BGE 121 I 60
 
8. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 3. April 1995 i.S. M. gegen V. und Obergericht des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 BV, Art. 68 Abs. 1 SchKG und Art. 54 Abs. 2 GebVSchKG; Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Rechtsöffnungsverfahren.
 
Sachverhalt
A.- Mit Verfügung vom 26. September 1994 erteilte der Präsident des Bezirksgerichts Bischofszell V. in der Betreibung Nr. 4356 des Betreibungsamtes Zihlschlacht gegen M. definitive Rechtsöffnung für eine Forderung von Fr. 31'766.-- nebst Zins von 5% seit dem 8. Juli 1994. Diese Verfügung focht M. mit Rekurs vom 17. Oktober 1994 bei der Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau mit dem Antrag an, die definitive Rechtsöffnung zu verweigern.
B.- Am 18. Oktober 1994 wurde M. von der Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau aufgefordert, einen Kostenvorschuss von Fr. 450.-- zu leisten, worauf dieser um unentgeltliche Prozessführung ersuchte. Mit Beschluss der Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 28. November 1994 wurde sowohl der Rekurs gegen den Rechtsöffnungsentscheid als auch das Begehren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege abgewiesen.
C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 6. Februar 1995 beantragt M. dem Bundesgericht, es seien der Entscheid der Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 28. November 1994 sowie die Verfügung des Präsidenten des Bezirksgerichts Bischofszell vom 26. September 1994 aufzuheben. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung im Verfahren vor Bundesgericht.
V. beantragt, die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen. Die Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
 
