BVerfGE 46, 160 - Schleyer |
Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle bei der Bekämpfung lebensbedrohender terroristischer Erpressungen. |
Urteil |
des Ersten seants vom 16. Oktober 1977 auf die mündliche Verhandlung vom 15. Oktober 1977 |
-- 1 BvQ 5/77 -- |
in dem Verfahren über den Antrag des Herrn Dr. Hanns-Martin Sch..., ... gegen 1. die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland, ... 2. die Regierung des Landes Baden Würtemberg, ... 3. die Regierung des Freistaats Bayern, ... 4. die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen, ... 5. den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, ... auf Erlaß eines einstweiligen Anordnung. |
Entscheidungsformel: |
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. |
Gründe: |
A. |
1. Der Antragsteller ist am 5. September 1977 nach Ermordung seiner Begleitpersonen von Terroristen entführt worden und befindet sich seither in deren Gewalt. Die Entführer haben gegenüber der Bundesregierung und dem Bundeskriminalamt die Freilassung des Antragstellers von der Erfüllung bestimmter Forderungen abhängig gemacht und bei Nichterfüllung dessen "Hinrichtung" angedroht. Sie fordern u. a., daß elf namentlich benannte, in Untersuchungshaft oder Strafhaft einsitzende Terroristen freizulassen sind und ihnen die Ausreise aus der Bundesrepublik zu gestatten ist.
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Die Rechtsvertreter des Antragstellers begehren den Erlaß folgender einstweiliger Anordnung:
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"Die Antragsgegner sind gehalten, den Forderungen der Entführer des Dr. Hanns-Martin Sch ... auf Freilassung und Gewährung freier Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland von namentlich von den Entführern benannten Häftlingen als unabdingbare Voraussetzung zur Abwendung gegenwärtiger, drohender Gefahr für das Leben des Antragstellers stattzugeben.
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Hilfsweise: Die Antragsgegner haben es zu unterlassen, die Freilassung und Gewährung freier Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland von namentlich von den Entführern des Antragstellers benannten Häftlingen zu verweigern, die zur Abwendung der gegenwärtigen, nicht anders zu beseitigenden Gefahr für Leben und Leib des Antragstellers unabdingbar erforderlich sind."
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Sie machen geltend:
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Die politische Entscheidung und Verantwortung für die Erfüllung oder Ablehnung der Forderungen der Entführer sei der Antragsgegnerin zu 1 auferlegt; die Antragsgegner zu 2 bis 5 seien als Träger der Verwaltungshoheit über die Straf- und Vollzugsanstalten, in denen die betreffenden Häftlinge einsäßen, passiv legitimiert.
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Es sei gerichtsbekannt, daß das Leben des Antragstellers in höchstem Maße bedroht sei. Angesichts der Entschlossenheit der Terroristen komme die Weigerung, auf deren Hauptforderung einzugehen, einem bewußten Einwirken der staatlichen Gewalt auf Leib und Leben des Antragstellers gleich. Auf Grund des Art. 2 Abs. 2 GG sei der Staat zum Lebensschutz verpflichtet, das heiße vor allem, das Leben vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1 [42]). Demgegenüber dürften sich die Antragsgegner nicht darauf berufen, der Schutz höherwertiger Rechtsgüter verpflichte sie, das Leben des Antragstellers zu opfern; denn es gebe kein höherwertiges Rechtsgut als das Leben. Sie seien auch nicht durch Rechtsvorschriften an der Freilassung der Gefangenen gehindert; denn sie könnten sich auf rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) berufen.
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Der Antragsteller habe ferner einen grundrechtlich durch Art. 3 Abs. 1 GG verbürgten Anspruch gegen die staatliche Gewalt auf Gleichbehandlung. Im Entführungsfall Peter Lorenz sei den Forderungen der Entführer auf Freilassung mehrerer Gefangener stattgegeben worden, um das bedrohte Leben des Entführten zu retten.
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Die Antragsgegner hätten die Forderungen der terroristischen Entführer bislang nicht akzeptiert, obwohl seit dem 13. Oktober 1977 nach der Entführung einer Lufthansa-Maschine das Leben weiterer 91 Menschen von der Entscheidung der Antragsgegner abhänge. Dies belege die Dringlichkeit und Begründetheit des Antrages.
