BVerfGE 30, 367 - Bundesentschädigungsgesetz |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 23. März 1971 |
- 2 BvL 2/66, 2 BvR 168, 196, 197, 210, 472/66 - |
in dem Verfahren 1. zur verfassungsrechtlichen Prüfung des § 150 Abs. 2 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) in der Fassung des Art. I Nr. 87 in Verbindung mit Art. XII Nr. 1 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes - BEG-Schlußgesetz - vom 14. September 1965 (BGBl. I S. 1315), soweit darin die Anspruchsberechtigung vom Stichtag des 1. Oktober 1953 abhängig gemacht wird - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Landgerichts in Köln vom 29. November 1965 (52.O. [Entsch.] 277/64 -; 2 über die Verfassungsbeschwerden a) der Eheleute Georg G... und Susanne G... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Dietrich Puppe und Heinz Peters, Düsseldorf, Friedrichstraße 28 - gegen dieselbe Vorschrift (siehe zu 1.); b) der Frau Margot Miriam R... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Paul Paulsen, Karlsruhe, Beiertheimer Allee 25 - gegen das urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. Februar 1966 - IV ZR 311/64 -; d) der Frau Aurelia A... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Hieronimi, Koblenz, Kurfürstenstraße 11 - gegen 1. das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28. Januar 1966 - IV ZR 268/64 -, 2. das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 19. Juni 1964 - 1 U (entsch.) 162/63-; e) der Frau Karoline S... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Alfred Schüler, Frankfurt/Main, Wiesenau 53 - gegen dieselbe Vorschrift (siehe zu 1.), zu b) bis d) ferner mittelbar gegen dieselbe Vorschrift (zu1). |
Entscheidungsformel: |
1. § 150 Absatz 2 des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz) in der Fassung des Artikel I Nr. 87 in Verbindung mit Artikel XII Nr. 1 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG-Schlußgesetz) vom 14. September 1965 (Bundesgesetzbl. I S. 1315) ist mit Artikel 20 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit diese Vorschrift für Verfolgte, die nach § 150 BEG a. F. anspruchsberechtigt waren, die Anspruchsberechtigung davon abhängig macht, daß der Verfolgte die Vertreibungsgebiete am 1. Oktober 1953 endgültig verlassen hat. |
2. Die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 2. Februar 1966 - IV ZR 312/64 -, vom 2. Februar 1966 - IV ZR 311/64 - und vom 28. Januar 1966 - IV ZR 268/64 - werden aufgehoben und die Verfahren an das Landgericht in Köln zurückverwiesen. |
Gründe |
A. - I. |
1. Den Gegenstand aller Verfahren bildet die Änderung des § 150 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) durch das BEG- Schlußgesetz vom 14. September 1965 (BGBl. I S. 1315) insoweit, als darin die Anspruchsberechtigung auf Verfolgte begrenzt wird, die die Tatbestandsvoraussetzungen bei Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Oktober 1953, also zu einem zurückliegenden Zeitpunkt, erfüllt haben (§ 150 Abs. 2 n. F.). Die vorher geltende Fassung des § 150 BEG enthielt keinen, jedenfalls keinen ausdrücklich genannten Stichtag.
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§ 4 des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz - BEG a. F. -) in der Fassung vom 29. Juni 1956 (BGBl. I S. 562) und vom 1. Juli 1957 (BGBl. I S. 663), das aus dem Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesergänzungsgesetz - BErgG -) vom 18. September 1953 (BGBl. I S. 1387) hervorgegangen war, kannte als Anspruchsberechtigte einerseits die Verfolgten, die am oder vor dem 31. Dezember 1952 den Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland oder nach Auswanderung im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 gehabt haben (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a bis c BEG a. F.), andererseits die Heimkehrer, Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge, die den Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland genommen haben oder nehmen (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d bis f BEG a. F.). Nur im Falle der erstgenannten Gruppe setzte das Gesetz also einen Zeitpunkt fest, bis zu dem der Anspruchstatbestand erfüllt sein mußte, während im Falle der anderen Gruppe die persönlichen Voraussetzungen ohne Stichtagsbeschränkung auch noch nach Inkrafttreten des Gesetzes erfüllt werden konnten.
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Für besondere Gruppen von Verfolgten - die Verfolgten aus den Vertreibungsgebieten und die Staatenlosen und Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention -, die die Voraussetzungen des § 4 BEG a. F. nicht erfüllten, enthielt der 4. Abschnitt (§§ 149 ff.) des Gesetzes spezielle Bestimmungen. Sie räumten einen nach Art und Umfang beschränkten Entschädigungsanspruch ein.
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§ 150 BEG a. F. erfaßte jene verfolgten Vertriebenen, die ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt nicht in der Bundesrepublik Deutschland genommen haben. Die Vorschrift hatte folgenden Wortlaut:
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(1) Der Verfolgte aus den Vertreibungsgebieten, der Vertriebener im Sinne des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes ist, hat Anspruch auf Entschädigung für Schaden an Körper oder Gesundheit, für Schaden an Freiheit, für Schaden durch Zahlung von Sonderabgaben und für Schaden im beruflichen Fortkommen. § 4 Absatz 2 findet Anwendung. (2) Der Hinterbliebene eines Verfolgten, der zu dem in Absatz 1 bezeichneten Personenkreis gehört, hat Anspruch auf Entschädigung für Schaden an Leben. Der Anspruch besteht auch dann, wenn der Hinterbliebene zu dem in Absatz 1 bezeichneten Personenkreis gehört. |
Während § 150 BEG a. F. keinen Stichtag nannte, lautete § 160, der die verfolgten Staatenlosen und Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention betrifft:
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(1) Der Verfolgte, der bei Inkrafttreten dieses Gesetzes Staatenloser oder Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 ist und ..., hat Anspruch auf Entschädigung für Schaden an Körper oder Gesundheit und für Schaden an Freiheit. ... (4) Soweit Ansprüche nach §§ 150 bis 159 bestehen, verbleibt es bei dieser Regelung. |
Das Gesetz trat am 1. Oktober 1953 in Kraft (§ 241).
