BGHZ 63, 196 - Eingriff in Eigentum an Gemeindestraßen
a) Eine Gemeinde kann nicht nach Art. 14 GG Entschädigung verlangen, wenn in ihr Eigentum an einer Gemeindestraße im Rahmen der öffentlichen Zweckbestimmung der Straße eingegriffen wird (hier: Untertunnelung durch Bundesstraße).
b) Der Entschädigungsausschluß in § 6 Abs. 1 S. 1 FStrG ist mit Art. 14 GG vereinbar.
GG Art. 14; Bundesfernstraßengesetz § 6 Abs. 1
III. Zivilsenat
 
Urteil
vom 31. Oktober 1974
i.S. des W.-Zweckverbandes (Kl.) w. Bundesrepublik Deutschland (Bekl.)
- III ZR 45/72 -
I. Landgericht München I
II. Oberlandesgericht München
Der Kläger ist ein von der Gemeinde Gr. und weiteren Gemeinden zum Zwecke der Wasserversorgung und der Abwasserbeseitigung gebildeter Zweckverband. Er stellte im Jahre 1961 für das Gebiet der Gemeinde Gr. einen Entwässerungsprojektplan auf und baute das Kanalnetz in den folgenden Jahren teilweise aus.
Die beklagte Bundesrepublik ließ durch das Gebiet der Gemeinde Gr. eine neue Bundesstraße bauen. Die Trasse wurde im Jahre 1968 endgültig festgelegt, nachdem die Anordnung über die Bestimmung des Planungsgebietes am 30. Oktober 1964 in der Gemeinde Gr. bekanntgemacht worden war. Im Gebiet dieser Gemeinde verläuft die neue Bundesstraße in etwa 6m Tiefe in einem Tunnel. Drei Gemeindestraßen werden auf einem Kreuzungsbauwerk über die neue Bundesstraße geführt.
Der Kläger behauptet, nach seinem Entwässerungsprojektplan hätten in den drei genannten Straßen in etwa 3-4m Tiefe Abwasserkanäle verlegt werden sollen. Infolge der Straßenbaumaßnahmen der Beklagten sei dies aus bautechnischen Gründen nicht mehr möglich. Statt dessen müsse auf der Südseite der neuen Bundesstraße ein Sammelkanal gebaut werden. Der Kläger verlangt von der Beklagten nach Enteignungsgrundsätzen eine Entschädigung wegen der dadurch entstehenden Mehrkosten. Seine Klage blieb in drei Rechtszügen erfolglos.
 
Aus den Gründen:
I.
1. Da eine sondergesetzliche Regelung, auf die der Kläger sich stützen könnte, nicht vorhanden ist, kann sein Anspruch auf Enteignungsentschädigung sich allein unmittelbar auf Art. 14 GG gründen. Die Überlegung, ob der Kläger als gemeindlicher Zweckverband für die Mehrkosten des Sammelkanals zu entschädigen ist, muß daher von der Frage ausgehen, ob und inwieweit juristischen Personen des öffentlichen Rechts, zu denen der Kläger gehört, Grundrechte zustehen. Diese Frage wird nicht bereits durch die Vorschrift des Art. 19 Abs. 3 GG beantwortet, wonach die Grundrechte auch für inländische juristische Personen gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Denn obwohl diese Verfassungsbestimmung nicht zwischen juristischen Personen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts unterscheidet, gebietet sie es nicht, beide einander gleichzustellen. Vielmehr hat das \'bbWesen\'ab der Grundrechte, von dem deren Geltung abhängen soll, auch für die Entscheidung der Frage Bedeutung, ob insbesondere juristische Personen des öffentlichen Rechts den Schutz der Grundrechte genießen (BVerfGE 21, 362, 369).
