BVerfGE 52, 380 - Schweigender Prüfling
Zum Einfluß des Art. 12 Abs. 1 GG auf die Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften für die juristische Staatsprüfung.
 
Beschluß
des ersten Senats vom 13. November 1979
-- BvR 1022/78 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Rechtskandidaten M ... gegen a) den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. August 1978 - BVerwG 7 B 144,78 -, b) das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. März 1978 - OVG Bf. 186/77 -.
Entscheidungsformel:
Das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. März 1978 - OVG Bf. 86/77 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht verwiesen. Die Freie und hansestadt Hamburg hat den Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
 
Gründe:
 
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich dagegen, daß seine Erste Juristische Staatsprüfung wegen seines Verhaltens im mündlichen Prüfungstermin als "nicht bestanden" beurteilt worden ist.
I.
Nach der hamburgischen Juristenausbildungsordnung (JAO) vom 10. Juli 1972 (GVBl I S. 133) umfaßt die Erste Juristische Staatsprüfung eine schriftliche Hausarbeit, drei Aufsichtsarbeiten und die in vier Abschnitte gegliederte mündliche Prüfung. Die einzelnen Prüfungsleistungen sind gemäß § 14 nach sieben verschiedenen Noten zu bewerten, denen Punkte von 0 bis 18 zugeordnet sind; die Note "ungenügend" (0 Punkte) wird für "eine völlig unbrauchbare Leistung" erteilt. Zur Ermittlung der Abschlußnote werden die Punktzahl der Hausarbeit und die durchschnittlichen Punktzahlen der Aufsichtsarbeiten sowie der mündlichen Prüfung addiert und durch drei geteilt. Die Prüfung ist bestanden, wenn der Prüfling ein Gesamtergebnis von mindestens 4,00 Punkten und außerdem in zwei der drei Prüfungsabschnitte einen Durchschnitt von mehr als 3,00 Punkten erreicht (§ 21). Die mündliche Prüfung ist in erster Linie eine Verständnisprüfung; sie wird vom Vorsitzenden des Prüfungsausschusses geleitet, der gemäß § 19 Abs. 3 Satz 2 JAO darauf zu achten hat, "daß ein sachgerechtes Prüfungsgespräch geführt wird". Anders als für die schriftlichen Prüfungsabschnitte (vgl. dazu § 17) enthält das Gesetz keine ausdrückliche Vorschrift darüber, daß das Bestehen der Prüfung von einer bestimmten Mindestnote für die mündliche Prüfung abhängig ist. Für das vorliegende Verfahren ist insbesondere die Regelung in § 24 über "Unterbrechen der Prüfung" von Bedeutung. Dessen Absatz 4 lautet wie folgt:
    "Unterbricht der Prüfling die Prüfung, ohne daß ein wichtiger Grund vorliegt, so ist die Prüfung nicht bestanden."
II.
1. Der 1941 geborene Beschwerdeführer, der zunächst eine Seemannsausbildung durchlaufen und das Kapitänspatent erworben hatte, studierte ab Wintersemester 1970/71 Rechtswissenschaft. 1975 scheiterte er in der Ersten Juristischen Staatsprüfung. In der Wiederholungsprüfung erzielte er für seine Hausarbeit 7 Punkte und für die Klausuren 11, 10 und 7 Punkte; nach diesem Ergebnis der schriftlichen Prüfungsarbeiten hätte er die Staatsprüfung auch dann bestanden, wenn seine Leistungen in der mündlichen Prüfung lediglich als "ungenügend" (0 Punkte) beurteilt worden wären.
