BVerfGE 49, 220 - Zwangsversteigerung III |
Zum grundrechtlichen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz in der Zwangsversteigerung. |
Beschluß |
des Ersten Senats vom 27. September 1978 |
-- 1 BvR 361/78 -- |
in dem Verfahren ... |
Entscheidungsformel: |
Der Zuschlagsbeschluß des Amtsgerichts Wittlich vom 21. Juli 1977 - 7 K 8/76 -, der Beschluß des Landgerichts Trier vom 24. November 1977 - 6 T 30/77 - sowie der Beschluß des Oberlandesgerichts Koblenz vom 8. Februar 1978 - 4 W 767/77 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. |
Das Verfahren wird an das Amtsgericht Wittlich zurückverwiesen. |
Das Land Rheinland-Pfalz hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. |
Gründe: |
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich dagegen, daß ein von der Beschwerdeführerin bewohntes Grundstück wegen einer Forderung von etwa eintausend Deutsche Mark im Wege der Zwangsvollstreckung versteigert worden ist.
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I. |
1. Auf Grund eines für vollstreckbar erklärten Zahlungsbefehls über einen Betrag von 910,51 DM sowie eines Kostenfestsetzungsbeschlusses von 77,91 DM beantragte die Gläubigerin des Ausgangsverfahrens die Zwangsversteigerung des Grundstücks der Beschwerdeführerin, das diese im Oktober 1974 für einen Gesamtbetrag von rund 46.000 DM erworben hatte und selbst bewohnt. Einen Versuch, die ihr zugesprochene Forderung durch Mobiliarvollstreckung oder Forderungspfändung zu realisieren, unternahm die Gläubigerin nicht.
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Der Rechtspfleger des Amtsgerichts Wittlich ordnete am 27. Februar 1976 die Zwangsversteigerung an. Der Wert des Grundstücks wurde auf 41.000 DM festgesetzt.
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Mit Schreiben vom 3. September 1976 beantragte der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin, das Zwangsversteigerungsverfahren einstweilen nach § 30a ZVG einzustellen. Es bestünden Anzeichen dafür, daß die Titel, auf die sich die Gläubigerin stütze, keine rechtmäßige Basis für das Zwangsversteigerungsverfahren darstellten. Der Beschwerdeführerin drohe ein nicht wiedergutzumachender Schaden. Im übrigen stelle sich die Frage, ob die Zwangsversteigerung eines Grundstücks im Wert von nahezu 50.000 DM wegen einer vermeintlichen Forderung von etwa 1.000 DM nicht rechtsmißbräuchlich sei. Mit Schriftsatz vom 21. Februar 1977 beanstandete er, daß über den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung noch nicht entschieden sei.
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Der Rechtspfleger bestimmte den Versteigerungstermin auf den 21. Juli 1977. Der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin bat, diesen Termin aufzuheben. Er wies erneut darauf hin, daß über seinen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung trotz Erinnerung noch nicht entschieden sei. Er trug darüber hinaus vor, daß in der Summe von 910,51 DM ein Betrag von 290,13 DM enthalten sei, der ein noch nicht abgeschlossenes Strafverfahren betreffe. Er könne an dem Termin nicht teilnehmen, da er vom 18. Juli bis zum 6. August 1977 in Urlaub sei. Mit formlosem Schreiben vom 13. Juli 1977 lehnte der Rechtspfleger die Aufhebung des Termins ab. Er sei nicht gehalten, den Einstellungsantrag, der unbegründet sei, sofort zu bearbeiten.
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Zum Termin am 21. Juli 1977 erschien die Beschwerdeführerin nicht; sie war auch nicht vertreten. Auf das Höchstgebot von 21.000 DM erteilte der Rechtspfleger sofort nach Schluß der Versteigerung den Zuschlag. Zugleich lehnte er den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung mit folgender Begründung ab: Die von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Einwendungen gegen den Vollstreckungstitel seien im Vollstreckungsverfahren nicht zu berücksichtigen; sie könnten nur im Wege der Vollstreckungsgegenklage geltend gemacht werden. Es liege auch keine unbillige Härte im Sinne des § 765a ZPO vor. Schließlich sei es nicht rechtsmißbräuchlich, wenn ein Grundstück im Wert von fast 50.000 DM wegen einer Forderung von etwa 1.000 DM versteigert werde.
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Gegen den Zuschlagsbeschluß legte die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde ein. Sie wies unter anderem auf ihr Alter, eine schwere Erkrankung und ihr Schicksal als Heimatvertriebene hin. Das Grundstück habe für sie existentielle Bedeutung. Selbstverständlich sei sie jederzeit bereit, begründete Forderungen zu erfüllen und der Gläubigerin bis zur endgültigen Klärung der erhobenen Forderung Sicherheit zu leisten. Sie sei aber gerade durch die Gläubigerin daran gehindert worden, die Berechtigung der Forderung nachzuprüfen und die ihr zustehenden Rechtsmittel zu ergreifen. Die Gläubigerin habe die Zwangsversteigerung gewählt, um ihr Schaden zuzufügen. Die Höhe der titulierten Forderung stehe in keinem vertretbaren Verhältnis zum Wert des versteigerten Grundstücks und zu dem Schaden, der durch den weit unter Wert erfolgten Zuschlag eintrete. Im übrigen rügte sie das Verfahren des Rechtspflegers bei der Behandlung des Einstellungsantrags.
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Das Landgericht wies die Beschwerde zurück: Die Beschwerdeführerin könne mit ihrem Vorbringen schon deshalb nicht gehört werden, weil sie im Versteigerungstermin vor Erteilung des Zuschlags keinen Vollstreckungsschutzantrag gestellt habe. Selbst wenn man in der Eingabe der Beschwerdeführerin vom 3. September 1976 einen solchen Antrag sehen wolle oder die Nachholung in der Zuschlagsbeschwerde für zulässig erachte, sei nicht dargetan, daß der Zuschlag wegen ganz besonderer Umstände eine mit den guten Sitten nicht zu vereinbarende Härte für die Beschwerdeführerin bedeute. Sie werde durch die Zwangsversteigerung nicht anders und nicht härter betroffen als jeder andere Schuldner eines solchen Verfahrens.