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Auch die von §§ 4 Abs. 1 und 150 Abs. 1 BEG a. F. in Bezug genommene Vorschrift des § 1 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG -) in der Fassung vom 23. Oktober 1961 (BGBl. I S. 1883) enthält keine die Eigenschaft eines "Vertriebenen" ausschließende Frist. Während § 1 Abs. 1 Satz 1 BVFG lediglich einen Zusammenhang des Verlustes des Wohnsitzes in den ehemaligen deutschen Ostgebieten oder außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 mit den Ereignissen des 2. Weltkrieges fordert, heißt es in § 1 Abs. 2 dieser Bestimmung:
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(2) Vertriebener ist auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger 1.... 2.... 3. nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, ... verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er erst nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler), 4.... |
2. Eine abschließende Regelung des Entschädigungsrechts brachte das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG-Schlußgesetz) vom 14. September 1965 (BGBl. I S. 1315). Während das Gesetz auch in der neuen Fassung im Bereich der Verfolgtengruppe, die nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d bis f BEG anspruchsberechtigt ist, eine Erfüllung der persönlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht durch einen Stichtag einschränkt ("... Wohnsitz ... genommen hat oder nimmt ..."), brachte Art. 1 Nr. 87 BEG-Schlußgesetz eine Änderung des § 150 BEG, die in den Tatbestand einen zurückliegenden Zeitpunkt aufnahm:
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§ 150
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(1) Der Verfolgte aus den Vertreibungsgebieten, der dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat, hat Anspruch auf Entschädigung für Schaden an Körper oder Gesundheit, für Schaden an Freiheit, für Schaden durch Zahlung von Sonderabgaben und für Schaden im beruflichen Fortkommen. (2) Anspruch nach Absatz 1 besteht, wenn der Verfolgte die in § 1 Absatz 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes genannten Gebiete bei Inkrafttreten dieses Gesetzes endgültig verlassen hat. |
Da das Gesetz rückwirkend am 1. Oktober 1953 in Kraft trat (Art. XII Nr. 1 BEG-Schlußgesetz), waren nun ausdrücklich alle nach § 150 Abs. 1 BEG ansonsten zustehenden Ansprüche ausgeschlossen, wenn der Verfolgte die Vertreibungsgebiete erst nach diesem Zeitpunkt verlassen hat oder verläßt. Ferner brachte die Neufassung dadurch eine Veränderung, daß nur noch die Zugehörigkeit der Berechtigten zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, nicht mehr die Erfüllung der Voraussetzungen des § 1 BVFG gefordert wird.
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Insbesondere wegen der Stichtagsbestimmungen in §§ 4, 150 und 160 BEG n. F. führte Art. V BEG-Schlußgesetz eine "Sonderregelung für überregionale Verfolgtengruppen" ein. Soweit kein Entschädigungsanspruch nach den genannten Vorschriften besteht, gewährt Art. V unter bestimmten Voraussetzungen, die nur einen schmalen Ausschnitt der Schadenstatbestände der §§ 15 ff. BEG n. F. aufnehmen, eine Beihilfe. Die Beihilfen bestehen in Pauschalbeträgen, die die individuellen Gegebenheiten nur in geringem Maße berücksichtigen (Art. V Nr. 1 Abs. 6 bis 12 BEG- Schlußgesetz).
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3. Die im Anschluß an den 2. Weltkrieg Vertriebenen (und Aussiedler) fanden erstmals Berücksichtigung im ("Haager") Protokoll Nr. 1, vereinbart von Vertretern der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Conference on Jewish Material Claims against Germany vom 10. September 1952 (BGBl. 1953 II S. 85), das freilich selbst keine Gesetzeskraft erlangte. Es legte in Abschnitt I Nr. 12 Abs. 1 fest, daß Verfolgte, die vor der allgemeinen Vertreibung in das Ausland ausgewandert sind, Entschädigung erhalten sollten,
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"... wenn anzunehmen ist, daß sie von den Vertreibungsmaßnahmen betroffen worden wären, die sich im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges gegen deutsche Staatsangehörige und deutsche Volkszugehörige gerichtet haben, ..."
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Absatz 5 lautete:
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"Entschädigung nach Absatz 1 wird auch dann gewährt, wenn die verfolgten Personen während oder nach der allgemeinen Vertreibung in das Ausland ausgewandert oder in das Bundesgebiet übergesiedelt sind."
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4. Das Bundesergänzungsgesetz von 1953 enthielt in den §§ 67, 68 Bestimmungen, die den §§ 149, 150 BEG a. F. inhaltlich im wesentlichen entsprachen. Auch diese früheren Vorschriften wiesen im Tatbestand keinen Stichtag auf, der die später Vertriebenen ausdrücklich von der Anspruchsberechtigung ausgeschlossen hätte.
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(1) Verfolgte deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit, die Vertriebene im Sinne der §§ 1 und 2 des Bundesvertriebenengesetzes vom 19. Mai 1953 (Bundesgesetzbl. I S. 201) sind, erhalten Entschädigung für Schaden an Körper und Gesundheit und für Freiheitsentziehung unter den Voraussetzungen und nach Maßgabe der §§ 15 bis 17. Dies gilt nicht für Vertriebene gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 des Bundesvertriebenengesetzes, es sei denn, daß sie von den Vertreibungsmaßnahmen betroffen worden wären, die sich im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges gegen deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige gerichtet haben. Deutscher Volkszugehöriger im Sinne von Satz 1 und 2 ist derjenige Verfolgte, auf den die Voraussetzungen des § 6 des Bundesvertriebenengesetzes zutreffen. ... |
II. |
1. Der in Ungarn geborene Kläger des Ausgangsverfahrens, das zur Vorlage des Landgerichts Köln geführt hat (2 BvL 2/66), ist jüdischer Abstammung und nach der Überzeugung des vorlegenden Gerichts deutscher Volkszugehörigkeit. Er wurde das Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen und erlitt sowohl Freiheitsschäden wie auch Schäden an Körper und Gesundheit. Nach dem Kriege war er in Ungarn wegen seiner deutschen Herkunft, wie das Landgericht für erwiesen hält, vielfältigen Benachteiligungen und Verfolgungen ausgesetzt. Er hat schon 1949/50 die Auswanderung nach Israel beantragt, konnte sie jedoch erst nach der Genehmigung im Jahre 1957 durchführen.
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Nachdem der Kläger durch die Entschädigungsbehörde als Vertriebener anerkannt worden war, billigte sie ihm Entschädigungsansprüche wegen Freiheitsschaden zu, lehnte jedoch später die weiter beantragte Entschädigung für Schaden an Körper und Gesundheit gemäß §§ 150 ff. BEG a. F. durch Bescheid vom 10. Juni 1964 - also vor der Gesetzesänderung durch das BEG- Schlußgesetz - mit der Begründung ab, der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 150 BEG nicht. Gegen diesen Bescheid erhob er Klage zum Landgericht in Köln.
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Weil das Landgericht aufgrund der bisher erhobenen Beweise von der Richtigkeit der Darlegungen des Klägers und damit vom Vorliegen der Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs nach §§ 150, 151, 28 ff. BEG a. F. überzeugt ist, würde es der Klage stattgeben, wenn es nicht durch die Einführung des Stichtags des 1. Oktober 1953 in § 150 Abs. 2 BEG n. F. daran gehindert wäre.
