BGE 124 III 90 - Julia X |
18. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung |
vom 22. Dezember 1997 |
i.S. L.X. gegen M.F. |
(staatsrechtliche Beschwerde) |
Regeste |
Art. 12 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UNO-Kinderrechtekonvention). Direkte Anwendbarkeit dieser Bestimmung; persönliche Anhörung des Kindes. |
Art. 12 UNO-Kinderrechtekonvention ist eine direkt anwendbare Staatsvertragsbestimmung, deren Verletzung beim Bundesgericht angefochten werden kann (E. 3a). |
Gemäss Art. 12 UNO-Kinderrechtekonvention ist eine Anhörung des Kindes in einem Verfahren, das seine Angelegenheiten betrifft, nur dann erforderlich, wenn das Kind fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden (E. 3b). Ist ein 6jähriges Kind, das seinen Vater nicht kennt, zur Frage des Besuchsrechts anzuhören (E. 3c)? |
Sachverhalt |
Am 18. Oktober 1991 wurde Julia X. geboren. Sie ist die Tochter von L.X. und M.F. und steht unter der elterlichen Gewalt ihrer Mutter. Mit Urteil vom 28. Juni 1993 stellte das Bezirksgericht die Vaterschaft von M.F. fest. In der Folge versuchte M.F. während längerem erfolglos, sich mit L.X. über die Ausübung eines Besuchsrechtes bezüglich seiner Tochter Julia zu einigen. Am 30. Juni 1994 gelangte der Vater an die Vormundschaftsbehörde mit dem Antrag, "die Aufnahme des persönlichen Kontaktes zu seiner Tochter und die Ausübung des Besuchsrechtes zu ermöglichen". Nach längerer Sistierung des Verfahrens räumte die Vormundschaftsbehörde M.F. mit Beschluss vom 20. November 1996 ein Besuchsrecht ein, und zwar jeweils am zweiten Sonntag jeden Monats zwischen 11.00 Uhr und 17.00 Uhr im Rahmen der "Betreuten Besuchstage" in [...]. Eine von L.X. gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde wurde vom Bezirksrat mit Beschluss vom 18. März 1997 abgewiesen. Eine Klage, mit welcher L.X. die Verweigerung des Besuchsrechtes verlangte, wurde vom Obergericht abgewiesen.
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Auszug aus den Erwägungen: |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 3 |
a) Eine Beschwerde wegen Verletzung von Staatsvertragsrecht im Sinn von Art. 84 Abs. 1 lit. c OG ist nur zulässig, wenn die staatsvertragliche Bestimmung, deren Verletzung gerügt wird, direkt anwendbar (self-executing) ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Bestimmung inhaltlich hinreichend bestimmt und klar ist, um im Einzelfall Grundlage eines Entscheides zu bilden; die Norm muss mithin justiziabel sein, die Rechte und Pflichten des Einzelnen zum Inhalt habe, und Adressat der Norm müssen die rechtsanwendenden Behörden sein (BGE 118 Ia 112 E. 2b S. 117; 106 Ia 182 E. 3 S. 187). Die Frage der direkten Anwendbarkeit von Art. 12 UNO-Kinderrechtekonvention wird weder von der Konvention selbst noch von der bundesrätlichen Botschaft zum Beitritt der Schweiz beantwortet; vielmehr begnügt sich die Botschaft mit dem Hinweis, es werde Sache der rechtsanwendenden Behörde sein, über die Justiziabilität der einzelnen Bestimmungen zu entscheiden (BBl 1994 V S. 20 und 39). Art. 12 der Kinderrechtekonvention hat folgenden Wortlaut:
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1 Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äussern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.
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2 Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.