In der Niederschrift über die mündliche Prüfung wurde für alle vier Prüfungsfächer die Note "ungenügend" (0 Punkte) eingesetzt, weil der Beschwerdeführer die an ihn gerichteten Fragen nahezu alle nicht beantwortete. Eine am Nachmittag des Prüfungstermins durchgeführte ärztliche Untersuchung ergab keinen Befund. Der Prüfungsausschuß sah sich bei seiner Beratung über die Schlußentscheidung außerstande, die Prüfung für bestanden zu erklären. In seiner Niederschrift führt er aus, es bestehe nach dem ersten Anschein der Verdacht, daß der Beschwerdeführer bei Anfertigung der schriftlichen Arbeiten getäuscht habe; bei allen drei Klausuren habe er etwa zur gleichen Zeit für 5 Minuten die Toilette aufgesucht. Unabhängig davon sei zu erwägen, ob nicht der Beschwerdeführer angesichts seines Schweigens auf selbst einfachste Fragen an der mündlichen Prüfung trotz körperlicher Anwesenheit nicht teilgenommen und damit die Prüfung ohne wichtigen Grund im Sinne des § 24 Abs. 4 JAO unterbrochen habe.
Nach Anhörung des Beschwerdeführers erklärte der Vorsitzende des Justizprüfungsamts durch Bescheid vom 24. September 1976, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 1. November 1976, die Wiederholungsprüfung gemäß § 24 Abs. 4 JAO für nicht bestanden. Der Begriff der "Unterbrechung" werde in der Ausbildungsordnung für alle Erscheinungsformen der Nichtteilnahme an den vorgeschriebenen Prüfungsabschnitten verwendet. Aus dem Wesen der Prüfung folge, daß eine Teilnahme an der mündlichen Prüfung nur dann vorliege, wenn sich der Prüfling über eine bloße Anwesenheit hinaus aktiv beteilige. Nur dann könne eine Leistungsbewertung erfolgen; der Beschwerdeführer habe nicht etwa völlig unbrauchbare, sondern überhaupt keine bewertbaren Leistungen erbracht.
2. Gegen diese Bescheide hat der Beschwerdeführer Klage erhoben.
a) Das Verwaltungsgericht verurteilte das Prüfungsamt nach Durchführung einer Beweisaufnahme zur Neubescheidung. Nach seiner Auffassung kann nicht schon dann eine Unterbrechung der Prüfung im Sinne des § 24 Abs. 4 JAO angenommen werden, wenn der Prüfling kaum etwas gesagt habe und das Wenige womöglich äußerst unzulänglich gewesen sei; denn das Gesetz lasse auch "völlig unbrauchbare" Leistungen als anrechenbar zu und schließe das Bestehen der Prüfung auch bei völligem Versagen in allen mündlichen Fächern nicht aus. Eine Unterbrechung liege erst dann vor, wenn der Prüfling zum Termin nicht erscheine oder wenn sich klar zeige, daß er "geistig nicht da" oder zur Führung eines sachgerechten Prüfungsgesprächs überhaupt nicht bereit sei. Dergleichen lasse sich aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zweifelsfrei feststellen. Da bislang dem vom Prüfungsausschuß ausgesprochenen Täuschungsverdacht nicht nachgegangen worden sei, könne dem Hauptantrag des Beschwerdeführers, die Prüfung für bestanden zu erklären, nicht entsprochen werden.
b) Das Oberverwaltungsgericht hat hingegen das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage durch das angegriffene Urteil vom 3. März 1978 abgewiesen.
Nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts hat der Beschwerdeführer die Prüfung trotz körperlicher und geistiger Anwesenheit im mündlichen Termin dadurch unterbrochen, daß er sich an dem in der Ausbildungsordnung vorgeschriebenen sachgerechten Prüfungsgespräch nicht beteiligt und infolgedessen keine bewertbare Prüfungsleistung erbracht habe. Es sei unerheblich, daß der Beschwerdeführer nicht ausdrücklich erklärt habe, die Prüfung zu unterbrechen. Entscheidend sei allein, ob der Kandidat die anstehende Prüfungsleistung - mit welchem Erfolg auch immer - erbringe. Da ein äußeres Verhalten, nämlich das Nichterbringen der anstehenden Prüfungsleistung, den Tatbestand der Unterbrechung im Sinne des § 24 Abs. 4 JAO erfülle, komme es auch nicht auf die vom Verwaltungsgericht für beweiserheblich gehaltene Frage an, ob sich der Beschwerdeführer schon vor der Prüfung entschlossen gehabt habe, sich nicht zu beteiligen. Die bloße körperliche und geistige Anwesenheit in der Prüfung sei keine Prüfungsleistung im Sinne des § 14 JAO, der die Maßstäbe für die Bewertung der einzelnen Prüfungsleistungen aufstelle. Was in der mündlichen Prüfung als Prüfungsleistung zu erbringen sei, ergebe sich aus dem Wesen der mündlichen Prüfung, die gemäß § 19 JAO in erster Linie eine "Verständnisprüfung" sei und die ein sachgerechtes "Prüfungsgespräch" erfordere. An einem solchen Prüfungsgespräch habe sich der Beschwerdeführer nicht beteiligt. Ganz allgemein komme ein Gespräch nicht zustande, wenn nur einer rede, der andere aber schweige oder ganz selten etwas sage und dabei auf die Worte des ersten nicht eingehe. Ein Prüfungsgespräch im Sinne der Prüfungsordnung ergebe sich, wenn sich der Prüfer - im wesentlichen durch Fragen und gelegentliche für den Kandidaten hilfreiche Einführungen und Ergänzungen - und der Kandidat - im wesentlichen durch Antworten und erläuternde Beiträge - zu den Prüfungsgebieten äußerten und dabei jeweils auf die Beiträge des Partners eingingen. Der Beschwerdeführer habe diese Rolle eines Partners im Prüfungsgespräch nicht gespielt; er sei fast ausschließlich Zuhörer gewesen. Selbst bei gelegentlichen Äußerungen auf bohrende Fragen habe er keinen Beitrag für ein sachgerechtes Prüfungsgespräch geliefert. Da das Verständnis zu prüfen sei, habe es nicht genügt, daß er etwas gesagt habe, was juristisch belanglos gewesen sei und von jedem anderen ohne rechtswissenschaftliches Studium ebenso hätte gesagt werden können. Derartige Äußerungen stellten insgesamt nicht etwa eine völlig unbrauchbare Leistung dar, die nach § 14 JAO mit "ungenügend" zu bewerten sei. Sie erfülle vielmehr nicht einmal das Tatbestandsmerkmal einer "Leistung" im Sinne dieser Vorschrift.
c) Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat das Revisionsgericht zurückgewiesen, da die Rügen des Beschwerdeführers nicht auf eine die Verletzung von Bundesrecht betreffende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung gerichtet seien, die einer revisionsrechtlichen Klärung zugänglich zu machen wäre. Der erkennende Senat habe bislang die Möglichkeit, daß die Auslegung irrevisiblen Landesrechts unter bestimmten Voraussetzungen gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen und damit Bundesrecht verletzen könnte, als Ausnahmefall gekennzeichnet, von dem etwa dann gesprochen werden könne, wenn sich eine Auslegung als "offenbar willkürlich" darstelle. Die am Gesetzeszweck ausgerichtete Auslegung des Oberverwaltungsgerichts erscheine vertretbar und plausibel; ihr hafte jedenfalls nichts Willkürliches an. Sie trage auch dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung; der Begriff der Unterbrechung werde vom Berufungsgericht in seinem Gehalt so formuliert, daß der Prüfling die Rechtslage erkennen und sein Verhalten danach einrichten könne. Ob das Oberverwaltungsgericht den Begriff der Prüfungsunterbrechung zutreffend auf die mündliche Prüfung des Beschwerdeführers angewendet habe, betreffe allein die der revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogene Anwendung von hamburgischem Landesprüfungsrecht.
III.