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Auch die weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht blieb ohne Erfolg. Soweit das Landgericht dem umfangreichen neuen Sachvortrag zur persönlichen Situation der Beschwerdeführerin und zu den besonderen Umständen des vorliegenden Vollstreckungsverfahrens keine entscheidende Bedeutung beigemessen habe, sei die Beschwerde zulässig. Die Darlegungen hätten auch den Erfolg ihres Vollstreckungsschutzantrages beeinflussen und auch selbständig einen Antrag aus § 765a ZPO begründen können. Gleichwohl müsse das Rechtsmittel erfolglos bleiben, weil die Beschwerde gegen den Zuschlagsbeschluß nach § 100 Abs. 1 ZVG nur auf solche Gründe gestützt werden könne, die vor dem Zuschlag eingetreten und dem Vollstreckungsgericht vor diesem Zeitpunkt bekannt geworden seien. Das vom Vollstreckungsgericht eingeschlagene Verfahren verletzt auch nicht das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 14 GG.
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2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin geltend, die Art und Weise, wie die Zwangsversteigerung ihres Grundstücks durchgeführt worden sei, verstoße gegen ihre Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die beteiligten Gerichte hätten die Bedeutung dieser Grundrechte für das Zwangsversteigerungsverfahren nicht gesehen. Der Rechtspfleger habe der Beschwerdeführerin in unvertretbarer Weise die Möglichkeit genommen, die für die Gewährung von Vollstreckungsschutz sprechenden Umstände vorzutragen, indem er über den nahezu seit einem Jahr anhängigen Einstellungsantrag erst im Beschluß über die Erteilung des Zuschlags entschieden und diesen Beschluß trotz der urlaubsbedingten Abwesenheit des Bevollmächtigten sofort im Versteigerungstermin verkündet habe. Landgericht und Oberlandesgericht seien mit formalistischen Argumenten einer Auseinandersetzung mit den Gründen, die sie für eine Einstellung des Verfahrens vorgetragen habe, ausgewichen. Das Landgericht habe nicht erkannt, daß der erforderliche Vollstreckungsschutzantrag bereits im September 1976 gestellt worden sei. Das Oberlandesgericht habe dies zwar berichtigt. Seine Auffassung, mit der Zuschlagsbeschwerde könnten aber nur Umstände geltend gemacht werden, die beim Zuschlag vorgelegen und dem Vollstreckungsgericht bekannt gewesen seien, verstoße gegen § 100 Abs. 3 ZVG. Danach habe das Beschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen, ob die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens zulässig sei. Im Beschwerdeverfahren müßten auch Gründe berücksichtigt werden, die dem Vollstreckungsgericht noch nicht hätten vorgetragen werden können.
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Bei Berücksichtigung ihres sachlichen Vorbringens hätte ihr Vollstreckungsschutz gewährt werden müssen. Die Höhe der titulierten Forderung stehe in keinem Verhältnis zum Wert ihres Grundstücks und zu dem durch seine Versteigerung eintretenden Schaden. Dabei falle zusätzlich ins Gewicht, daß das Grundstück für sie nach vielen Schicksalsschlägen der einzige Ort sei, an dem sie sich frei und sicher fühlen könne, und daß sie dafür fast ihre ganzen Ersparnisse eingesetzt habe. Schließlich sei zu berücksichtigen, daß die titulierte Forderung teilweise offensichtlich nicht bestehe und im übrigen zumindest zweifelhaft sei.
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3. Der Justizminister des Landes Rheinland-Pfalz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
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4. Nach Ansicht der Ersteigerer verletzen die angefochtenen Entscheidungen keine Grundrechte der Beschwerdeführerin. Das Versteigerungsverfahren sei nicht zu beanstanden. Der Rechtspfleger habe über den Antrag auf Einstellung des Verfahrens zusammen mit dem Zuschlag entscheiden dürfen.
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II. |
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Gerichte haben bei der Gestaltung des Verfahrens die Bedeutung des Verfassungsrechts für das Zwangsversteigerungsverfahren nicht ausreichend berücksichtigt.
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1. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach auf die Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung bei der Versteigerung eines Grundstücks hingewiesen und hierbei die besondere Bedeutung der Eigentumsgarantie im sozialen Rechtsstaat hervorgehoben (BVerfGE 42, 64; 46, 325). Die verfassungsrechtliche Gewährleistung beeinflußt nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Rechts, sondern wirkt zugleich auf das zugehörige Verfahrensrecht ein. Unmittelbar aus Art. 14 GG folgt die Pflicht der Gerichte, bei Eingriffen in dieses Grundrecht einen tatsächlich wirksamen Rechtsschutz zu gewähren. Dies gilt insbesondere für die Wahrnehmung von Rechtsschutzmöglichkeiten, welche die Prozeßordnung jeweils vorsieht. Zudem folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip der Anspruch auf eine "faire Verfahrensführung".
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Mit diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen steht es nicht im Einklang, daß der Rechtspfleger über den Antrag der Beschwerdeführerin vom 3. September 1976 erst nach Monaten gleichzeitig mit dem Zuschlagsbeschluß im Termin vom 21. Juli 1977 entschieden hat und die Gerichte dies gebilligt haben.
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2. Nach § 30a ZVG ist das Zwangsversteigerungsverfahren auf Antrag des Schuldners unter den im Gesetz bestimmten Voraussetzungen einzustellen. In einem solchen Antrag kann, wie das Oberlandesgericht klargestellt hat, zugleich ein Antrag auf Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO gesehen werden.
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Soweit ein Einstellungsantrag gemäß § 30a ZVG gestellt wird, soll der Versteigerungstermin erst nach Rechtskraft des die einstweilige Einstellung ablehnenden Beschlusses bekanntgegeben werden (§ 30b Abs. 4 ZVG). Der Beschluß, durch den der Zuschlag erteilt wird, ist gemäß § 87 ZVG im Versteigerungstermin oder in einem sofort zu bestimmenden späteren Termin zu verkünden (vgl. BVerfGE 46, 325 [335]). Der Rechtspfleger hat von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht, sondern den Zuschlag sofort erteilt, ohne vorher über den seit Monaten anhängigen Einstellungsantrag zu entscheiden.
