BVerfGE 26, 41 - Grober Unfug
Die Strafbestimmung über den groben Unfug (§ 360 Abs. 1 Nr. 11 [zweite Alternative] StGB) ist mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 14. Mai 1969 gemäß § 24 BVerfGG
- 2 BvR 238/68 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Malergesellen ... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte ... - gegen das Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg vom 22. Januar 1968 - 9 Cs 614/67 - und den Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 13. März 1968 - 1 Ss 103/68 -.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
 
Gründe:
I.
1. Nach § 360 Abs. 1 Nr. 11 StGB wird mit Geldstrafe bis zu fünfhundert Deutsche Mark oder mit Haft bestraft,
    wer ungebührlicherweise ruhestörenden Lärm erregt oder wer groben Unfug verübt.
Die Höhe der Strafdrohung beruht auf Art. 7 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26. November 1964 (BGBl. I S. 921).
2. a) Der Beschwerdeführer schleppte in der Nacht vom 29. zum 30. September 1967 gemeinsam mit einem Bekannten eine Parkbank auf einen Bürgersteig, wo sie Passanten behinderte. Das Amtsgericht Wolfsburg verurteilte ihn deshalb am 22. Januar 1968 wegen groben Unfugs (§ 360 Abs. 1 Nr. 11 StGB) zu einer Geldstrafe von einhundert Deutsche Mark, ersatzweise zu zehn Tagen Haft. Die Berufung des Beschwerdeführers blieb erfolglos. Seine Revision verwarf das Oberlandesgericht Celle mit Beschluß vom 13. März 1968 gemäß § 349 Abs. 2 StPO.
b) Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg vom 22. Januar 1968, gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 13. März 1968 und mittelbar gegen die Strafbestimmung über den groben Unfug (§ 360 Abs. 1 Nr. 11 [zweite Alternative] StGB). Der Beschwerdeführer rügt Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG. Er meint, § 360 Abs. 1 Nr. 11 (zweite Alternative) StGB sei verfassungswidrig, weil der Tatbestand des groben Unfugs nicht genau genug umschrieben sei.
3. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
Die Strafbestimmung über den groben Unfug (§ 360 Abs. 1 Nr. 11 [zweite Alternative] StGB) ist mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.
1. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Art. 103 Abs. 2 GG versagt verfassungskräftig sowohl die rückwirkende Anwendung neu geschaffener Straftatbestände als auch die Strafbegründung im Wege der Analogie oder des Gewohnheitsrechts.
Art. 103 Abs. 2 GG fordert darüber hinaus, daß die Strafbarkeit "gesetzlich bestimmt" ist. Jedermann soll vorhersehen können, welches Handeln mit welcher Strafe bedroht ist, und sein Verhalten entsprechend einrichten können (BVerfG, Beschluß vom 26. Februar 1969 - 2 BvL 15/68 und 23/68 - S. 23 f. = BVerfGE 25, 269 [285]). Welches Verhalten mit Strafe bedroht ist, läßt sich aber auch dann nicht vorhersehen, wenn das Gesetz einen Straftatbestand zu unbestimmt faßt (vgl. BVerfGE 14, 245 [252]; BVerfG, Beschluß vom 26. Februar 1969 - 2 BvL 15/68 und 23/68 - S. 23 = BVerfGE 25, 269 [285]).
Allerdings kann das Strafrecht nicht völlig darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden, die nicht eindeutig allgemeingültig umschrieben werden können und die in besonderem Maße der Auslegung durch den Richter bedürfen (BVerfGE 11, 234 [237]). Art. 103 Abs. 2 GG verlangt daher nur innerhalb eines bestimmten Rahmens eine gesetzliche Umschreibung der Strafbarkeit.
Welchen Grad an gesetzlicher Bestimmtheit der einzelne Straftatbestand haben muß, läßt sich nicht allgemein sagen. Die erforderliche Gesetzesbestimmtheit hängt von der Besonderheit des jeweiligen Straftatbestandes und von den Umständen ab, die zu der gesetzlichen Regelung führen. Jedenfalls muß das Gesetz die Strafbarkeitsvoraussetzungen um so präziser bestimmen, je schwerer die angedrohte Strafe ist (BVerfGE 14, 245 [251]).
2. Die Strafbestimmung über den groben Unfug ist hinreichend genau umschrieben.
a) Der einzelne Bürger kann im allgemeinen, voraussehen, in welchen Fällen die Gerichte den 5 360 Abs. 1 Nr. 11 (zweite Alternative) StGB anwenden werden. Der Wortlaut dieser Vorschrift läßt zwar eine weite Auslegung zu. Ihre Besonderheit besteht jedoch darin, daß sie zum überlieferten Bestand an Strafrechtsnormen gehört und durch eine jahrzehntelange gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisiert worden ist. Die Strafbestimmung über den groben Unfug war schon in § 340 Nr. 9 des preußischen Strafgesetzbuches vom 14. Mai 1851 enthalten. Sie wurde von dort in das geltende Strafgesetzbuch übernommen. Das Reichsgericht hat bereits in seinem Urteil vom 27. April 1880 entschieden, daß nicht jeder störende Eingriff in die unter dem Schutze der öffentlichen Ordnung stehenden Interessen und Rechte Dritter grober Unfug sei (RGSt 1, 400 [401]). In einem Urteil vom 14. Juni 1898 hat es den groben Unfug definiert als "eine grob ungebührliche Handlung, durch welche das Publikum in seiner unbestimmten Allgemeinheit unmittelbar belästigt oder gefährdet wird, und zwar dergestalt, daß in dieser Belästigung oder Gefährdung zugleich eine Verletzung oder Gefährdung des äußeren Bestandes der öffentlichen Ordnung zur Erscheinung kommt" (RGSt 31, 185 [192]). Diese einschränkende Auslegung des § 360 Abs. 1 Nr. 11 (zweite Alternative) StGB ist heute allgemein anerkannt.
    (Vgl. BGHSt 13, 241; Heinitz, Zur Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug, Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch, 1968, S. 47, 52; Maurach, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, 4. Aufl. 1964, S. 490; Schäfer in: Dalcke/Fuhrmann/Schäfer, Strafrecht und Strafverfahren, 37. Aufl. 1961, § 360 StGB Anm. 21; Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 13. Aufl. 1967, 5 360 Rn. 48 ff.; Schwarz,/Dreher, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 1967, § 360 Anm. 11 B; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 9. Aufl. 1965, S. 431; OLG Hamm, Urteil vom 26. Mai 1966, JZ 1966, 648 f.).
b) Auch in dieser einschränkenden Auslegung gestattet § 360 Abs. 1 Nr. 11 (zweite Alternative) StGB noch die Bestrafung recht verschiedenartiger Handlungen. Eine Zusammenfassung mehrerer Erscheinungsformen des leichten Unrechts in einen einzigen Unrechtstatbestand wird jedoch durch Art. 103 Abs. 2 GG nicht ausgeschlossen.
Seuffert, Dr. Leibholz, Geller, Dr. v. Schlabrendorff, Dr. Rupp, Dr. Geiger, Dr. Kutscher, Dr. Rinck