Die Grundrechte sollen in erster Reihe die Freiheitssphäre des einzelnen gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt schützen und ihm insoweit zugleich die Voraussetzungen für eine freie aktive Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen sichern. Juristische Personen genießen daher nur dann den Schutz der Grundrechte, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung hinter ihnen stehender natürlicher Personen ist (BVerfGE aaO). Von diesen Grundgedanken ausgehend hat das Bundesverfassungsgericht aaO grundsätzliche Bedenken dagegen geäußert, die Grundrechtsfähigkeit auf juristische Personen des öffentlichen Rechts im Bereich der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zu erstrecken (ebenso BVerfGE 24, 367, 383). Es hat dazu ausgeführt, wenn die Grundrechte das Verhältnis des einzelnen zur öffentlichen Gewalt beträfen, so sei es damit unvereinbar, den Staat selbst zum Teilhaber oder Nutznießer der Grundrechte zu machen (BVerfGE 21,369 f; im Ergebnis ebenso Dürig in: Festschrift für Apelt (1958), S. 13,37 f). Diesen Grundsätzen schließt der hier erkennende Senat sich an.
2. Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt braucht nicht zwischen dem Kläger und den ihn bildenden Gemeinden unterschieden zu werden. Denn die dem Kläger durch seine Satzung eingeräumte Rechtsposition kann nicht weitergehen als die der beteiligten Gemeinden. Ihm ist ein Entschädigungsanspruch nach Art. 14 GG also jedenfalls dann zu versagen, wenn auch die Gemeinde Gr. in gleicher Lage eine Entschädigung nicht verlangen könnte. Das aber ist der Fall.
Die Planung und Errichtung von gemeindlichen Entwässerungsanlagen ist eine öffentliche Aufgabe. Entsprechend den vorgenannten Grundsätzen ist ein Grundrechtsschutz der Gemeinde und mithin des Klägers bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe zu verneinen. Etwas anderes ergibt sich weder aus der in Art. 28 Abs. 2 GG festgelegten Garantie der gemeindlichen Selbstverwaltung noch daraus, daß der Straßenbau der Beklagten in das Eigentum der Gemeinde an den betroffenen Gemeindestraßen eingegriffen hat.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz, daß juristische Personen des öffentlichen Rechts im Bereich der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben nicht den Schutz der Grundrechte genießen, nicht auf den Staat im eigentlichen Sinne, also auf Bund und Länder beschränkt (BVerfGE 21,370). Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, daß der Staat die öffentlichen Aufgaben nicht in allen Fällen selbst wahrnimmt, sondern sich zu ihrer Erfüllung vielfach selbständiger Rechtsgebilde bedient. Es wäre mit dem primären Wesen der Grundrechte als Abwehrrechte des einzelnen gegenüber Eingriffen des Staates unvereinbar, wenn durch die Verteilung staatlicher Aufgaben auf rechtlich selbständige Funktionsträger für diese ein Grundrechtsschutz begründet würde. Als Staat, der nicht selbst zum Teilhaber oder Nutznießer der Grundrechte gemacht werden darf, sind vielmehr auch rechtlich verselbständigte öffentlich-rechtliche Träger staatlicher Aufgaben zu behandeln.
