht entzogen werden (BVerfGE 10, 264 [267]). Die Einzelbegnadigung ist weder ein Akt der Rechtsprechung noch der Gesetzgebung. Die Inhaber des Begnadigungsrechts gehören nach ihrer verfassungsrechtlichen Stellung zur Exekutive. Wenn sie das Begnadigungsrecht ausüben, üben sie Funktionen eines Exekutivorgans aus, indem sie auf die Vollstreckung eines Urteils Verzicht leisten. In der Rechtswirklichkeit werden die Gnadensachen in der Regel von nachgeordneten Behörden administrativ bearbeitet und entschieden. Art. 19 Abs. 4 GG hat deshalb auch gegen Gnadenentscheidungen den Rechtsweg eröffnet. Sie müssen von den Gerichten daraufhin überprüft werden, ob sie materiell den durch das Grundgesetz abgesicherten Mindestanforderungen der Gerechtigkeit entsprechen und daher rechtsstaatskonform sind.
3. Dahingestellt bleiben kann, ob Gnadenentscheidungen auf dem Gebiete des Strafrechts als Justizverwaltungsakte zu qualifizieren sind und damit der verfassungsrechtlich geforderte Rechtsweg bereits durch das Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG eröffnet ist, oder ob gegen sie als Hoheitsakte eigener Art nur der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG subsidiär eröffnete ordentliche Rechtsweg beschritten werden kann. Denn innerhalb des subsidiären ordentlichen Rechtswegs ist das Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG wiederum das sachnächste. Das Oberlandesgericht München hätte deshalb den Antrag des Beschwerdeführers nicht mit der von ihm gegebenen Begründung als unzulässig verwerfen dürfen. Möglicherweise stehen der Zulässigkeit andere Bedenken entgegen. Das zu entscheiden ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts. Die angefochtene Entscheidung hätte deshalb nach der hier vertretenen Auffassung aufgehoben werden müssen, weil sie Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
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