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Das Oberlandesgericht hat dieses Vorgehen jedenfalls für § 30b ZVG als unbedenklich angesehen, da es sich hierbei nicht um zwingendes Recht, sondern um eine Ermessensvorschrift handle. Es kann dahingestellt bleiben, welche Bedeutung solchen prozessualen "Sollvorschriften" zukommt. Verfassungsrechtlich ist jedenfalls folgendes zu berücksichtigen: Das Verfahrensrecht dient der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Blickpunkt richtiger, aber auch gerechter Entscheidungen (BVerfGE 42, 64 [73]). Sind dem Richter im Interesse einer angemessenen Verfahrensgestaltung Ermessensbefugnisse eingeräumt, so müssen diese Vorschriften im konkreten Fall im Blick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden; sie dürfen nicht zu einer Verkürzung des grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf einen effektiven Rechtsschutz führen.
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Sowohl § 30b ZVG als auch die Möglichkeit der Bestimmung eines besonderen Verkündungstermins gemäß § 87 ZVG dienen dem Schuldnerschutz. Der Schuldner soll die Möglichkeit haben, die Zwangsversteigerung des durch Art. 14 GG geschützten Eigentums abzuwenden. Diese grundrechtliche Schutzfunktion muß sich im sozialen Rechtsstaat gerade auch für den sozial Schwachen durchsetzen; denn dieser ist es, der dieses Schutzes um seiner Freiheit willen in besonderem Maße bedarf (BVerfGE 42, 64 [77]). Dem Gläubiger wird lediglich ein zeitweiliges Stillhalten unter Fortbestand der Vollstreckungssicherheiten zugemutet.
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Hätte der Rechtspfleger vor Erteilung des Zuschlags über den Einstellungsantrag entschieden, so wäre die Beschwerdeführerin auf den Ernst der Lage hingewiesen worden. Sie hätte ihre rechtliche Situation überprüfen und sich schlüssig werden können, ob sie die titulierte Forderung bezahlen oder ob sie es auf die Versteigerung des Anwesens mit allen rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen ankommen lassen wollte. Denn zunächst muß unterstellt werden, daß niemand ohne besonderen Grund wegen einer Forderung von etwa eintausend Deutsche Mark den Verlust eines von ihm selbst bewohnten und nicht mit Rechten Dritter belasteten Grundstücks in Kauf zu nehmen bereit ist. Eine rechtzeitige Entscheidung über ihren seit Monaten anhängigen Antrag und die im ablehnenden Beschluß enthaltene Begründung, sie könne nicht mit Einwendungen gegen den Titel gehört werden und die Voraussetzungen für eine Einstellung lägen nicht vor, hätten ihr die Konsequenzen der Nichtbefriedigung der Gläubigerin deutlich vor Augen geführt. Sie wäre auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, sich gegebenenfalls die Mittel zur Begleichung der Forderung zu beschaffen oder sich zu einer ratenweisen Zahlung zu verpflichten, wenn sie ihr Eigentum nicht verlieren wollte.
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Das Verfahren des Rechtspflegers hat aber auch dazu geführt, daß der Beschwerdeführerin das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde praktisch entwertet wurde. Bei einer rechtzeitigen Entscheidung hätte sie bereits in diesem Verfahren alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte vortragen können, die sie später zur Begründung ihres Einstellungsantrags nach § 765a ZPO geltend gemacht hat, die nach Meinung des Oberlandesgerichts durchaus Gewicht hatten, mit denen sie aber nicht mehr gehört werden konnte.
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Der Beschwerdeführerin blieb zwar die Möglichkeit, gegen den Zuschlagsbeschluß Beschwerde einzulegen. Nach der einschränkenden Auslegung des § 100 ZVG durch das Oberlandesgericht können in diesem Verfahren aber nur Gründe berücksichtigt werden, die schon vor der Erteilung des Zuschlags vorgetragen wurden und dem Vollstreckungsgericht bekannt waren. Eine Ergänzung des Vortrags zu der Frage der Einstellungsvoraussetzungen war mithin in diesem Verfahren nicht mehr gegeben. Dies hat dazu geführt, daß die Beschwerdeführerin mit ihrem detaillierten Vorbringen über die persönlichen Verhältnisse und die Hintergründe, die das Zwangsversteigerungsverfahren ausgelöst haben, ausgeschlossen war. Das Verfahren des Rechtspflegers hat damit letztlich dazu geführt, daß der Beschwerdeführerin die Vollstreckungsschutzmöglichkeit des § 765a ZPO beschnitten wurde.
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3. Da das Landgericht und auch das Oberlandesgericht das mit dem grundrechtlichen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz nicht in Einklang stehende Verfahren des Rechtspflegers nicht beanstandet haben, beruhen auch ihre Entscheidungen auf dem geschilderten Verfassungsverstoß. Die angefochtenen Entscheidungen waren daher gemäß § 95 BVerfGG aufzuheben und das Verfahren an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.
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Dr. Benda, Dr. Haager, Dr. Böhmer, Dr. Simon, Dr. Faller, Dr. Hesse, Dr. Katzenstein, Dr. Niemeyer |
Abweichende Meinung des Richters Dr. Böhmer zur Begründung des Beschlusses des Ersten Senats vom 27. September 1978 - 1 BvR 361/78 - |
Ich stimme der Entscheidung zu. Die ausschließlich prozessuale Begründung - die auch ich billige - trägt aber nach meiner Überzeugung weder dem Sachverhalt noch der verfassungsrechtlichen Problematik ausreichend Rechnung.
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Die Verfassungsbeschwerde hätte nicht nur wegen Mißachtung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz, sondern schon wegen Verletzung des materiellen Grundrechts Erfolg haben müssen. Es steht mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in Einklang, wenn die Zwangsversteigerung wegen einer dubiosen Bagatellforderung betrieben wird und der Gläubiger vorher nicht eine Befriedigung durch andere Vollstreckungsmaßnahmen versucht hat.