Auch die Gemeinden nehmen in diesem Sinne \'bbstaatliche\'ab Aufgaben wahr, wobei es auf die kommunalrechtliche Unterscheidung zwischen sogenannten Selbstverwaltungsangelegenheiten und sonstigen Gemeindeaufgaben nicht ankommt. Art. 28 Abs. 2 GG, wonach Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht der Selbstverwaltung gewährleistet sein muß (vgl. dazu Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz Art. 28 Rdn. 27), besagt nicht, daß die Gemeinden bei der Wahrnehmung ihrer öffentlichen Aufgaben etwas vom \'bbStaat\'ab in dem hier gemeinten Sinne Verschiedenes seien. Denn die Verfassungsbestimmung, die nahezu einhellig nicht als Grundrecht der Gemeinden, sondern als institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung verstanden wird (Stern, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung Rdn. 70; Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 4. Aufl. Rdn. 12; v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. Anm. IV 1a und b; alle zu Art. 28), gewährleistet diese nur im Rahmen und nach Maßgabe der Gesetze. Darin kommt nicht nur die Einbindung der Gemeinden in die staatliche Rechtsordnung zum Ausdruck, sondern auch ihre Eingliederung in die Organisation der öffentlichen Verwaltung. Die Gemeinden sind nach heutigem Verständnis Glieder im gestuften Staatsaufbau (Stern aaO). Zwischen ihnen und dem Staat besteht daher nicht eine Gegensätzlichkeit, die es rechtfertigen könnte, den Gemeinden insoweit einen Grundrechtsschutz gegenüber staatlichen Eingriffen zu gewähren. Für ihre Grundrechtsfähigkeit kann nichts grundsätzlich anderes gelten als für andere juristische Personen des öffentlichen Rechts.
b) Die Eingliederung der Gemeinden in die öffentliche Verwaltungsorganisation muß sich auch auf die Beurteilung der weiteren Frage auswirken, ob die Gemeinde Gr. den Schutz des Art. 14 GG deswegen in Anspruch nehmen kann, weil der Straßenbau der Beklagten in ihr Straßeneigentum eingegriffen hat. Das Eigentum an den Gemeindestraßen steht einer Gemeinde nicht zu, um ihr in ihrem eigenen Interesse Rechte zu verschaffen, sondern um sie zur Wahrnehmung ihrer öffentlichen Aufgaben zu befähigen. Dieser Gedanke kommt etwa in der Regelung der §§ 6 Abs. 1; 24 Abs. 3 FStrG zum Ausdruck, wonach das Eigentum an der Straße künftig und zum Teil auch rückwirkend der Straßenbaulast folgt (vgl. Marschall, Bundesfernstraßengesetz, 3. Aufl. § 6 Rdn. 1.1); er liegt auch dem durch Gesetz vom 4. Juli 1974 (BGBl I 1401) neu eingefügten § 6 Abs. 1b FStrG zugrunde. Ihre öffentlichen Aufgaben nimmt die Gemeinde - wie ausgeführt - als Teil der öffentlichen Verwaltungsorganisation wahr. Daraus folgt, daß Eingriffe in das Straßeneigentum, die von hoher Hand im Rahmen der öffentlichen Zweckbestimmung der Straße erfolgen, die Gemeinde nicht in einer durch die Verfassung garantierten Eigentümerstellung treffen. Es fehlt der Widerstreit zwischen den Interessen des einzelnen und denen der Allgemeinheit, den die Verfassung regeln will (vgl. insbesondere Art. 14 Abs. 3 GG). Der Eingriff in das Straßeneigentum der Gemeinde kann daher einen Entschädigungsanspruch nach Art. 14 GG nicht auslösen (s. auch Dürig aaO).