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Das vorlegende Gericht hält § 150 Abs. 2 BEG in der Fassung des BEG-Schlußgesetzes für verfassungswidrig. Die rückwirkende Einfügung eines Stichtags verstoße gegen den Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20, 28 GG), insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes. Das Landgericht in Köln hat deshalb mit Beschluß vom 29. November 1965 sein Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 150 Abs. 2 BEG in der durch Art. I Nr. 87 in Verbindung mit Art. XII Nr. 1 BEG-Schlußgesetz erhaltenen Fassung vorgelegt.
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Im einzelnen führt das Landgericht zur Begründung aus:
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a) Entsprechend der nahezu einhelligen Auffassung in der Literatur habe auch die Praxis der Behörden und Gerichte die Beschränkung des Tatbestandes des § 150 BEG a. F. durch die Anwendung eines Stichtages abgelehnt. Die Erfüllung der persönlichen Anspruchsvoraussetzungen sei demnach auch nach dem 1. Oktober 1953 möglich gewesen.
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Eine Analogie zu der von Anfang an durch den Stichtag des 1. Oktober 1953 beschränkten Bestimmung des § 160 Abs. 1 BEG a. F. komme bei der Auslegung des § 150 BEG a. F. nicht in Betracht. Während die Bundesrepublik gegenüber den Staatenlosen und Flüchtlingen des § 160 BEG a. F. nur einer humanitären Mindestpflicht nachkomme, bestünden gegenüber den verfolgten Vertriebenen des § 150 BEG a. F. Bindungen im Hinblick auf deren deutsche Volkszugehörigkeit, was eine entschädigungsrechtliche Besserstellung rechtfertige.
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c) Auch wenn man die mit der Gesetzesänderung verfolgten öffentlichen Interessen berücksichtige, die in einer Vereinfachung der Gesetzesanwendung und in haushaltsrechtlichen Zielen bestanden hätten, wiege das Interesse der Betroffenen und der Vertrauensschaden schwerer.
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2. a) Die fünf Beschwerdeführer zu 2. a) bis c) und 2. e) sowie der Erblasser der Beschwerdeführerin zu 2. d) sind jüdischer Herkunft und gehören nach eigener Darstellung dem deutschen Sprach- und Kulturkreis an (§ 1 BVFG, § 4 Abs. 2 BEG a. F.). Sie stammen aus Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei. Während der nationalsozialistischen Herrschaft litten sie unter zahlreichen Verfolgungsmaßnahmen, die sie an Freiheit und Körper oder Gesundheit schädigten. Nachdem sie teilweise bereits lange vorher die Ausreise beantragt hatten, konnten sie erst in den Jahren 1956 bis 1961 auswandern, die Beschwerdeführerin zu 2. a) in die Vereinigten Staaten, die übrigen nach Israel. Entschädigungsleistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz könnten sie, da in keinem Fall die Wohnsitz- oder Aufenthaltsvoraussetzungen des § 4 BEG erfüllt sind, nur nach §§ 150 ff. BEG erhalten. Dem steht jedoch seit dem BEG-Schlußgesetz die Stichtagsgrenze des 1. Oktober 1953 entgegen.
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Die Beschwerdeführer zu 2. b) bis d) haben bei der Entschädigungsbehörde Anträge auf Entschädigung von Schäden an Freiheit und an Körper oder Gesundheit gemäß §§ 150 ff. BEG a. F. gestellt.
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Im Fall der Beschwerdeführer zu 2. b) und c) wurden die Anträge als verspätet und auch die Wiedereinsetzungsgesuche als nicht fristgemäß abgelehnt. Die Beschreitung des Klageweges blieb ohne Erfolg; der Bundesgerichtshof stellte in beiden Verfahren durch Urteile vom 2. Februar 1966 fest, der Rechtsstreit habe sich durch die Neufassung des § 150 BEG erledigt, weil nunmehr die - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende - Stichtagsbestimmung des § 150 Abs. 2 BEG n. F. einen Anspruch für die Kläger ausschließe.
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Im Fall der Beschwerdeführerin zu 2. d) erhob noch deren Ehemann und Erblasser Untätigkeitsklage, da die Entschädigungsbehörde keine Entscheidung fällte. Der Bundesgerichtshof wies die Klage mit Urteil vom 28. Januar 1966 ab. Ein Antrag der Revision auf Aussetzung des Verfahrens und Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit des § 150 Abs. 2 BEG n. F. hatte keinen Erfolg: Entgegen der Ansicht der Bundesregierung und des Berufungsgerichts ging zwar der Bundesgerichtshof davon aus, daß § 150 Abs. 2 BEG n. F. eine echte Rechtsänderung und keine bloße Klarstellung der Rechtslage gebracht habe. Entschädigungsansprüche von Spätaussiedlern nach § 150 BEG a. F. seien bisher nicht daran gescheitert, daß diese teilweise erst nach dem 1. Oktober 1953 ihre Heimat verlassen hätten. Die Einführung eines Stichtags durch § 150 Abs. 2 BEG n. F. sei jedoch nicht verfassungswidrig. Die Neuregelung habe nur einer verschwindend kleinen Zahl von verfolgten Spätaussiedlern die Möglichkeit des bisher notwendigen Beweises eines Zusammenhangs ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis mit dem Verlassen der Heimat abgeschnitten. Die Stichtagsbestimmung habe bei der nur noch geringen Aussicht, einen solchen Zusammenhang zu beweisen, in Kauf genommen werden müssen und bedeute keine unzulässige Rückwirkung.
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Die Beschwerdeführer zu 2. b) bis d) haben gegen die Revisionsurteile des Bundesgerichtshofs und mittelbar gegen die Stichtagsbestimmung des § 150 Abs. 2 BEG n. F. Verfassungsbeschwerde erhoben.
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Die Beschwerdeführer zu 2. a) und 2. e) haben bisher den Rechtsweg nicht beschritten. Die Bearbeitung der von ihnen gestellten Anträge auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz wurde von der Behörde eingestellt, weil die Beschwerdeführer nicht die Stichtagsvoraussetzung des § 150 Abs. 2 BEG n. F. erfüllen.
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b) Zur Begründung führen die Beschwerdeführer im wesentlichen aus:
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aa) Die Änderung des § 150 BEG a. F. durch das BEG-Schlußgesetz in Form der nachträglichen Einfügung eines Stichtags verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil sie eine belastende Regelung mit unzulässiger Rückwirkung darstelle. Denn die Stichtagsregelung habe nicht nur klarstellende Wirkung, sondern ändere durch den Ausschluß einer bestimmten Gruppe von Anspruchsberechtigten die bisher bestehende Rechtslage. Sie habe für die Betroffenen eine einschneidende Verschlechterung gebracht, da die nunmehr als Ersatz in Betracht kommende Beihilfe gemäß Art. V BEG-Schlußgesetz bei weitem hinter dem gemäß §§ 150 ff. BEG a. F. zustehenden Anspruch zurückbleibe.