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I. |
Zum besseren Verständnis ist zunächst der im Beschluß dargestellte Sachverhalt durch folgende Hinweise zu ergänzen:
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Im April 1972 mietete die heute 68jährige Beschwerdeführerin von der Gläubigerin des Ausgangsverfahrens eine Wohnung. Nachdem es wegen einer von der Vermieterin geforderten Mieterhöhung zu Auseinandersetzungen gekommen war, erhob die Gläubigerin Räumungsklage und erwirkte im Mai 1973 ein Versäumnisurteil, während die Beschwerdeführerin zur Kur war. Auf Grund dieses Urteils öffnete sie vor Ablauf der der Beschwerdeführerin bewilligten Räumungsfrist mit Hilfe dritter Personen die Wohnung und räumte sie aus. Einen Teil der Einrichtungsgegenstände stellte sie in ihrer Scheune unter und nahm die übrige Habe der Beschwerdeführerin in einem Zimmer der Wohnung unter Verschluß. Wegen einzelner größerer Möbelstücke machte sie ein Zurückbehaltungsrecht bzw ein Vermieterpfandrecht geltend. Durch Urteil vom 8. Mai 1974 entschied das Amtsgericht P., daß die Forderung der Vermieterin nach einer höheren als der vereinbarten Miete gemäß § 3 des Ersten Wohnraumkündigungsschutzgesetzes nicht gerechtfertigt sei.
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Wegen der in ihrer Abwesenheit erfolgten Räumung der Wohnung erstattete die Beschwerdeführerin nach ihrer Rückkehr Strafanzeige wegen Einbruchs, Plünderung und Diebstahls. Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde mit der Begründung eingestellt, der Gläubigerin sei ein Diebstahl nicht nachzuweisen. Dagegen wurde auf Antrag der Gläubigerin gegen die Beschwerdeführerin ein Strafverfahren wegen falscher Verdächtigung eingeleitet. In diesem Verfahren verurteilte das Amtsgericht T. die Beschwerdeführerin zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 25 DM und legte ihr die Verfahrenskosten auf. Das Landgericht T. stellte das Verfahren gemäß § 205 StPO vorläufig ein.
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Mit einem Schreiben vom 27. Oktober 1975 forderte der Bevollmächtigte der Gläubigerin die Beschwerdeführerin auf, folgende Beträge zu zahlen:
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a) Anwaltskosten in dem Ermittlungsverfahren gegen die Gläubigerin infolge falscher Anschuldigung durch die Beschwerdeführerin: DM 290,13
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b) Kosten für eine Fahrt der Gläubigerin zur polizeilichen Vernehmung: DM 20,--
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c) Aushilfspersonal während ihrer Abwesenheit: DM 10,--
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d) Vorenthaltung von vier Zimmerschlüsseln und einem Haustürschlüssel; Ersatzbeschaffung: DM 100,--
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e) Anwaltsgebühren der Gläubigerin wegen ungerechtfertigten Zahlungsbefehlsantrags der Beschwerdeführerin: DM 179,88
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f) Lagergebühren für Kohlen und Holz 14 Monate a DM 10: DM 140,--
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Hieraus errechnete er eine Forderung von 910,51 DM. Tatsächlich beträgt die Summe nur 740,01 DM.
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Über den Betrag von 910,51 DM zuzüglich Nebenkosten beantragte der Bevollmächtigte am selben Tage den Erlaß eines Zahlungsbefehls. Als Schuldgrund nannte er Schadensersatz aus unerlaubter Handlung gemäß dem genannten Aufforderungsschreiben. Da das Schriftstück aus nicht erkennbaren Gründen an den Rechtsanwalt der Gläubigerin zurückgegangen war, forderte der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin den Vertreter der Gläubigerin mehrmals - zuletzt unter Hinweis auf die anwaltschaftlichen Standesrichtlinien - auf, ihm das Schreiben zu übersenden. Es ging ihm schließlich nach Anberaumung des Versteigerungstermins zu; wenige Tage vor dem Versteigerungstermin legte er es dem Vollstreckungsgericht vor.
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Unter Hinweis auf diesen Sachverhalt hat die Schuldnerin im Beschwerdeverfahren vorgetragen, sie habe vor Eingang des Schreibens keine Kenntnis davon gehabt, um welche Forderung es sich eigentlich handle. Durch die nicht zeitgerechte Herausgabe des Schreibens vom 27. Oktober 1975 sei sie an einer ordnungsgemäßen Rechtsverteidigung gehindert worden; insbesondere sei es nicht mehr möglich gewesen, bis zum Versteigerungstermin vom 21. Juli 1977 Vollstreckungsgegenklage zu erheben. Überdies habe sich erst mit dem Zugang des Schreibens herausgestellt, daß bei der Forderung, deren Realisierung durch Zwangsversteigerung erstrebt werde, Anwaltskosten aus einem noch nicht abgeschlossenen Strafverfahren enthalten seien.
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II. |
Die angefochtenen Entscheidungen stehen aus folgenden Erwägungen mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in Einklang.
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1. Wenn auch die Zwangsversteigerung der Durchsetzung privater Interessen des Gläubigers dient, geht es nicht wie im Erkenntnisverfahren um eine privatrechtliche Streitigkeit zwischen Schuldner und Gläubiger. Die Vollstreckungsorgane handeln auf Grund des staatlichen Zwangsmonopols, das dem öffentlichen Recht angehört.
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Die Aufgabe des Staates, das Recht zu wahren, umfaßt die Pflicht, ordnungsgemäß titulierte Ansprüche notfalls mit Zwang durchzusetzen und dem Gläubiger zu seinem Recht zu verhelfen. Im Rechtsstaat des Grundgesetzes bedarf der Einsatz von Zwang jedoch stets einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage. Andererseits findet staatliche Gewalt eine unübersteigbare Grenze an den Grundrechten. Diese sind nicht nur subjektive Abwehrrechte des einzelnen Bürgers gegen staatliche Maßnahmen, sondern zugleich objektive Grundentscheidungen der Verfassung, die für alle Bereiche des Rechts gelten (BVerfGE 21, 362 [371 f.] m.w.N.). Sie binden die gesamte Staatsgewalt und sind nach der ausdrücklichen Anordnung des Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar wirksames Recht und damit Gesetz im Sinne des § 12 EGZPO.
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Bei der Zwangsversteigerung wird Grundeigentum durch staatliche Gewalt entzogen und durch Staatsakt auf einen Dritten übertragen. Eine solche Eigentumsentziehung ist der weitestgehende und tiefgreifendste Eingriff in das durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete Eigentum. Er ist nur auf einer verfassungsmäßigen Rechtsgrundlage und nur in verfassungsmäßiger Weise zulässig.