Aus den Erwägungen:
a) Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege (unentgeltliche Prozessführung, unentgeltlicher Rechtsbeistand) wird durch das kantonale Prozessrecht geregelt. Unabhängig davon wird ein Mindestanspruch der bedürftigen Partei auf unentgeltliche Rechtspflege in einem nicht aussichtslosen Prozess direkt aus Art. 4 BV abgeleitet (BGE 120 Ia 179 E. 3, BGE 120 Ia 14 E. 3a, BGE 119 Ia 251 E. 3, je mit Hinweisen).
aa) Das Verfahren der Rechtsöffnung ist bundesrechtlich geregelt. Gemäss Art. 68 Abs. 1 SchKG trägt grundsätzlich der Schuldner die Betreibungskosten. Nach Art. 54 Abs. 2 GebVSchKG (SR 281.35) hat diejenige Partei einen Kostenvorschuss zu leisten, die den Richter angerufen oder den Entscheid weitergezogen hat. Vor dem Hintergrund dieser bundesrechtlichen Kostenregelung für das Betreibungsverfahren ist das Bundesgericht in seiner früheren Rechtsprechung davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege weder im Betreibungsverfahren im allgemeinen (BGE 55 I 363) noch im Rechtsöffnungsverfahren im speziellen (BGE 85 I 137 mit Hinweisen) bestehe.
bb) In seiner neueren Rechtsprechung hat das Bundesgericht den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege indessen in verschiedenen Rechtsgebieten kontinuierlich ausgebaut. Ein solcher Anspruch wird nicht nur für das Zivil- und Strafprozessrecht (BGE 112 Ia 14 E. 3a mit Hinweisen), sondern auch für das Verwaltungsbeschwerde- und das Verwaltungsgerichtsverfahren unmittelbar aus Art. 4 BV abgeleitet (Art. BGE 112 Ia 14 E. 3c). Im Bereich des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens wird ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für das sozialversicherungsrechtliche Abklärungs- (BGE 114 V 228 E. 5) und Einspracheverfahren (BGE 117 V 408) sowie für das Verfahren betreffend Rückversetzung in den Massnahmenvollzug bzw. Vollzug der aufgeschobenen Strafe bejaht (BGE 117 Ia 277 E. 5a). Hinsichtlich des Betreibungsverfahrens beschränkte sich das Bundesgericht in BGE 114 III 67 auf die Feststellung, dass Art. 68 SchKG und Art. 54 Abs. 2 GebVSchKG die unentgeltliche Rechtspflege nicht ausschliessen würden, während in mehreren neueren Entscheiden der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für das Konkursverfahren zufolge Insolvenzerklärung vom Bundesgericht bejaht wurde (BGE 118 III 27, BGE 118 III 33, BGE 119 III 113). Aufgrund dieser Rechtsprechung kommt das Bundesgericht insgesamt zum Schluss, dass nach einem zeitgemässen Verfassungsverständnis der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege unabhängig von der Rechtsnatur der Entscheidungsgrundlagen bzw. des in Frage stehenden Verfahrens für jedes staatliche Verfahren bestehe, in welches der Gesuchsteller einbezogen werde, oder dessen er zur Wahrung seiner Rechte bedürfe (BGE 119 Ia 264 E. 3a).
cc) In der Literatur wird der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für das Betreibungsverfahren seit längerem bejaht. Die Annahme in BGE 55 I 363 und BGE 85 I 137, die bundesrechtlich geregelte Kostenregelung schliesse die unentgeltliche Rechtspflege im Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren generell aus, wurde als "reichlich gewagt" bezeichnet (GULDENER, Zwangsvollstreckung und Zivilprozess, in: ZSR 74, 1955 I. HB, S. 32). In der neueren Literatur wird mit Hinweis auf die Entwicklung der Rechtsprechung die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege auch für das Betreibungsverfahren befürwortet (STÄHELIN, Die betreibungsrechtlichen Streitigkeiten, in FS 100 Jahre SchKG, Zürich 1989, S. 81 f.; ZEN-RUFFINEN, Assistance judiciaire et administrative: Les règles minima imposées par l'article 4 de la Constitution fédérale, in: JdT 137, 1989, S. 58 f.). Die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung für das Konkursverfahren zufolge Insolvenzerklärung (BGE 118 III 27; BGE 118 III 32) ist denn auch überwiegend begrüsst worden (AMONN, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1992 zum Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, ZBJV 129, 1993, S. 746; KLEY-STRULLER, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, AJP 1995, S. 188; LORANDI, AJP 1994, S. 105 ff.), während ein kritischer Kommentar (WALDER, BlSchK 56, 1992, S. 148 f.) konkursrechtliche Besonderheiten betrifft, die hier nicht von Bedeutung sind.
b) Im vorliegenden Fall rechtfertigt es sich nach dem Gesagten nicht mehr, einen direkt aus Art. 4 BV abgeleiteten Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung im Rechtsöffnungsverfahren zu verneinen. Ein zeitgemässes Verfassungsverständnis (BGE 119 Ia 264 E. 3a) verlangt, dass jeder Betroffene grundsätzlich ohne Rücksicht auf seine finanzielle Situation in nicht aussichtslosen Prozessen Zugang zum Gericht haben soll (BGE 119 Ia 134 E. 4). Dem bedürftigen Gläubiger soll die Durchsetzung seiner Ansprüche und dem mittellosen Schuldner die Anfechtung eines gegen ihn gerichteten Entscheides im Rechtsöffnungsverfahren ermöglicht werden.
Die Gründe, die im angefochtenen Entscheid gegen die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Rechtsöffnungsverfahren vorgebracht werden, sind nicht stichhaltig. Zunächst ist festzuhalten, dass Art. 68 SchKG und Art. 54 Abs. 2 GebVSchKG die Kostenregelung für das Betreibungsverfahren nicht abschliessend regeln. Mit einlässlicher Begründung hat das Bundesgericht erläutert, dass diese Bestimmungen durchaus Raum für eine direkt aus Art. 4 BV abgeleitete Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege lassen und daher verfassungskonform auszulegen sind (BGE 118 III 27, BGE 118 III 32). Sodann kann es auch nicht darauf ankommen, dass es sich beim Rechtsöffnungsverfahren um ein reines Zwangsvollstreckungsverfahren handelt, denn der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hängt nicht von der Rechtsnatur des in Frage stehenden Verfahrens ab, sondern einzig davon, ob der Bürger des Armenrechts zur Wahrung seiner Rechte bedarf (BGE 119 Ia 265; KLEY-STRULLER, a.a.O., S. 180 und 188). Schliesslich geht auch der Hinweis der Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau in doppelter Weise fehl, dass eine Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Rechtsöffnungsverfahren rechtswidrig sei, weil damit der ergebnislose Ausgang des Vollstreckungsverfahrens unzulässig vorweggenommen werde. Einerseits verkennt dieses Argument, dass sich nicht nur der Schuldner, sondern auch der mittellose Gläubiger im Rechtsöffnungsverfahren auf das Armenrecht berufen kann. Anderseits ist der möglicherweise ergebnislose Ausgang des Vollstreckungsverfahrens keineswegs die Folge der Gewährung des Armenrechts, sondern der Mittellosigkeit des Schuldners.
c) Die Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau verstösst daher mit dem Hinweis auf ihre ständige Praxis, im Rechtsöffnungsverfahren kein Armenrecht zu gewähren, gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch des Beschwerdeführers auf unentgeltliche Prozessführung. Die staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb insofern gutzuheissen, als der Beschwerdeführer die Aufhebung von Ziff. 3 des angefochtenen Urteils verlangt. Das Verfahren ist an die Vorinstanz zur Prüfung der materiellen Voraussetzungen für die Gewährung der vom Beschwerdeführer beantragten unentgeltlichen Prozessführung zurückzuweisen.