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Mit einem so viele Jahre zurückreichenden nachträglichen Wegfall der Anspruchsberechtigung hätten die verfolgten Spätaussiedler nicht rechnen können. Die Rechtslage sei bis zur Novellierung durch das BEG-Schlußgesetz klar gewesen und, was die Anspruchsberechtigung der nach dem 1. Oktober 1953 ins Ausland ausgewanderten Volksdeutschen betraf, auch von den Gerichten nicht in Zweifel gezogen worden. Die bisherige Regelung sei auch sinnvoll und nicht unbillig gewesen, wenn sie zwischen den aus § 150 BEG a. F. und den aus § 160 BEG a. F. Anspruchsberechtigten differenzierte. Darüber hinaus sei die Zahl der Betroffenen keineswegs so gering, wie es der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 28. Januar 1966 angenommen habe.
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bb) die Beschwerdeführer rügen ferner die Verletzung des Gleichheitssatzes. Art. III Nr. 8 Abs. 1 BEG-Schlußgesetz lasse solche Ansprüche weiter bestehen, die durch Bescheid oder rechtskräftig gerichtlich festgesetzt sind. Es sei aber weitgehend von Zufällen und vom Arbeitstempo der Behörden abhängig gewesen, ob Ansprüche nach § 150 BEG a. F. bei Inkrafttreten des BEG- Schlußgesetzes schon festgesetzt oder noch in der Bearbeitung gewesen seien. Auch verletze die Neuregelung des § 150 Abs. 2 BEG n. F. insofern den Gleichheitssatz, als danach die nach dem 1. Oktober 1953 ausgesiedelten Volksdeutschen willkürlich schlechter behandelt würden als die vor dem Stichtag Vertriebenen.
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cc) Die Beschwerdeführer zu 2. b) und c) rügen darüber hinaus einen Verstoß gegen Art. 14 GG. Die aufgrund des § 150 BEG a. F. entstandenen Entschädigungsansprüche seien Eigentum und stünden unter dem Schutz des Art. 14 GG.
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III. |
1. Der Bundesminister der Finanzen hat sich für die Bundesregierung wie folgt geäußert:
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a) Schon § 150 BEG a. F. habe Entschädigungsansprüche nur Verfolgten eingeräumt, die die Vertreibungsgebiete vor Inkrafttreten des Gesetzes, also vor dem 1. Oktober 1953 verlassen haben. Dies ergebe sich aus dem Haager Protokoll Nr. 1 und aus der entsprechenden Fassung des § 68 BErgG. Der von diesen Vorschriften vorausgesetzte Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der deutschen Volkszugehörigkeit sei mit Sicherheit mit der Änderung der politischen Verhältnisse im Ostblock nach der ungarischen Revolution entfallen.
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b) Auch hätten die Emigranten aus den Vertreibungsgebieten nach dem 1. Oktober 1953 keine geschützte Rechtsposition erworben, da angesichts der strengen Anforderungen in der Verwaltungspraxis und Rechtsprechung nur äußerst geringe Aussicht auf eine Anerkennung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 150 BEG a. F. bestanden hätte. Die Einführung des Stichtags habe also nur einem kleinen Personenkreis die an sich schon kaum realisierbare Möglichkeit einer Beweisführung bezüglich der Zugehörigkeit zum deutschen Volk und des Vorliegens der Vertriebeneneigenschaft abgeschnitten. Bei der bisherigen Fassung des § 150 BEG habe deshalb ein Vertrauensschutz nicht bestanden. Ihr Wortlaut sei nicht eindeutig gewesen, in nur wenigen Fällen seien Ansprüche von Aussiedlern nach dem 1. Oktober 1953 positiv entschieden worden. In diesem Punkt habe das Bundesentschädigungsgesetz vom 29. Juni 1956 noch keine endgültige Regelung gebracht, weil bei seinem Erlaß noch nicht zu erkennen gewesen sei, daß sich im Zuge der ungarischen Revolution und der sich anschließenden Liberalisierung im Ostblock für viele jüdische Verfolgte die Möglichkeit der Aussiedlung ergeben werde.
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c) Die Neuregelung des § 150 BEG n. F. sei auch sachgerecht im Sinne des Gleichheitssatzes. Es gebe keinen einleuchtenden Grund für eine unterschiedliche Behandlung der unter die Regelung des § 150 und des § 160 BEG fallenden Personengruppen. Die bloße Zugehörigkeit der einen Gruppe (§ 150 BEG) zum deutschen Sprach- und Kulturkreis könne deren Besserstellung nicht sachlich begründen. Es sei deshalb gerechtfertigt gewesen, den Stichtag, den § 160 BEG a. F. bereits erhalten habe, auch in § 150 BEG n. F. einzufügen.
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2. Der Bundesgerichtshof hat auf sein Urteil vom 28. Januar 1966 verwiesen, das Gegenstand der Verfassungsbeschwerde zu 2. d) ist.
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B. |
Die Vorlage des Landgerichts Köln und die Verfassungsbeschwerden sind zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
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I. |
1. Die Vorlage ist zulässig.
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Das vorlegende Gericht hat dargetan, daß es bei seiner Entscheidung auf die Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Bestimmung ankommt. Ist die Stichtagsbestimmung des § 150 Abs. 2 BEG n. F. verfassungsgemäß, so will das Gericht die Klage, soweit sie Ansprüche aus §§ 150 ff. BEG betrifft, abweisen und allenfalls eine Beihilfe nach Art. V BEG-Schlußgesetz zubilligen. Verstößt diese Bestimmung aber gegen das Grundgesetz, so sieht das Landgericht die Voraussetzungen eines Anspruchs nach §§ 150 f., 28 ff. BEG n. F. aufgrund der bisherigen Beweiserhebung für gegeben an.
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2. Die Verfassungsbeschwerden sind auch zulässig, soweit sie unmittelbar gegen die Stichtagsbestimmung des § 150 Abs. 2 BEG n. F. gerichtet sind. Die Beschwerdeführer werden von der angegriffenen Vorschrift selbst, gegenwärtig und unmittelbar rechtlich betroffen (vgl. BVerfGE 1, 97 [101 ff.]; 6, 273 [277]). Die neue Stichtagsregelung entfaltet ohne einen besonderen Vollziehungsakt direkte Wirkung gegenüber den Betroffenen; denn sie werden dadurch unmittelbar als Anspruchsberechtigte nach §§ 150 ff. BEG n. F. ausgeschlossen.
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II. |
Die Stichtagsbestimmung des § 150 Abs. 2 BEG n. F. verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG). Die Verfassungsbeschwerden sind begründet.