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2. Das Zwangsversteigerungsrecht enthält einerseits die Ermächtigung zum Einsatz staatlichen Zwanges gegenüber dem Eigentümer, begründet aber andererseits auch die gesetzliche Pflicht des Schuldners, den Zugriff auf sein Eigentum zu dulden. Diese Duldungspflicht ist eine den Inhalt und die Schranken des Eigentums bestimmende Regelung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Sie wird im konkreten Fall durch die staatlichen Organe aktualisiert.
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a) Solche Regelungen haben nicht schon deshalb vor der Verfassung Bestand, weil sie als formelles Gesetz ergangen sind. Sie müssen vielmehr in jeder Richtung mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (BVerfGE 34, 139 [46]m.w.N.). Besondere Beachtung verdient hierbei im vorliegenden Zusammenhang der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots, der sich nicht nur aus dem das Grundgesetz beherrschenden Rechtsstaatsprinzip, sondern schon aus den Grundrechten selbst ergibt (BVerfGE 21, 150 [155]; 21, 306 [310 f.]; 25, 112 [120]; 26, 215 [222]; 31, 275 [290]; 42, 263 [295]). Der Grundsatz besagt, daß der Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich erforderlich und angemessen sein muß, um das mit der Regelung angestrebte Ziel zu erreichen. Die Auferlegung einer Duldungspflicht - wie sie hier in Rede steht - darf nicht weitergehen, als der Schutzzweck reicht, dem die Regelung dient (vgl. BVerfGE 25, 112 [117 f.]). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist verletzt, wenn das Ziel auf andere, weniger einschneidende und den Betroffenen weniger belastende Weise erreicht werden kann. Mittel und Zweck müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen (BVerfGE 24, 367 [404]; 45, 297 [335]).
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Hiernach ist die gesetzliche Pflicht des Schuldners, den Zugriff auf sein Eigentum zu dulden, durch den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt. Es ist nicht jeder, sondern nur ein "verhältnismäßiger" Eingriff verfassungsrechtlich zulässig. Das heißt aber auch: Der Umfang der materiellen - verfassungsrechtlich legitimierten - Duldungspflicht des Schuldners bestimmt zugleich die Grenze für den Einsatz und das Ausmaß staatlichen Zwanges. Die Ermächtigung zum Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich findet ihre Schranke an den dem Bürger durch die verfassungsmäßigen Gesetze auferlegten Pflichten.
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In zahlreichen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, daß der allgemeine Gleichheitssatz, der in Art. 3 Abs. 1 GG als Grundrecht des Einzelnen garantiert ist, als allgemeines rechtsstaatliches Prinzip bei der inhaltlichen Festlegung von Eigentümerpflichten beachtet werden muß (BVerfGE 21, 73 [84]; 34, 139 [146]; 37, 132 [143]; 42, 263 [305]). Das heißt: Im Rahmen der Zwangsvollstreckung darf der Gläubiger gegenüber dem Schuldner nicht willkürlich bevorzugt werden. Die schutzwürdigen Interessen aller Beteiligten müssen in einem gerechten Ausgleich und einem ausgewogenen Verhältnis stehen.
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Vorschriften, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Gleichheitssatz nicht beachten, verletzen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG.
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b) Ob das Zwangsversteigerungsrecht in jeder Richtung mit dem Grundgesetz in Einklang steht, kann zumindest zweifelhaft sein. (Auf Bedenken ist bereits in BVerfGE 46, 325 (333) hingewiesen worden). Freilich ist nicht zu verkennen, daß das Vollstreckungsrecht in seiner Grundstruktur einer Zeit entstammt, in der eine Bindung des Gesetzgebers an Grundrechte noch nicht bestand. Die Reichsverfassung des Jahres 1871, unter deren Geltung das Zwangsversteigerungsgesetz erlassen wurde, kannte keine Grundrechte.
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Zweifel können insbesondere hinsichtlich der Frage bestehen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den für die Zwangsvollstreckung maßgeblichen Vorschriften einen ausreichenden Ausdruck gefunden hat. Für den vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, daß dem Gläubiger einer privaten Geldforderung wahlweise das Recht der Vollstreckung in das bewegliche und das unbewegliche Vermögen zur Verfügung steht. Abweichend von anderen Rechtsordnungen ist keine bestimmte Reihenfolge der Vollstreckungsarten angeordnet. Eine Koordination der verschiedenen Vollstreckungsarten findet nicht statt. Die Zwangsversteigerung kann unabhängig von der Höhe der titulierten Forderung betrieben werden. Wie das hier entschiedene Verfahren zeigt, wird die Versteigerung eines vom Schuldner bewohnten Grundstücks selbst bei einer Bagatellforderung für zulässig erachtet.
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Nach meiner Überzeugung ist ein derartiges System im Blick auf die Grundrechte und das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht unbedenklich, weil es die Art und Intensität des Einsatzes staatlichen Zwanges weitgehend vom Belieben des Gläubigers abhängig macht. Das staatliche Zwangsmonopol untersteht in gewissem Umfang seiner Disposition. Wenn der Gläubiger auch ein Recht darauf hat, daß der Staat ihm zur Befriedigung seiner Forderung verhilft, bestehen erhebliche Zweifel, ob es mit dem Rechtsstaatsprinzip in Einklang steht, daß er auch die Mittel bestimmen kann, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll. Da der Staat nicht als "verlängerter Arm" des Gläubigers, sondern kraft der ihm obliegenden Aufgabe tätig wird, das Recht zu wahren und durchzusetzen, muß er den Eingriff in das Grundrecht verantworten. Diese Verantwortung kann nicht ohne weiteres vom Willen des Gläubigers abhängig sein.
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3. Solchen und anderen Bedenken kann und muß durch eine verfassungskonforme Handhabung der Gesetze Rechnung getragen werden.