1. Mit seiner gegen die Prüfungsbescheide sowie gegen die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG geltend.
Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist die Auslegung des § 24 Abs. 4 JAO durch das Berufungsgericht willkürlich, da nicht erkennbar sei, unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten als Nichtleistung im Unterschied zu einer völlig unbrauchbaren Leistung anzusehen sei. Wer teilnehme, aber nichts leiste, erbringe eine "völlig unbrauchbare Leistung", keineswegs eine "Nichtleistung". Würden der Teilnahmebegriff und der Leistungsbegriff vermengt, so könne jede nach dem Gesetz bereits bestandene Prüfung unter Berufung auf eine schlechte mündliche Leistung für nicht bestanden erklärt werden. Ein solches Verfahren sei rechtsstaatswidrig. Der Prüfling könne nicht erkennen, wie lange er denkend schweigen dürfe, wie abwegig und wie häufig er abwegig antworten dürfe, um noch als Teilnehmer angesehen zu werden. Im übrigen sei der eigentliche Anlaß für die angegriffene Prüfungsentscheidung der Täuschungsverdacht, für den sich keine hinreichenden Anhaltspunkte hätten finden lassen, der aber unter einem anderen Etikett weiterverfolgt worden sei, um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen.
2. Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg namens des Senats sowie das Justizprüfungsamt geäußert.
Beide bezweifeln die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Die erst nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts eingelegte Verfassungsbeschwerde müsse als verspätet angesehen werden, da die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers offensichtlich aussichtslos gewesen sei.
In beiden Stellungnahmen wird die Verfassungsbeschwerde übereinstimmend als unbegründet beurteilt. Nach Meinung der Justizbehörde sind die angegriffenen Entscheidungen als Anwendung einfachen Rechts auf den Einzelfall verfassungsgerichtlich nur begrenzt nachprüfbar. Sie verletzten weder die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG noch sonstiges spezifisches Verfassungsrecht. Insoweit könne auf die überzeugende rechtliche Würdigung durch das Bundesverwaltungsgericht verwiesen werden. Im übrigen sei das Berufungsurteil in jeder Hinsicht frei von Rechtsfehlern.
Auch das Justizprüfungsamt bezieht sich auf die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, das den Vorwurf willkürlicher Rechtsanwendung zutreffend zurückgewiesen habe. Der Beschwerdeführer seinerseits behaupte lediglich, das Berufungsurteil sei willkürlich, ohne sich im einzelnen mit der zutreffenden sachlichen und rechtlichen Urteilsbegründung auseinanderzusetzen. Seine Unterstellungen, die Prüfungsentscheidung beruhe auf einem insgeheim gehegten Täuschungsverdacht, seien durch nichts gerechtfertigt; nachweislich sei die Prüfungsentscheidung sowie auch ihre Verteidigung während des Rechtsstreits allein auf die ausführlich erörterte Vorschrift des § 24 Abs. 4 JAO gestützt worden.
 
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
I.
Die in den Stellungnahmen geäußerten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde sind nicht gerechtfertigt.
Die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde setzt gemäß § 90 Abs. 2, § 93 Abs. 1 BVerfGG voraus, daß sowohl der Rechtsweg zuvor erschöpft als auch die Einlegungsfrist von einem Monat gewahrt worden ist. Beide Vorschriften greifen ineinander. Einerseits führt die Einlegung eines offensichtlich unzulässigen Rechtsmittels nicht dazu, daß durch die später ergehende Entscheidung die Monatsfrist neu in Lauf gesetzt wird. Andererseits kann der Grundsatz der Subsidiarität gebieten, das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung auch auf außerordentliche Rechtsbehelfe wie die Nichtzulassungsbeschwerde auszudehnen. Lassen sich Zulässigkeit und Erfolgsaussichten dieses Rechtsbehelfs unterschiedlich beurteilen, so ist die weitere Beschreitung des Rechtswegs in der Regel nicht unzumutbar, doch darf die damit verbundene Ungewißheit nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen. Vielmehr beginnt in solchen Fällen der Fristablauf für die Einlegung der Verfassungsbeschwerde erst mit der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 16, 1 [2f]; 19, 145 [146f]; 28, 314 [319f]).