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1. Offenbleiben kann, ob § 150 Abs. 1 BEG n. F. den Tatbestand gegenüber dem des § 150 Abs. 1 BEG a. F. erweitert hat. Während die alte Fassung zur persönlichen Anspruchsvoraussetzung machte, daß der Verfolgte aus den Vertreibungsgebieten "Vertriebener im Sinne des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes" war, knüpft § 150 Abs. 1 BEG n. F. die Anspruchsberechtigung daran, daß der verfolgte Vertriebene "dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat". Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urteil vom 28. Januar 1966, RzW 1966, S. 230 [231], Nr. 29) war Voraussetzung der Vertriebeneneigenschaft nach dem Bundesvertriebenengesetz, daß das Verlassen der Heimat im Zusammenhang mit Nötigungen wegen der deutschen Volkszugehörigkeit stand. Ob die Neufassung des § 150 Abs. 1 BEG diesen Zusammenhang aufgibt und damit den Kreis der Berechtigten erweitert, braucht nicht entschieden zu werden. Es genügt festzuhalten, daß die Rückwirkung der Neufassung des § 150 Abs. 2 BEG nur insoweit rechtsstaatswidrig sein kann, als die Betroffenen vor der Änderung anspruchsberechtigt waren. Für den gegebenenfalls erstmals durch § 150 Abs. 1 BEG n. F. erfaßten Personenkreis, dessen Ansprüche lediglich an dem Stichtag scheitern, liegt hingegen keine belastende Rückwirkung vor. Das Gesetz greift insoweit nicht in eine bestehende Rechtsposition ein, sondern versagt nur, was auch vorher nicht zustand.
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a) Nach § 150 BEG a. F. waren auch diejenigen Verfolgten anspruchsberechtigt, die erst nach dem 1. Oktober 1953 Vertriebene im Sinne von § 1 BVFG wurden. Das BEG-Schlußgesetz vom 14. September 1965 änderte die Rechtslage rückwirkend, als es in § 150 Abs. 2 BEG n. F. diesen Stichtag aufnahm, und damit diesem Personenkreis Entschädigungsansprüche versagte, also an die Stelle der für einen vergangenen Zeitraum geltenden rechtlichen Ordnung nachträglich eine andere treten ließ (vgl. BVerf- GE 13, 279 [282]). Die Einfügung des Stichtags, der an den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesergänzungsgesetzes (§ 113 BErgG) geknüpft ist, hat also nicht lediglich klarstellende Bedeutung. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
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aa) Dem Wortlaut der Norm läßt sich, wie auch der Bundesgerichtshof annimmt (Urteil vom 28. Januar 1966, RzW 1966, S. 230 [231], Nr. 29), kein Hinweis darauf entnehmen, daß die Verfolgten aus den Vertreibungsgebieten ihre Heimat bis zum 1. Oktober 1953 verlassen haben müßten. Auch der in § 150 Abs. 1 BEG a. F. in Bezug genommene § 1 BVFG beschränkte die Vertriebeneneigenschaft nicht durch einen Stichtag, bis zu dem spätestens die Heimat verlassen sein mußte. Der Zusammenhang mit § 1 BVFG legt im Gegenteil den Schluß nahe, einen Stichtag habe es für die Vertriebeneneigenschaft und damit mangels gegenteiliger Aussage auch für die Anspruchsvoraussetzungen des § 150 BEG a. F. nicht gegeben. Denn danach ist nicht nur Vertriebener, wer seinen Wohnsitz in den Vertreibungsgebieten im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Weltkriegs verloren hat (Abs. 1); als solcher gilt auch nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG derjenige, der nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen ein Land des Ostblocks "verlassen hat oder verläßt". Damit war jedenfalls für die Spätaussiedler klargestellt, daß sie das entscheidende Tatbestandsmerkmal "Vertriebener" ohne zeitliche Begrenzung erfüllen konnten. In den dem Vorlagebeschluß sowie den einzelnen Verfassungsbeschwerden zugrundeliegenden Fällen handelt es sich um solche Spätaussiedler aus Ostblockländern.
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Auch ein systematischer Vergleich verschiedener Bestimmungen des Bundesentschädigungsgesetzes spricht dafür, daß § 150 BEG a. F. einen Stichtag nicht kennt: § 4 BEG a. F., der die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für Normalfälle festlegt, enthielt in Absatz 1 Nr. 1 Buchst. e den Tatbestand, der von demselben Vertriebenenbegriff wie § 150 Abs. 1 BEG a. F. ausgeht. In § 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e verdeutlicht ein Zusatz, daß kein Stichtag bestimmte Vertriebene ausschließt: "... Vertriebener ... ist und seinen Wohnsitz ... genommen hat oder nimmt". Da dies, bis auf die Klausel von der Wohnsitznahme, für Vertriebene eine Parallelbestimmung zu der Sonderregelung des § 150 BEG a. F. darstellt, kann auch für diese - da eine abweichende Formulierung nicht gewählt ist - auf das Fehlen einer Stichtagsbegrenzung geschlossen werden (ebenso BGH a.a.O.). Dies wird dadurch bestätigt, daß der Gesetzgeber bei der anderen "besonderen Gruppe von Verfolgten" (§ 160 BEG a. F.) einen Stichtag ("... bei Inkrafttreten dieses Gesetzes Staatenloser ... ist") für notwendig hielt und dies ausdrücklich in die Anspruchsvoraussetzungen aufnahm.
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Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn der gesetzlichen Regelung. Die Begünstigung der aus § 150 BEG a. F. Berechtigten dadurch, daß diese auch nach 1953 noch die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen konnten, gegenüber den Verfolgten nach § 160 BEG a. F. findet entgegen der Meinung der Bundesregierung ihre Rechtfertigung in der Zugehörigkeit der erstgenannten Gruppe zum deutschen Volkstum, die bei den Staatenlosen und Flüchtlingen im Sinne der Genfer Konvention (§ 160) fehlt. § 160 war folgerichtig auch subsidiär gegenüber § 150 (§ 160 Abs. 4 BEG a. F.). Dem Zweck der bevorzugten Behandlung der deutschen Volkszugehörigen, die der Wortlaut der beiden Bestimmungen anzeigt, widerspräche die Annahme eines stillschweigend mitzulesenden Stichtags in § 150 BEG a. F.
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Aus der Entstehungsgeschichte läßt sich ebenfalls nichts entnehmen, was für die Hineinnahme eines Stichtags in § 150 BEG a. F. spräche. Die Bundesregierung ist der Meinung, eine auf solche Verfolgte beschränkte Geltung der Ansprüche aus § 150 BEG a. F., die vor dem 1. Oktober 1953 vertrieben wurden, ergebe sich aus dem Zusammenhang mit dem Haager Protokoll Nr. 1 vom 10. September 1952. § 68 BErgG, der im wesentlichen dem späteren § 150 BEG a. F. gleicht, knüpfe an Ziff. 12 Abs. 5 des Haager Protokolls an, aus dessen Formulierung "ausgewandert oder ... übergesiedelt sind" hervorgehe, daß nur die bereits damals ausgewanderten Verfolgten entschädigungsberechtigt sein sollten. Die Auslegung dieser Vorschrift des Haager Protokolls kann jedoch auf sich beruhen.