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a) Die Tatsache, daß es sich beim Zwangsversteigerungsgesetz weitgehend um vorkonstitutionelles Recht handelt, bedeutet nicht, daß die Grundrechte unbeachtlich wären. Alle vorkonstitutionellen Gesetze müssen vielmehr von den Wertvorstellungen des Grundgesetzes her ausgelegt und angewendet werden (BVerfGE 19, 1 [8]). Dies ergibt sich aus dem Vorrang der Verfassung vor jeder einfach-rechtlichen Vorschrift. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes steht jede in grundrechtlich geschützte Rechtsstellungen eingreifende konkrete staatliche Zwangsmaßnahme von vornherein unter dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck (BVerfGE 20, 162 [86 f.]m.w.N.), auch wenn das vorkonstitutionelle Recht eine entsprechende Regelung nicht enthält. Es handelt sich um eine übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns (BVerfGE 23, 127 [133]); sie ist auch von der Rechtsprechung zu beachten.
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b) Das Mittel zur Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen ist das Verfahrensrecht. Die staatlichen Organe haben nicht nur die Pflicht, die materiellen Grundrechte zu beachten, sie müssen ihnen auch durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung Wirksamkeit verschaffen. Wenn das Verfahrensrecht nicht auf die Effektuierung der Grundrechte ausgerichtet ist, kann deren substantieller Gehalt beeinträchtigt werden. Im Grunde ist ein ordnungsgemäßes Verfahren die einzige Möglichkeit, Grundrechte durchzusetzen oder wirksam zu gewährleisten. Dies zwingt die staatlichen Organe zu einer grundrechtskonformen Auslegung und Handhabung des Verfahrensrechts (vgl. BVerfGE 42, 64; 46, 325 [334]).
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Der Antrag auf Einleitung der Zwangsversteigerung ist auf die Vornahme einer Amtshandlung gerichtet, mit der ein Eingriff in den grundrechtsgeschützten Bereich des Schuldners begehrt wird. Im Hinblick auf die strikte Bindung an die Grundrechte müssen die hierzu ermächtigten Staatsorgane nicht nur feststellen, ob der Antrag den einfach-rechtlichen Vorschriften entspricht, sondern darüber hinaus sorgfältig prüfen, ob auch die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für den Grundrechtseingriff vorliegen. Die Prüfung hat von Amts wegen zu erfolgen, da jeder Eingriff durch die öffentliche Gewalt in ein Grundrecht der verfassungsrechtlichen Legitimation bedarf. Dem Staat obliegt, die Rechtmäßigkeit seines Handelns darzutun; dagegen gehört es nicht zu den Pflichten des Grundrechtsträgers, die Rechtswidrigkeit staatlicher Maßnahmen zu belegen. Die dem öffentlichen Organ erteilte Ermächtigung zur Ausübung staatlichen Zwanges umfaßt nicht die Befugnis, sich über die Grundrechte hinwegzusetzen. Es kann auch kein Gläubiger erwarten, daß Zwangsmaßnahmen im Widerspruch zur Verfassung eingeleitet und durchgeführt werden. Einem hierauf gerichteten Antrag darf kein staatliches Hoheitsorgan entsprechen. Überdies hat derjenige, der den Einsatz staatlicher Zwangsmittel begehrt, die in Grundrechte Dritter eingreifen, die Berechtigung hierzu darzutun.
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c) Hiernach war der Rechtspfleger zunächst von Amts wegen verpflichtet, der Frage nachzugehen, ob der Antrag auf Einleitung und Durchführung der Zwangsversteigerung des Grundstücks der Beschwerdeführerin unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten gerechtfertigt war.
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Zu einer solchen Prüfung bestand aus folgenden Gründen Anlaß:
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aa) Zunächst ist der Begründung des Einstellungsantrages vom 3. September 1976 eindeutig die Rüge zu entnehmen, die von der Gläubigerin gewählte Art der Vollstreckung, nämlich der Zugriff auf das unbewegliche Vermögen, die Zwangsversteigerung des Grundstücks, sei nicht rechtens. Darüber hinaus drängte sich für jeden Betrachter unausweichlich die Frage auf, warum die Beschwerdeführerin die Schuld nicht bezahlte. Dies wird verständlich, wenn man berücksichtigt, daß sie bis kurz vor dem Versteigerungstermin keine Kenntnis vom Inhalt des Schreibens des gegnerischen Anwalts vom 27. Oktober 1975 hatte, also nicht wußte, wofür sie zahlen sollte. Das auffällige Mißverhältnis zwischen titulierter Forderung über 910,51 DM und dem der Beschwerdeführerin notwendigerweise zusätzlich erwachsenden Schaden ist so evident, daß sich auch insoweit die Frage stellte, ob keine die Schuldnerin weniger belastende Vollstreckung zur Befriedigung der Gläubigerin führen könnte. Es mußte folgendes berücksichtigt werden:
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Das Grundstück, dessen Wert das Vollstreckungsgericht auf 41.000 DM festgesetzt hat, ist dem Meistbietenden für 21.000 DM zugeschlagen worden. Über die Schuldsumme und die nicht unerheblichen Verfahrenskosten hinaus würde die Beschwerdeführerin - legt man den Teilungsplan vom 5. April 1978 zugrunde - mithin durch die Zwangsversteigerung über 20.000 DM einbüßen. Geht man von den tatsächlichen Aufwendungen der Beschwerdeführerin für den Erwerb und Bezug des Hauses von 46.530 DM aus, ist der Vermögensverlust noch höher. Diesen Schaden würde ihr der Staat zufügen, damit ein Titel über nicht einmal 1.000 DM erfüllt wird. Man muß ernstlich fragen, ob es mit den Vorstellungen eines sozialen Rechtsstaates in Einklang zu bringen ist, daß die staatliche Gewalt im Interesse eines Dritten dem Bürger einen solchen Nachteil zufügt. Der für die Beschwerdeführerin durch die Zwangsversteigerung eintretende Vermögensverlust steht in keinem vertretbaren Verhältnis zur Höhe der zu befriedigenden Forderung. Es liegt - unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit - auf der Hand, daß hier Mittel und Zweck nicht mehr in einer vernünftigen Relation zueinander stehen.
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Der Staat kann sich für eine solche Schadenszufügung, deren Ursache in der Nichtbeachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips liegt, nicht dadurch exkulpieren, daß er auf das Antragsrecht des Gläubigers hinsichtlich der Wahl der Vollstreckungsart verweist.