Im vorliegenden Fall hat sich durch den Bau der neuen Bundesstraße, die die drei Gemeindestraßen in der Form einer Unterführung kreuzt, im Kreuzungsbereich folgende Rechtslage ergeben: Das Kreuzungsbauwerk hat der Träger der Straßenbaulast der Bundesstraße, nach § 5 FStrG also im Zweifel die Beklagte, zu unterhalten, während die übrigen Teile der Kreuzungsanlage der Träger der Straßenbaulast derjenigen Straße zu unterhalten hat, zu der sie gehören (§ 13 Abs. 2 FStrG). Hierzu sind nähere Bestimmungen durch die aufgrund des § 13 Abs. 9 FStrG ergangene Verordnung über Kreuzungsanlagen im Zuge von Bundesfernstraßen vom 26. Juni 1957 (BGBl I 659) - StrKrVO - getroffen worden. Danach erstreckt sich die Straßenbaulast für die von der Bundesfernstraße gekreuzte Straße im Kreuzungsbereich außer auf Verkehrszeichen und andere hier nicht interessierende Einrichtungen und Anlagen nur noch auf die Straßendecke dieser Straße (§ 2 Abs. 1 und 2 StrKrVO). Nach § 6 Abs. 1 FStrG ergibt sich daraus, daß von den drei Gemeindestraßen im Kreuzungsbereich nur die Straßendecke (nebst Verkehrszeichen usw.) im Eigentum der Gemeinde Gr. verblieben ist, während alle übrigen Teile der Kreuzung einschließlich des Straßengrundes in das Eigentum der Beklagten übergegangen sind (vgl. hierzu Marschall § 13 Rdn. 1). § 6 Abs. 1 Satz 1 FStrG bestimmt dazu, daß der Eigentumswechsel ohne Entschädigung erfolgt. Nach dem oben Gesagten sind weder gegen den gesetzlich bestimmten Eigentumsübergang noch gegen den Ausschluß einer Entschädigung verfassungsrechtliche Bedenken zu erheben (im Ergebnis ebenso Marschall § 6 Rdn. 1.1; Sieder/Zeitler, BayStraßen- und Wegegesetz, 2. Aufl. Art. 11 Rdn. 5 für die entsprechende landesrechtliche Vorschrift).
Der Sachverhalt weist allerdings die Besonderheit auf, daß die Anlage der Straßenkreuzungen mit dem dadurch bewirkten Eigentumswechsel im Kreuzungsbereich sich rein tatsächlich auch auf die Nutzbarkeit der angrenzenden Teile der von der neuen Bundesstraße gekreuzten Gemeindestraßen auswirkt. Diese können - jedenfalls nach dem Vorbringen des Klägers - nicht mehr wie zuvor zur Anlage von Leitungen benutzt werden. Es kann fraglich sein, ob der Ausschluß der Entschädigungspflicht in § 6 Abs. 1 Satz 1 FStrG sich auf diese Beeinträchtigung in der Nutzbarkeit der angrenzenden Straßenteile erstreckt. Auch wenn das nicht der Fall ist, begründet diese Beeinträchtigung des Straßeneigentums aber keinen Entschädigungsanspruch. Ein Straßengrundstück kann in vielfältiger Weise genutzt werden, wobei die eine Form der Nutzung die andere ausschließenkann. Daß im vorliegenden Fall der Untertunnelung der Gemeindestraßen im Zuge des Baues der Bundesstraße der Vorzug vor einer Nutzung zur Anlage von Entwässerungsleitungen gegeben wurde, war eine Verwaltungsentscheidung der dafür zuständigen Stelle. An dieser Beurteilung ändert es nichts, daß für den Bau der Bundesstraße die staatliche Straßenbauverwaltung und für die Anlage der Entwässerungsleitungen der Kläger zuständig ist. Denn beide Stellen sind bei der Entscheidung über die Nutzung der Straßengrundstücke im Rahmen der insoweit als Einheit zu betrachtenden öffentlichen Verwaltung tätig geworden. Der zwischen ihren Absichten bestehende Konflikt wurde durch die Vorschrift des § 16 Abs. 2 Satz 3 FStrG entschieden, wonach die Bundesplanung grundsätzlich den Vorrang vor der Orts- oder Landesplanung hat. Auch insoweit muß daher gelten, daß die Verteilung öffentlicher Funktionen auf verschiedene selbständige Funktionsträger keinen Grundrechtsschutz des einen gegen den anderen zur Folge haben kann.
3. Nach alledem hat der Kläger gegen die Beklagte wegen der Mehrkosten des Sammelkanals schon deswegen keinen Entschädigungsanspruch aus Enteignung, weil ihm die Eigentumsgarantie der Verfassung nicht zur Seite steht. Daher kommt auch ein Anspruch aus (rechtswidrigem) enteignungsgleichem Eingriff nicht in Betracht.