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Zutreffend ist zwar, daß die Bundesrepublik Deutschland den Verpflichtungen, die sie im Haager Protokoll eingegangen war, mit dem Erlaß des Bundesergänzungsgesetzes nachkam. Es stellte jedoch nur ein Mindestprogramm dar (vgl. die Abgeordneten Dr. Böhm und Hirsch, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 4. Wahlperiode, 96. Sitzung, Protokoll S. 4414, 4418), über das hinauszugehen der Gesetzgeber nicht gehindert war (ebenso BGH in RzW 1966, S. 230 [231], Nr. 29). Unter diesen Umständen kommt gegenüber dem klaren Wortlaut von § 68 BErgG und § 150 BEG a. F. dem Haager Protokoll für eine etwaige einschränkende Auslegung keine Bedeutung zu.
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Die Gesetzesmaterialien lassen im Gegenteil den Schluß zu, auch der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, die hier zu prüfende Norm enthalte keinen Stichtag. In der amtlichen Begründung zum Regierungsentwurf der Neufassung des Bundesergänzungsgesetzes, der dem späteren Bundesentschädigungsgesetz a. F. zugrundelag, vom 9. Dezember 1955 findet sich der eindeutige Satz:
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"Während es im Rahmen des § 68 (BErgG) nicht darauf ankommt, wann der Verfolgte, der Vertriebener im Sinne von §§ 1 und 2 des Bundesvertriebenengesetzes ist, das Vertreibungsgebiet verlassen hat, ..." (BTDrucks. II/1949, zu § 69, S. 173).
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bb) Die Auffassung der Bundesregierung, der Stichtag des § 150 Abs. 2 BEG n. F. habe die Rechtslage nur klargestellt und bestehende Zweifel ausgeräumt, findet auch in der Praxis der Behörden und Gerichte sowie im Schrifttum zu § 150 BEG a. F. keine Stütze. Der Bundesgerichtshof verweist in seinem Urteil vom 28. Januar 1966 (RzW 1966, S. 230 ff., Nr. 29) zutreffend darauf, er habe in seiner Rechtsprechung zu § 150 BEG a. F. Entschädigungsansprüche nicht daran scheitern lassen, daß Verfolgte aus den Vertreibungsgebieten erst nach dem 1. Oktober 1953 vertrieben worden waren (vgl. BGH in RzW 1962, S. 416, Nr. 21; RzW 1964, S. 34, Nr. 21). Zum gegenteiligen Ergebnis kam das Oberlandesgericht Köln in seinem erst nach der Einbringung des Regierungsentwurfs zum BEG-Schlußgesetz ergangenen Urteil vom 19. Juni 1964 (RzW 1964, S. 465 ff., Nr. 34) unter ausdrücklicher Hervorhebung, diese Rechtslage sei "bisher von der Rechtsprechung und zwar auch von dem erkennenden Senat verkannt worden". Dieses Urteil blieb jedoch isoliert und bestätigt nur, daß die Rechtsprechung jedenfalls bis 1964 einheitlich davon ausgegangen war, daß § 150 BEG a. F. die Anspruchsberechtigten nicht durch einen Stichtag begrenzt hat.
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Auch die Praxis der Entschädigungsbehörden richtete sich nach dieser Rechtsauffassung. Die Darstellung der Bundesregierung, bald nach der ungarischen Revolution habe das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen als die zentral zuständige oberste Entschädigungsbehörde für die aus § 150 BEG a. F. berechtigte Verfolgtengruppe (§ 185 Abs. 5 Nr. 1 BEG a. F.) bezüglich der aus osteuropäischen Ländern ausgewanderten jüdischen Spätaussiedler eine allgemeine Entschädigungssperre ausgesprochen, die anfangs mit dem Nichtvorliegen der Vertriebeneneigenschaft, später auch mit dem angeblich für § 150 BEG a. F. geltenden Stichtag des 1. Oktober 1953 begründet worden sei, ist nach einem Erlaß des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen nur teilweise zutreffend. Dieser Erlaß vom 2. September 1959 (5/501 a/2), die Auslegung des § 150 BEG a. F. betreffend, lautete:
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"Ich bitte, der auch in dem Urteil ... vertretenen Auffassung zu folgen, wonach § 150 BEG nicht voraussetzt, daß die Vertriebeneneigenschaft bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens des BEG bestanden haben muß. Die im Bezugserlaß (vom 14. November 1958 - 5/501/1 a -) vertretene Auffassung wird nicht aufrechterhalten."
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Angesichts der Tatsache, daß danach die allein zuständige oberste Verwaltungsbehörde nur kurze Zeit § 150 BEG a. F. anders auslegte als die Gerichte und diese Auffassung 1959 wieder aufgab, kann auch von einer im wesentlichen einheitlichen Praxis der Entschädigungsbehörden gesprochen werden, auch den nach dem 1. Oktober 1953 aus den Ostblockstaaten vertriebenen Juden Ansprüche nach §§ 150 ff. BEG a. F. bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen zuzusprechen. Soweit sich teilweise Schwierigkeiten bezüglich des tatsächlichen Vorliegens bestimmter Tatbestandsvoraussetzungen - insbesondere der Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum und deren Zusammenhang mit der Vertreibung - ergaben, hat dies mit der normativen Geltung eines Stichtags nichts zu tun. Eine Änderung der Praxis der Entschädigungsbehörden scheint sich auf Weisung des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen erst im Zusammenhang mit der Einbringung des Entwurfs des späteren BEG-Schlußgesetzes Ende 1963 ergeben zu haben.
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Auch im Schrifttum war, soweit ersichtlich, bis zur Verkündung des BEG-Schlußgesetzes kein Hinweis auf die Geltung eines Stichtags in § 150 BEG a. F. zu finden (vgl. Blessin-Ehrig-Wilden, Kommentar zum BEG, 3. Aufl. 1960, § 150 Rdnr. 13, 14).
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b) Bei § 150 Abs. 2 BEG n. F. handelt es sich um eine echte Rückwirkung, die hier auch nicht durch besondere Umstände gerechtfertigt ist.
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aa) Ein rückwirkendes Gesetz verstößt zwar nicht immer gegen die Verfassung. Das absolute Rückwirkungsverbot des Strafrechts gilt nicht allgemein für die Rechtsordnung. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind aber belastende Gesetze, die abgeschlossene Tatbestände rückwirkend erfassen, regelmäßig "unvereinbar mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit, zu dessen wesentlichen Elementen die Rechtssicherheit gehört, die ihrerseits für den Bürger in erster Linie Vertrauensschutz bedeutet" (BVerfGE 18, 429 [439]; ebenso 23, 12 [32]; 24, 220 [229]). Echte (retroaktive) Rückwirkung in diesem Sinne liegt vor, wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift; dies steht im Gegensatz zur Einwirkung auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen (sog. unechte, retrospektive Rückwirkung) (vgl. BVerfGE 11, 139 [145 f.], ständige Rechtsprechung). Die Verfassung schützt grundsätzlich das Vertrauen darauf, daß die mit abgeschlossenen Tatbeständen verknüpften gesetzlichen Rechtsfolgen anerkannt bleiben (vgl. BVerfGE 13, 261 [271]). Wegen der Allgemeinheit des vom Grundgesetz nicht auf die deutschen Staatsbürger beschränkten Gebots des Rechtsstaatsprinzips für die Rechtsordnung hat dieser Grundsatz auch für Ausländer Gültigkeit. Auch das Vertrauen eines Ausländers, der unter die Regelung eines deutschen Gesetzes fällt, ist grundsätzlich zu schützen.