Im vorliegenden Fall beruhten die Entscheidungen des Prüfungsausschusses und des Oberverwaltungsgerichts zwar auf der Anwendung nicht revisiblen Landesrechts. Doch durfte der Beschwerdeführer versuchen, auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg der Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung mit der Begründung zu erreichen, die Auslegung dieses irrevisiblen Rechts verstoße gegen das Grundgesetz und verletze daher Bundesrecht. Das Bundesverwaltungsgericht selbst hat - wie in dem angegriffenen Beschluß dargelegt wird - eine solche Möglichkeit zwar als Ausnahmefall angesehen, jedoch nicht ausgeschlossen.
II.
Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung schon mehrfach den engen Zusammenhang zwischen Ausbildung und späterer Berufstätigkeit hervorgehoben und demgemäß Vorschriften, die für die Aufnahme eines Berufs eine bestimmte Vorbildung und Ausbildung sowie den Nachweis der erworbenen Fähigkeiten durch Bestehen einer Prüfung verlangen, an Art. 12 Abs. 1 GG gemessen (vgl. die Nachweise BVerfGE 37, 342 [352f] und 41, 251 [261]). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt dieses Grundrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab darüber hinaus auch für Regelungen über die Durchführung berufsrelevanter Prüfungen in Betracht (BVerwGE 38, 105 [113]; NJW 1979, S. 2417 [2418] für Vorschriften über die juristische Staatsprüfung). Es bestehen keine Bedenken, dieser Auffassung im vorliegenden Fall beizutreten. Zwar wird im Prüfungsrecht im allgemeinen der auf Art. 3 Abs. 1 GG beruhende Grundsatz der Chancengleichheit im Vordergrund stehen. Hängt aber das Ablegen einer Prüfung eng mit dem späteren Berufsweg zusammen und ist ihr Bestehen Zulassungsvoraussetzung für die Aufnahme eines Berufs, so kann durch Prüfungsregelungen auch der besondere Freiheitsraum berührt werden, den Art. 12 Abs. 1 GG sichern will. Das gilt jedenfalls für solche Vorschriften, die das Nichtbestehen dieser Prüfung als Sanktion für ein bestimmtes Verhalten anordnen.
Um die Anwendung gerade einer solchen Vorschrift handelt es sich im vorliegenden Fall. Der Normgeber hat - wie bereits das Verwaltungsgericht hervorgehoben hat - nicht den Weg beschritten für die mündliche Prüfung ein Mindestniveau vorzuschreiben und das Bestehen der Staatsprüfung davon abhängig zu machen, daß der Prüfling bei diesem Prüfungsabschnitt nicht völlig versagt. In Ermangelung einer solchen Regelung, die für den vorliegenden Fall eine rechtlich unbedenkliche Entscheidung ermöglicht haben dürfte, hat das Prüfungsamt auf die Vorschrift des § 24 Abs. 4 JAO zurückgegriffen. Diese enthält aber keine Regelung über inhaltliche Prüfungsanforderungen und die Bewertung von Prüfungsleistungen, sondern ist eine Vorschrift über das Prüfungsverfahren. Die Prüfungsentscheidung "nicht bestanden" ist nicht das Ergebnis einer Leistungsbewertung, sondern hat die Rechtsnatur einer Sanktion, die unabhängig von Leistungen verhängt wird.
2. Der vorliegende Fall nötigt nicht zur näheren verfassungsrechtlichen Prüfung des § 24 Abs. 4 JAO. Es kann ferner mit der Hamburgischen Justizbehörde davon ausgegangen werden, daß Entscheidungen, die diese Vorschrift auf Fälle der vorliegenden Art anwenden, als Auslegung und Anwendung einfachen Rechts nur begrenzt der verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterliegen (vgl. BVerfGE 18, 85 [92f]; 42, 143 [148f]). Das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG wird jedenfalls dadurch verletzt, daß bei den angegriffenen Entscheidungen der Einfluß dieses Grundrechts auf die Verfahrensgestaltung außer acht geblieben ist.
Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte auch im jeweiligen Verfahrensrecht Geltung beansprucht. So folgt bereits unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 GG die Pflicht, bei Eingriffen in dieses Grundrecht einen effektiven Rechtsschutz zu gewähren, der den Anspruch auf faire Verfahrensführung einschließt (vgl. zuletzt BVerfGE 46, 325 [334]; 49, 220 [225]; zum Gebot fairer Verfahrensführung vgl. ferner BVerfGE 46, 202 [210] m.w.N.). Eine verfassungskonforme Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts gebieten ebenso die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 51, 324 = EuGRZ 1979, S. 470; Beschluß vom 3. Oktober 1979, NJW 1979, S. 2607) und aus Art. 12 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 37, 67 [77] - prozeßunfähiger Anwalt; BVerfGE 39, 276 [294] - Passivlegitimation für Zulassungsklagen; BVerfGE 41, 251 [265] - schulrechtliche Ordnungsmaßnahmen; BVerfGE 44, 105 [119 ff.]; 45, 422 [430 ff.]; 48, 292 [297f] - vorläufige Berufsverbote und Amtsenthebungen; BVerfGE 50, 16 [30] - Anfechtbarkeit von Mißbilligungen). Da diese Auswirkungen bereits unmittelbar aus dem jeweiligen Grundrecht folgen, beschränken sie sich nicht auf das Verfahren der gerichtlichen Überprüfung, sondern beeinflussen auch die Gestaltung des behördlichen Verfahrens, soweit die behördliche Entscheidung ein Grundrecht berührt.
Unter Berücksichtigung der verfahrensrechtlichen Auswirkungen des Art. 12 Abs. 1 GG hätte die Prüfungskommission es nicht unterlassen dürfen, den Beschwerdeführer bereits während der Prüfung darauf hinzuweisen, daß sein Schweigen nach der Sanktionsvorschrift des § 24 Abs. 4 JAO beurteilt werden könnte. Die Anwendung dieser Vorschrift hat zur Folge, daß die gesamte Prüfung als nicht bestanden gilt. Sie hat also - namentlich bei Wiederholungsprüfungen - schwerwiegende Auswirkungen für den weiteren beruflichen Werdegang des Prüflings. Angesichts dieser Folgen durfte die Prüfungskommission die Anwendbarkeit der Vorschrift nicht - ihrerseits schweigend - ohne weiteres voraussetzen. Mag auch ihre Anwendbarkeit selbst dann, wenn der Prüfling im Termin anwesend ist, nicht völlig ausgeschlossen sein, so liegt doch jedenfalls die Auslegung nicht nahe, daß sogar eine völlig unbrauchbare Leistung aktive Teilnahme an der Prüfung voraussetze und daß ein Schweigen des Kandidaten als Unterbrechung anzusehen sei. Normalerweise wird der im Prüfungstermin anwesende Kandidat darauf vertrauen, daß für die verschiedenen Prüfungsfächer eine der in § 14 JAO vorgesehenen Noten festgesetzt und eine völlig unbrauchbare Leistung mit "ungenügend" bewertet wird. So ist die Prüfungskommission im Falle des Beschwerdeführers zunächst auch verfahren. Hätte sie den Beschwerdeführer bereits während des Termins darauf hingewiesen, daß die Prüfung wegen seines schwer verständlichen Verhaltens als unterbrochen angesehen und für nicht bestanden erklärt werden könne, hätte sich der Beschwerdeführer auf dieses Risiko einstellen können, statt weiterhin darauf zu vertrauen, daß er selbst bei völlig unbrauchbaren mündlichen Leistungen aufgrund der Ergebnisse seiner schriftlichen Arbeiten die Prüfung bestehen werde. Da ein solcher rechtzeitiger Hinweis unterblieben ist und die Sanktionsvorschrift des § 24 Abs. 4 JAO erst nachträglich herangezogen wurde, ist der Beschwerdeführer durch die Erklärung seiner Wiederholungsprüfung als nicht bestanden in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt worden.
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, die diese Prüfungsentscheidung gleichwohl gebilligt hat, war daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Damit wird der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts gegenstandslos. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.
Dr. Benda, Dr. Böhmer, Dr Simon, Dr. Faller, Dr. Hesse, Dr. Katzenstein, Dr. Niemeyer, Dr. Heußner