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Es ist in diesem Zusammenhang auch auf die Schutzpflicht des Staates hinzuweisen. Er hat nicht nur die Belange des Gläubigers, sondern auch die des Schuldners zu wahren. Das ergibt sich aus der Pflicht, die Grundrechte zu beachten. In BVerfGE 42, 64 (77) ist hierzu ausgeführt: "Der Schutz des Eigentums muß sich in einem sozialen Rechtsstaat auch und gerade für den sozial Schwachen durchsetzen. Denn dieser Bürger ist es, der dieses Schutzes um seiner Freiheit willen in erster Linie bedarf".
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Aus den Akten war zu erkennen, daß die Beschwerdeführerin das Grundstück selbst bewohnt und bei der Zwangsversteigerung ihre Heimstatt verloren hätte. Dies war zu berücksichtigen, weil der Eigentumsgarantie im sozialen Rechtsstaat auch die Funktion zukommt, dem Einzelnen einen Freiraum für die persönliche Lebensgestaltung zu gewährleisten (vgl. die Nachweise in BVerfGE 46, 325 [334]). Bei der Bedeutung der Wohnung als Mittelpunkt der menschlichen Existenz (BVerfGE 18, 121 [131 f.]; 37, 132 [141 f.]) hätte die Zwangsversteigerung des Grundstücks wegen einer relativ geringen Forderung allenfalls als letztes Mittel zur Befriedigung der Gläubigerin in Betracht kommen können. Es ist bei den gegebenen Verhältnissen mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar, die schwerste Vollstreckungsmaßnahme durchzuführen, ehe auch nur der Versuch einer weniger belastenden unternommen worden ist.
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Wird die im Eigentum stehende Wohnstätte ohne zwingenden Grund durch staatliche Gewalt entzogen, berührt dies überdies den besonderen Schutzbereich des Art. 13 GG.
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bb) Zu einer sorgfältigen Prüfung hätte auch die Besonderheit des Titels Anlaß gegeben, da sich insoweit zumindest die Frage aufdrängte, ob die Gläubigerin die Zwangsversteigerung des Anwesens wirklich nur mit dem Ziel der Befriedigung ihrer Forderung betrieb. Staatlicher Zwang darf aber nicht eingesetzt werden, um einem anderen Schaden zuzufügen. Hierauf hat niemand ein Anrecht.
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Sicherlich war der Rechtspfleger an den Titel gebunden. Dies hinderte ihn aber nicht, bei der Prüfung der Frage, ob gerade die Zwangsversteigerung des von der Beschwerdeführerin bewohnten Hauses gerechtfertigt sei, die Augen vor offensichtlichen Unrichtigkeiten und auch vor der Art der titulierten Forderung nicht zu verschließen. Eine ohne weiteres erkennbare Unrichtigkeit liegt darin, daß die im Vollstreckungsbefehl angegebene Schuldsumme eindeutig auf einem Rechenfehler beruht, da die geschuldete Summe nicht 910,51 DM, sondern nur 740,01 DM beträgt. Bei einem Minimum an Sorgfalt hätte dies erkannt werden können, aber auch berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus hätte auch die Tatsache zu Bedenken Anlaß geben müssen, daß sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Forderung von 740,01 DM auf ein Strafverfahren stützt, das noch nicht abgeschlossen ist.
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Die notwendige Formstrenge der Zwangsvollstreckung muß nicht blind machen vor Besonderheiten, die evident sind.
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d) Nach allem verstößt die Zwangsversteigerung in eindeutiger Weise gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG.
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III. |
Die Gerichte haben die verfassungsrechtliche Problematik des Verfahrens nicht gewürdigt. Sie haben die Frage, ob die Zwangsversteigerung eines vom Schuldner bewohnten Grundstücks wegen einer (dubiosen) Bagatellforderung unter grundrechtlichen Gesichtspunkten bedenklich sein könnte, offenbar nicht erkannt.
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1. Die Beschwerdeführerin hat bereits in ihrem Einstellungsantrag vom 3. September 1976 deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie die von der Gläubigerin gewählte Vollstreckungsart als rechtsmißbräuchlich ansehe. Dies läßt sich ohne jede Schwierigkeit dahin verstehen, daß die Zwangsversteigerung des Grundstücks im oben dargelegten Sinne unverhältnismäßig sei.
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Das Oberlandesgericht hat den Einstellungsantrag zwar zutreffend zugleich als Antrag nach § 765a ZPO gewürdigt, hierbei aber dieser Rüge keinerlei Bedeutung beigemessen. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 765a ZPO hätte hierzu jedoch Anlaß gegeben. Diese Vorschrift gibt verschiedene Möglichkeiten des Schuldnerschutzes, wenn die Zwangsmaßnahme wegen besonderer Umstände zu einer sittenwidrigen Härte für den Schuldner führen würde. Diese generalklauselartige Vorschrift ermöglicht nicht nur, sondern gebietet die Beachtung der Grundrechte des Schuldners. Generalklauseln sind die "Einbruchstellen" zur Verwirklichung grundrechtlicher Entscheidungen der Verfassung (BVerfGE 42, 143 [148]). Im Hinblick auf die überragende Bedeutung, die das Grundgesetz den Grundrechten für die gesamte Rechtsordnung beimißt, kommt einer Grundrechtsbeeinträchtigung zumindest die gleiche Bedeutung zu, wie eine mit den guten Sitten nicht in Einklang stehende Maßnahme.
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2. Das Oberlandesgericht geht in seiner Beschwerdeentscheidung unter Hinweis auf BGHZ 44, 138 davon aus, daß bei der Beschwerde gegen die Erteilung des Zuschlags ein Antrag auf Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO außer Betracht bleiben müsse, wenn dieser erst nach Erteilung des Zuschlags gestellt werde. Hieraus ergebe sich zugleich, daß die Beschwerdeführerin mit ihren erst nach Erteilung des Zuschlags geltend gemachten Einwendungen nicht mehr gehört werden könne.