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Das BEG-Schlußgesetz, das den Anspruchstatbestand des § 150 BEG a. F. rückwirkend durch einen Stichtag beschränkt, stellt für diejenigen, die damit von einer Entschädigung ausgeschlossen wurden, die ihnen vorher zustand, eine belastende Regelung dar. Als belastende Gesetze sind nicht nur die Abgabengesetze und andere Gesetze, die Ge- oder Verbote enthalten, sondern alle eine bestehende Rechtsposition verschlechternde Normen anzusehen. Für diejenigen Verfolgten, die nach dem 1. Oktober 1953 Vertriebene im Sinne von § 1 BVFG wurden und die deshalb nach § 150 Abs. 2 BEG n. F. nicht mehr entschädigungsberechtigt sind, ist also die angegriffene Regelung belastender Natur.
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Sie griff auch in abgeschlossene Tatbestände ein. Denn der Sachverhalt, an den die entsprechenden Anspruchsnormen des Bundesentschädigungsgesetzes anknüpfen, lag in allen Fällen abgeschlossen in der Vergangenheit. Bei Rechtssätzen, die Rechtsansprüche einräumen, bedeutet dabei "abgewickelter Tatbestand" nicht "zuerkannt durch Bescheid", da es nur auf die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale und nicht auf die behördlichen Vollzugsakte ankommen kann. Um bei Anspruchsnormen von "echter Rückwirkung" sprechen zu können, genügt es, daß der Gesetzgeber in Sachverhalte eingreift, die vor der Gesetzesverkündung abgeschlossen waren und die die Voraussetzungen des bisher geltenden Anspruchstatbestands erfüllten.
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bb) Das grundsätzliche Verbot von belastenden Gesetzen mit echter Rückwirkung beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes, der dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt. Ausnahmen können nur dann gelten, wenn das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage nicht schutzwürdig, weil sachlich nicht gerechtfertigt ist (vgl. BVerfGE 13, 261 [271 f.]). Solche besonderen Umstände liegen hier nicht vor.
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(A) Ein Schutz des Vertrauens ist dann nicht gefordert, wenn in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit einer solchen Regelung zu rechnen war (vgl. BVerfGE 13, 261 [272] mit weiteren Nachweisen).
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Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach entschieden, daß Regelungen des Bundesergänzungsgesetzes nicht geeignet gewesen sind, Vertrauen auf ihr Fortbestehen zu erwecken, da diese ausgesprochen vorläufigen Charakter besessen hätten und darüber auch in den Kreisen der Verfolgten kein Zweifel bestanden habe (BVerfGE 13, 39 [45 f.]; 18, 196 [202 f.]). Dies gilt aber nicht für das Bundesentschädigungsgesetz (a. F.), das als grundlegende Neufassung des Bundesergänzungsgesetzes am 29. Juni 1956 verabschiedet wurde. Das Bundesentschädigungsgesetz a. F. wurde sorgfältig vorbereitet und ging über den Rahmen einer bloß technischen Novelle weit hinaus (vgl. Abgeordneter Dr. Böhm, Verhandlungen Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, 96. Sitzung, Protokoll S. 4415). Der Gesetzgeber wollte das Provisorium des Bundesergänzungsgesetzes durch eine endgültige Regelung ablösen. Daran ändert auch die Erwägung der Bundesregierung nichts, bei der Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes a. F. habe nicht vorausgesehen werden können, daß nach der ungarischen Revolution ein großer Personenkreis aus Ostblockländern auswandern konnte, der nun Ansprüche nach § 150 BEG a. F. stellte, an den aber bei der Abfassung des Gesetzes nicht gedacht gewesen sei. Wenn der Gesetzgeber eine Regelung ex post für lückenhaft oder zu weitgehend hält, kann er sie - in der Regel mit Wirkung ex nunc - ändern. Dies verleiht jedoch dem Gesetz nicht nachträglich einen vorläufigen Charakter.
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Offenbleiben kann, ob das Bekanntwerden der Änderungsabsichten des Gesetzgebers genügte, um den Vertrauensschutz aufzuheben. Denn dann wäre frühestens auf den Zeitpunkt der Einbringung des Entwurfs des Zweiten Änderungsgesetzes im Bundestag, also den November 1963, abzustellen. Zu dieser Zeit aber war in allen zur Entscheidung stehenden Fällen bereits der anspruchsbegründende Tatbestand abgeschlossen
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(B) Auf das geltende Recht kann sich der Bürger auch dann nicht verlassen, wenn die Rechtslage unklar und verworren oder lückenhaft ist (vgl. BVerfGE 7, 129 [151 ff.]; 11, 64 [73 ff.]; 13, 261 [272]) oder in dem Maße systemwidrig und unbillig, daß ernsthafte Zweifel an deren Verfassungsmäßigkeit bestehen (vgl. BVerfGE 13, 215 [224]; 19, 187 [197]). In diesen Fällen erfordert das Rechtsstaatsprinzip selbst, daß die Rechtssicherheit und Gerechtigkeit durch eine klärende Regelung rückwirkend hergestellt wird.
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Die Besserstellung des unter § 150 BEG a. F. fallenden Personenkreises gegenüber den nach § 160 BEG a. F. Anspruchsberechtigten war sachlich gerechtfertigt und nicht systemwidrig (siehe oben B II 2.a.aa.). Die Rechtslage nach § 150 BEG a. F. war auch klar und in der praktischen Anwendung eindeutig. Es lag in der Eigenart der Materie des Gesetzes, daß die tatsächlichen Feststellungen oft nur schwer zu treffen waren. Schwierigkeiten, die der Beweis der Merkmale der Vertriebeneneigenschaft bereitete, traten aber ebenso bei anderen, auch später nicht mit einem Stichtag versehenen Tatbeständen auf (so bei § 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e BEG a. F.). Wenn die Bundesregierung in diesem Zusammenhang von "Rechtsunsicherheit" spricht, so verkennt sie den Umstand, daß gerade über die rechtliche Frage, ob § 150 BEG a. F. den Stichtag des 1. Oktober 1953 enthalte, in der Rechtsprechung keine Zweifel bestanden. Der Gesetzgeber durfte nicht angesichts der klaren Rechtslage die zutreffende Rechtsprechung rückwirkend korrigieren und sie "gleichsam für die Vergangenheit ins Unrecht zu setzen" versuchen (BVerfGE 18, 429 [439]).
