BGE 1 I 343 - Totalrevision Schaffhausen
 
89. Urtheil vom 25. Oktober 1875 in Sachen Uehlinger.
 
A.
Am 4. Mai 1873 hat das Volk des Kantons Schaffhausen eine Totalrevision der Kantonsverfassung beschlossen und sodann die Ausarbeitung einer Vorlage einem Verfassungsrathe übertragen. Seither unterbreitete derselbe dem Volke drei Entwürfe zur Annahme und es fanden die Abstimmungen am 27. Dezember 1873, 18. April 1874 und 30. Mai 1875 statt. Da jedoch sämmtliche drei Vorlagen nicht die Zustimmung der Mehrheit der im Kantone anwesenden Stimmberechtigten fanden, so erklärte der Verfassungsrath dieselbe als verworfen.
 
B.
Ueber diese Beschlüsse des Verfassungsrathes beschwerten sich J. Uehlinger und fünf andere Bürger des Kantons Schaffhausen mit Eingabe vom 18. Juni d.J. beim Bundesrathe und stellten das Gesuch, es möge derselbe beschließen:
    1. Es sei der Rekurs begründet, indem die Verfassung des Kantons Schaffhausen in ihren §§ 3, 29, 70 und 75 für Annahme oder Verwerfung einer Verfassungsvorlage die Mehrheit der Stimmberechtigten vorschreibe, die an verfassungsmäßigen Versammlungen Theil nehmen; es seien somit sämmtliche Vorlagen vom Volke angenommen;
    2. bei einer weitern Vorlage sei die absolute Mehrheit der Stimmberechtigten, die sich in verfassungsmäßigen Versammlungen aussprechen, maßgebend.
Diese Begehren stützten Rekurrenten auf den Inhalt der in Ziffer 1 angerufenen Artikel der bestehenden Kantonsverfassung, welche lauten:
    Art. 3
    Die Souverainetät beruht auf der Gesammtheit der Aktivbürger des Kantons und wird von denselben in verfassungsmäßigen Versammlungen ausgeübt:
    b) Durch das Recht der Annahme oder Verwerfung der Kantonsverfassung und der Verfassungsgesetze.
    Art. 29
    Für die Ausübung der in § 3 aufgeführten Souverainetätsrechte ist jedenfalls die Theilnahme der Mehrheit der im Wahlbezirke anwesenden Stimmberechtigten erforderlich.
    Art. 70
    Wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten sich für Annahme der Verfassung erklärt hat, so tritt dieselbe sofort in Kraft.
    Art. 75
    Behufs der gültigen Entscheidung sowohl der Frage über die Vornahme einer totalen Revision, als über Annahme und Verwerfung der Verfassung und Verfassungsgesetze ist erforderlich, daß die absolute Mehrheit der stimmberechtigten Einwohner des Kantons in den Wahlversammlungen sich hiefür ausspreche.
Aus diesen Verfassungsbestimmungen wollten Rekurrenten herleiten, daß diejenigen Stimmberechtigten, welche an den Wahlversammlungen nicht Theil nehmen, beim Abstimmungsresultate nicht berücksichtigt werden können und daher die Mehrheit der Stimmenden über Annahme oder Verwerfung der Verfassung entscheide. Nun haben aber alle drei Vorlagen die Zustimmung derjenigen Stimmberechtigten, welche an den Wahlversammlungen sich betheiligt haben, erhalten, und seien dieselben daher auch als angenommen zu betrachten.
 
C.
Der Verfassungsrath des Kantons Schaffhausen trug auf Abweisung der Beschwerde an und zwar gestützt auf die von den Rekurrenten angeführten Art. 70 und 75 der Schaffhausen'schen Verfassung, welche die Auslegung der Rekurrenten gar nicht zulassen und auch stets so, wie es in den angefochtenen Beschlüssen geschehen, aufgefaßt worden seien.
 
D.
Die Art. 70 und 75 der gegenwärtigen, im Jahre 1852 angenommenen, Verfassung hatten ursprünglich folgende Fassung:
    Art. 70
    Wenn die Mehrheit der stimmenden Aktivbürger des Kantons u.s.w.
    Art. 75
    Behufs der gültigen Entscheidung sowohl der Frage über die Vornahme einer totalen Revision, als auch über die Annahme und Verwerfung der Verfassungsgesetze ist erforderlich, daß wenigstens zwei Dritttheile der stimmberechtigten Einwohner des Kantons in den Wahlversammlungen sich anwesend befinden.
Da aber diese letztere Bestimmung, gestützt auf Art. 6 litt. c der frühern Bundesverfassung, die Genehmigung des Bundes nicht erhielt, so wurden beide Artikel dahin abgeändert, daß in Art. 70 die Worte: "Mehrheit der stimmenden Aktivbürger des Kantons" durch "Mehrheit der Stimmberechtigten" ersetzt wurden und Art. 75 ebenfalls die gegenwärtige Fassung erhielt. Darauf wurde der Verfassung durch Bundesbeschluß vom 19. Juli 1856 ohne Beschränkung die bundesgemäße Garantie ertheilt.
 
E.
Mit Zuschrift vom 6. Oktober dies Jahres überwies der Bundesrath diese Streitigkeit dem Bundesgerichte zur Entscheidung, da es sich um eine staatsrechtliche Frage handle, die nach Art. 113 Ziffer 3 der Bundesverfassung und Art. 59 litt. a des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege in die Kompetenz des Bundesgerichtes falle.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
 
Erwägung 2
2. Im vorliegenden Falle ist nun die Gültigkeit der über die Verfassungsvorlagen erfolgten Abstimmungen anerkannt und behaupten die Rekurrenten nur, daß das Resultat derselben auf verfassungswidrige Weise ausgelegt worden sei. Nach dem Wortlaute der zitirten bundesgesetzlichen Bestimmung (Art. 59 Lemma 2 Ziff. 9 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege) handelt es sich somit in der That nicht um eine Beschwerde, welche in den Geschäftskreis des Bundesrathes fällt.
 
Erwägung 3
3. Zu einer über den Wortlaut derselben hinausgehenden Interpretation ist aber um so weniger Grund vorhanden, als einerseits, wie bereits bemerkt, die Kompetenz des Bundesgerichtes, wo es sich um die Wahrung verfassungsmäßiger Rechte handelt, die Regel, und diejenige des Bundesrathes nur die Ausnahme bildet und anderseits dem Bundesrathe bloß die Streitigkeiten vorwiegend politischer und administrativer Natur übertragen werden wollten, zu diesen aber wohl Beschwerden gehören, welche die Kassation einer Wahl oder Abstimmung wegen Nichtbeobachtung des gesetzlichen Verfahrens, mangelnder Wahlfähigkeit eines Gewählten u.s.w. anstreben, nicht aber solche, welche sich auf die Anwendung der einschlagenden Verfassungsbestimmungen auf das als gültig anerkannte Resultat einer Abstimmung beziehen.
 
Erwägung 4
 
Erwägung 5
 
Erwägung 6
 
Demnach hat das Bundesgericht
erkannt:
Die Beschwerde ist als unbegründet abgewiesen.