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2. Für die Bundesregierung hat der Bundesminister der Justiz Stellung genommen. Er hält den Antrag für nicht begründet. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG binde den Staat, das Leben eines Menschen auch gegen Angriffe Dritter zu schützen. Im vorliegenden Falle ständen die verantwortlichen staatlichen Organe jedoch vor folgender Abwägung: Einerseits gehe es darum, alles Menschenmögliche zu tun, um das Leben des Antragstellers zu schützen. Auf der anderen Seite werde aber mit dem Eingehen auf die Forderungen der Entführer das Leben weiterer Unbeteiligter in höchstem Maße gefährdet; denn die elf inhaftierten Terroristen seien besonders gefährlich. Nach ihrer Freilassung würden sie, wie die Erfahrungen nach dem Entführungsfall Lorenz gezeigt hätten, ihr verbrecherisches Tun fortsetzen. Mit diesen Forderungen solle die Grundlage der Rechtsstaatlichkeit getroffen werden. Ihre Erfüllung würde den Staat um die Fähigkeit bringen, Schutz zu gewähren. In dieser außerordentlichen Notsituation gebe es keine Entscheidung, die, an den Maßstäben des Grundgesetzes gemessen, als die allein richtige bezeichnet werden könne. Vielmehr müsse den verantwortlichen staatlichen Organen ein Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum verbleiben. Der Grundsatz des judicial self-restraint (vgl. BVerfGE 36, 1 [14 ff.]), der darauf abziele, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten, müsse deshalb auch hier gelten.
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3. In der nichtöffentlichen mündlichen Verhandlung haben sich für den Antragsteller die Rechtsanwälte Dr. Mailänder und Dr. Gerstenmaier sowie für die Bundesregierung und die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen Bundesjustizminister Dr. Vogel geäußert.
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B. |
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Zwar darf durch eine einstweilige Anordnung die Hauptsache nicht vorweg genommen werden (vgl. BVerfGE 3, 41 [43] und ständige Rechtsprechung). Die vom Antragsteller begehrten Maßnahmen kommen einer solchen Vorwegnahme zumindest sehr nahe. Dadurch wird jedoch die Zulässigkeit des Antrages nicht in Frage gestellt, da unter den obwaltenden Umständen eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise zu spät kommen würde (BVerfGE 34, 160 [163]). Allerdings kann in Fällen dieser Art die Prüfung des Antrages nicht auf die üblicherweise gebotene Abwägung der Folgen (vgl. BVerfGE 12, 276 [279] und ständige Rechtsprechung) beschränkt werden. Vielmehr muß bei der summarischen Prüfung darauf abgestellt werden, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen würde.
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C. |
Diese Prüfung ergibt, daß der Antrag keinen Erfolg haben kann.
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I. |
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet den Staat, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht ist umfassend. Sie gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren (BVerfGE 39, 1 [42]). An diesem Gebot haben sich alle staatlichen Organe, je nach ihren besonderen Aufgaben, auszurichten. Da das menschliche Leben einen Höchstwert darstellt, muß diese Schutzverpflichtung besonders ernst genommen werden.
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II. |
Wie die staatlichen Organe ihre Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des Lebens erfüllen, ist von ihnen grundsätzlich in eigener Verantwortung zu entscheiden. Sie befinden darüber, welche Schutzmaßnahmen zweckdienlich und geboten sind, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten (BVerfGE a.a.O. S. 44). Ihre Freiheit in der Wahl der Mittel zum Schutz des Lebens kann sich in besonders gelagerten Fällen auch auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen, wenn ein effektiver Lebensschutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist. Entgegen der durchaus verständlichen Meinung des Antragstellers ist ein solcher Fall hier jedoch nicht gegeben.
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Die Eigenart des Schutzes gegen lebensbedrohende terroristische Erpressungen ist dadurch gekennzeichnet, daß die gebotenen Maßnahmen der Vielfalt singulärer Lagen angepaßt sein müssen. Sie können weder generell im voraus normiert noch aus einem Individualgrundrecht als Norm hergeleitet werden. Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger. Eine wirksame Wahrnehmung dieser Pflicht setzt voraus, daß die zuständigen staatlichen Organe in der Lage sind, auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles angemessen zu reagieren; schon dies schließt eine Festlegung auf ein bestimmtes Mittel aus. Darüber hinaus kann eine solche Festlegung insbesondere deshalb nicht von Verfassungs wegen erfolgen, weil dann die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar würde. Damit würde dem Staat der effektive Schutz seiner Bürger unmöglich gemacht. Dies stünde mit der Aufgabe, die ihm durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gestellt ist, in unaufhebbarem Widerspruch.
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Aus den gleichen Gründen kann auch unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht in allen Entführungsfällen eine schematisch gleiche Entscheidung geboten sein.
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Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Lage kann das Bundesverfassungsgericht den zuständigen staatlichen Organen keine bestimmte Entschließung vorschreiben. Es liegt in der Entscheidung der Antragsgegner, welche Maßnahmen zur Erfüllung der ihnen obliegenden Schutzpflichten zu ergreifen sind.
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Dr. Benda, Dr. Böhmer, Dr. Simon, Dr. Faller, Dr. Hesse, Dr. Katzenstein |