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(C) Das Vertrauen der Betroffenen auf die geltende Rechtslage bedürfte auch dann nicht des Schutzes gegenüber sachlich begründeten rückwirkenden Gesetzesänderungen, wenn dadurch kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht worden wäre. Auch das Rechtsstaatsprinzip schützt nicht vor jeglicher Enttäuschung (vgl. BVerfGE 14, 288 [299]; 22, 241 [252]). Die gesetzliche Regelung muß generell geeignet sein, aus dem Vertrauen auf ihr Fortbestehen heraus Entscheidungen und Dispositionen herbeizuführen oder zu beeinflussen, die sich bei Änderung der Rechtslage als nachteilig erweisen (BVerfGE 13, 39 [45 f.]).
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Der Schaden, den die nunmehr von der Anspruchsberechtigung nach § 150 BEG n. F. Ausgeschlossenen erlitten, besteht darin, daß sie der Entschädigungsansprüche verlustig gingen, die sie nach dem Gesetz errechnen und nach der Rechtslage auch fest erwarten konnten, da insoweit den Behörden kein Ermessensspielraum zustand. Das Vertrauen auf diese Ansprüche, die nicht nur bloße Hoffnungen darstellten, veranlaßte naturgemäß gewisse Dispositionen, ohne daß dies von den Betroffenen im einzelnen dargelegt werden müßte. Im übrigen stellt ein öffentlich-rechtlicher Anspruch auf nicht unerhebliche Geldleistungen einen Vermögenswert dar.
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Der Bundesgerichtshof begründet seine Ansicht, § 150 Abs. 2 BEG n. F. sei mit dem Grundgesetz vereinbar, im wesentlichen mit der Behauptung, die Zahl derer, die bei den "nur ganz geringen Chancen" für die Erbringung der erforderlichen Beweise mit dem Gelingen der Beweisführung hätten rechnen können, sei "so verschwindend klein, daß von ihnen die Abschneidung der Beweismöglichkeit durch die Einführung des Stichtags in Kauf genommen werden" müsse (Urteil vom 28. Januar 1966, RzW 1966, S. 230 [232], Nr. 29). Demgegenüber bleibt festzuhalten, daß eine nachteilige Regelung auch dann am Rechtsstaatsprinzip zu messen ist, wenn sie nur wenige Bürger betrifft. Sie jedenfalls werden in ihrem berechtigten Vertrauen auf die geltende Rechtslage enttäuscht. Eine nicht unerhebliche Verschlechterung dieser Rechtslage auch nur für wenige Betroffene kann eine rückwirkende Regelung ungültig machen. Die Stichtagsregelung kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer notwendigen und unter Umständen zulässigen Typisierung gerechtfertigt werden. Denn der Gesetzgeber hat dem parallelen Anspruchstatbestand des § 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e BEG, der ebenfalls an den Vertriebenenbegriff von § 1 BVFG anknüpft und sich im wesentlichen nur durch die Voraussetzung der Wohnsitznahme in der Bundesrepublik von § 150 BEG a. F. unterscheidet, lediglich den - nicht rückwirkenden - Stichtag des 30. April 1965 ("oder nach diesem Zeitpunkt innerhalb von sechs Monaten" nach Verlassen der Heimat) eingefügt. Diese verschiedene Behandlung der verfolgten Spätaussiedler spricht dafür; daß eine Beschränkung der Zahl der aus § 150 BEG berechtigten Personen das Ziel der Stichtagsregelung war.
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Für die nach dem 1. Oktober 1953 aus ihrer Heimat Vertriebenen, die wegen des Stichtags von einer Entschädigung nach § 150 BEG n. F. ausgeschlossen sind, gewährt das Gesetz nunmehr eine pauschalierte Beihilfe (Art. V BEG-Schlußgesetz). Dies vermindert zwar den durch das enttäuschte Vertrauen auf volle Entschädigungsansprüche entstandenen Schaden. In Anbetracht des stark begrenzten Kreises der dort in Verweisung genommenen Schadenstatbestände sowie der zumeist um ein Vielfaches niedrigeren Leistungen nach Art. V BEG-Schlußgesetz kann dies aber die Nachteile der Betroffenen nicht entscheidend ausgleichen. Es bleibt eine erhebliche Verschlechterung der Rechtslage bestehen.
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(D) Es ist schließlich nicht ersichtlich, daß zwingende Gründe des gemeinen Wohls, die dem Vertrauensschutz vorgehen, die Rückwirkung hier rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 13, 261 [272]). Dafür gelten strengere Voraussetzungen als im Falle einer unechten Rückwirkung, bei der lediglich die Anforderungen des Gemeinwohls mit dem Ausmaß des Vertrauensschadens abzuwägen sind (vgl. BVerfGE 14, 288 [299 f.]; 22, 241 [249 ff.]; 24, 220 [230 ff,]; 25, 142 [154 f.].
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Ob die finanzielle Last der Wiedergutmachung, die der Finanzminister bei der Vorlage des Regierungsentwurfs des BEG- Schlußgesetzes im Bundestag hervorhob (Verhandlungen Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, 96. Sitzung, Protokoll S. 4408 f.), auch speziell die Stichtagsregelung des § 150 Abs. 2 BEG n. F. motivierte, lassen die Gesetzesmaterialien nicht erkennen. Sicher ist, daß das Gesetz die noch zu erbringenden Wiedergutmachungsleistungen überschaubar machen und die Wiedergutmachung zu einem Abschluß bringen sollte. Diese Absicht wird jedoch dadurch nicht in Frage gestellt, daß sich die Einführung des Stichtags in § 150 Abs. 2 BEG n. F., soweit sie Verfolgte, die nach der alten Fassung anspruchsberechtigt waren, betrifft, als rechtsstaatlich unhaltbar erweist. Die dadurch unvermeidlich entstehende größere finanzielle Belastung des Haushalts ist begrenzt und relativ gering, so daß jedenfalls der Vertrauensschutz, den das Rechtsstaatsprinzip fordert, vorgehen muß.
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Schließlich genügt auch die Überlegung, die Neuregelung solle den Behörden und Gerichten die Abwicklung der Entschädigungsansprüche erleichtern, nicht, um eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der echten Rückwirkung belastender Gesetze zu rechtfertigen.
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3. Da § 150 Abs. 2 BEG n. F. im dargelegten Umfang bereits wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, kommt es nicht darauf an, ob auch die Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 GG verletzt sind.
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III. |
Soweit darnach § 150 Abs. 2 BEG n. F. mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, ist er gemäß § 78 BVerfGG für nichtig zu erklären.
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Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
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