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Ich halte diese Rechtsprechung aus folgenden Gründen für verfassungswidrig:
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a) Es bedarf hier keiner Auseinandersetzung mit der vielfach diskutierten Frage, in welcher Funktion der Rechtspfleger nach Maßgabe des Rechtspflegergesetzes vom 5. November 1969 (BGBl. I S.2065) bei der Zwangsversteigerung tätig wird. Jedenfalls handelt er nicht als Richter (BVerfGE 30, 170 (171 f.); Beschluß vom 3. November 1975 - 2 BvR 398/75). In der Amtlichen Begründung zum Entwurf eines Rechtspflegergesetzes vom 5. Juli 1968 (BTDrucks V/3134) heißt es mit aller Deutlichkeit: "Der Rechtspfleger ist nicht Richter im Sinne des Grundgesetzes" (vgl. auch den Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 18. Juni 1969, BTDrucks V/4341). Nach Art. 92 GG ist die Rechtsprechung dem Richter anvertraut. Da diese Grundgesetzbestimmung von einem materiellen Begriff der rechtsprechenden Gewalt ausgeht (BVerfGE 22, 49 [73]), ist die Tätigkeit des Rechtspflegers bei der Erteilung des Zuschlags kein "Richterspruch" im Sinne des Grundgesetzes, auch wenn das Zwangsversteigerungsgesetz noch vom Vollstreckungsgericht spricht. Der Rechtspfleger übt vielmehr öffentliche Gewalt im Sinne der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG aus. (So auch der inzwischen ergangene Beschluß vom 10. Oktober 1978 - 1 BvR 475/78 -).
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b) Wenn die gegen die Entscheidung des Rechtspflegers angerufenen Gerichte auch nach Maßgabe des Zwangsversteigerungsgesetzes und der Zivilprozeßordnung tätig werden, liegt jedenfalls bei der Zuschlagsbeschwerde der Substanz nach eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor. Die Gerichte haben - wie bei anderen öffentlich-rechtlichen Verfahren, denen Eingriffe staatlicher Organe in die Rechtssphäre des Bürgers zugrunde liegen - darüber zu befinden, ob der zwangsweise Eingriff in das Eigentum des Schuldners rechtens ist. Für diese Beurteilung ist nicht von ausschlaggebender Bedeutung, daß nicht der Staat, sondern der Gläubiger prozeßrechtlich Gegner des Schuldners ist.
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Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame Kontrolle (BVerfGE 35, 263 [274]; 35, 382 [401]; 40, 272 [275]; 41, 23 [26]; 41, 323 [326]; 42, 128 [130]; 46, 166 [178]). Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet die vollständige Nachprüfung des Aktes der öffentlichen Gewalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch den Richter (BVerfGE 18, 203 [212]; 35, 263 [274]). Nur ein Gesetz, das eine solche umfassende Prüfung zuläßt, genügt diesem Verfahrensgrundrecht (BVerfGE 21, 191 [195]).
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Hiermit ist es unvereinbar, wenn der Zuschlagsbeschluß nicht in jeder Richtung auf seine Verfassungsmäßigkeit durch die Gerichte geprüft wird und der Betroffene mit späterem Vorbringen ausgeschlossen wird. Es gibt keinen Akt der öffentlichen Gewalt, der nicht einer repressiven Kontrolle durch die Gerichte unterliegt. Den Gerichten steht nicht die Befugnis zu, das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG einzuschränken. Demgegenüber kann der Hinweis des Oberlandesgerichts, die Beschränkung der Prüfung sei aus Gründen der Rechtssicherheit und zum Schutz des Ersteigerers geboten, nicht durchgreifen. Der Zuschlagsbeschluß begründet nicht nur das Eigentum des Ersteigerers, sondern ist zunächst die entscheidende Maßnahme, durch die das durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete Eigentum dem Schuldner entzogen wird. Dieser hat aber einen verfassungskräftigen Anspruch darauf, daß dieser Eingriff auf seine Rechtmäßigkeit geprüft wird. Der durch Staatsakt bewirkte Eigentumserwerb steht unter dem Vorbehalt, daß der staatliche Entzugsakt verfassungsmäßig ist. Wer Eigentum erwirbt, das unter Verstoß gegen das Grundgesetz entzogen worden ist, kann nicht schutzwürdiger sein als derjenige, dessen Grundrechte verletzt worden sind. Die Mißachtung eines Grundrechts ist ein Rechtsfehler, der stets beachtlich ist und nicht sanktionslos hingenommen werden darf.
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c) Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG wird ergänzt durch den sich unmittelbar aus dem materiellen Grundrecht des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz (BVerfGE 24, 367 [401]; 35, 348 [361]; 37, 132 [148]; 45, 297 [333]; 46, 325 [334]). Eröffnet die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG dem Betroffenen den Weg zu einem Gericht, das den Grundsätzen der Art. 92 und 97 GG genügen muß, so bedeutet der grundrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, daß die Gerichte im jeweiligen Verfahren der normativen Geltung der Grundrechte tatsächliche Wirksamkeit verschaffen müssen. Diese grundrechtliche Rechtsschutzgarantie erfordert ebenfalls, daß die Entziehung von Eigentum in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung durch die rechtsprechende Gewalt auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft wird (vgl. BVerfGE 45, 297 [333]). Die Gerichte haben nicht nur die negative Verpflichtung, mit der Verfassung nicht in Einklang stehende Eingriffe zu unterlassen, sondern auch die positive Verpflichtung, die Grundrechte durchzusetzen.
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Das Prozeßrecht dient nicht nur dem Ziel, ein geordnetes Verfahren zu sichern, sondern ist im grundrechtlich relevanten Bereich das Medium, im konkreten Fall dem Grundrechtsträger zu seinem verfassungsmäßigen Recht zu verhelfen. Demgemäß ist bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten des Verfahrensrechts diejenige zu wählen, die es dem Gericht ermöglicht, den Grundrechten Wirksamkeit zu verschaffen.
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d) Hiernach wären sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht zur Prüfung verpflichtet gewesen, ob der Eigentumsentzug und die Eigentumsübertragung durch den Rechtspfleger mit dem Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in Einklang stand. Da sie diese Prüfung unterlassen und den unter Mißachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergangenen Zuschlagsbeschluß gebilligt haben, verletzen die Entscheidungen über die im Beschluß dargelegten Erwägungen hinaus die Eigentumsgarantie.
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Werner Böhmer |