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Diese Bestimmung zeichnet sich sowohl in ihrer inhaltlichen Zielsetzung als auch in der notwendigen Umsetzung durch einen hohen Grad an Konkretheit aus und erweist sich als inhaltlich hinreichend bestimmt und klar. Art. 12 UNO-Kinderrechtekonvention räumt dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht ein, diese Meinung in allen die Angelegenheit des Kindes betreffenden Verfahren zu äussern; insofern hat diese Bestimmung die Rechte des Einzelnen zum Gegenstand. Die Formulierungen, dass "die Vertragsstaaten" dem Kind das Meinungsäusserungsrecht "sichern" (Abs. 1) und dass dem Kind in allen es berührenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren die "Gelegenheit [...] gegeben" wird, gehört zu werden (Abs. 2), sind so zu verstehen, dass sich die Bestimmung direkt an die rechtsanwendenden Behörden - und nicht etwa nur an den Gesetzgeber - richten. Insbesondere handelt es sich dabei nicht um Vorschriften unbestimmten Charakters, die zur praktischen Handhabung erst noch der Umsetzung im innerstaatlichen Recht bedürften. Aber auch der Verweis auf die nationale Verfahrensgesetzgebung steht der unmittelbaren Anwendbarkeit der Bestimmung nicht entgegen; der Sinn dieses Passus kann nämlich nicht darin bestehen, die Anhörung des Kindes - eine zentrale Bestimmung der Konvention - davon abhängig zu machen, dass die Signatarstaaten eine solche überhaupt vorsehen; vielmehr ist darin ein Verweis auf die einschlägigen nationalen Verfahrensvorschriften zu sehen, soweit solche bestehen (siehe dazu CLAIRE NEIRINCK/PIERRE-MARIE MARTIN, Un traité bien maltraité, La Semaine juridique 1993, S. 3677, insbes. Ziff. 19; MARIE-CLAIRE RONDEAU-RIVIER, La Convention des Nations unies sur les droits de l'enfant devant la Cour de cassation: un traité mis hors jeu, Recueil Dalloz Sirey 1993, Chronique, S. 203 ff., insbes. S. 205).
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Aus diesen Gründen handelt es sich bei Art. 12 UNO-Kinderrechtekonvention um einen direkt anwendbaren Rechtssatz, so dass deren Verletzung beim Bundesgericht angefochten werden kann.
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b) Bereits aus dem Wortlaut von Art. 12 UNO-Kinderrechtekonvention geht klar hervor, dass die persönliche Anhörung des Kindes nicht in jedem Fall zwingend vorgesehen ist. Vielmehr sind die rechtsanwendenden Behörden nur dann verpflichtet, dem Kind Gelegenheit zur Meinungsäusserung zu geben - und anschliessend diese Meinung auch angemessen zu berücksichtigen -, wenn das Kind fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden (Abs. 1). Ist diese Fähigkeit aufgrund der Entwicklung des Kindes noch nicht gegeben und daher seine unmittelbare Anhörung nicht angezeigt, sieht die Konvention eine Vertretung des Kindes oder die Einbeziehung anderer für das Kind verantwortlicher Personen vor (Abs. 2). Die Praxis in der Schweiz entspricht bereits heute dieser differenzierten Lösung, die in der Konvention in bezug auf die Anhörung des Kindes verankert ist. Das Bundesgericht hat unlängst entschieden, dass im Scheidungsprozess auch der Zuteilungswunsch des Kindes berücksichtigt werden muss, namentlich wenn es sich aufgrund des Alters und der Entwicklung des Kindes um einen gefestigten Entschluss handelt (BGE 122 III 401 E. 3b mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung in bezug auf die Regelung der elterlichen Gewalt ist auch auf die Frage der Regelung des Besuchsrechtes anwendbar (vgl. bereits BGE 100 II 76 E. 4b S. 82; 122 I 53 E. 4a S. 55); dies gilt selbstredend unabhängig davon, ob über die Frage des persönlichen Verkehrs in einem Scheidungsverfahren oder - wie im vorliegenden Fall - ausserhalb eines solchen zu entscheiden ist. Auch der Entwurf zum neuen Scheidungsrecht sieht in Art. 133 Abs. 2 ausdrücklich vor, dass nicht nur für die Zuteilung der elterlichen Sorge, sondern auch für die Regelung des persönlichen Verkehrs, soweit tunlich, auf die Meinung des Kindes Rücksicht zu nehmen ist.
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Diese Begründung ist überzeugend. Offensichtlich vermag sich ein knapp sechsjähriges Kind, dem bislang jeglicher Kontakt zum leiblichen Vater vorenthalten wurde, keine eigene Meinung darüber zu bilden, ob die Kontaktaufnahme mit dem Vater im Rahmen eines eng begrenzten Besuchsrechtes in seinem Interesse liege. Bezeichnenderweise setzt sich die Beschwerdeführerin denn auch nicht mit der zutreffenden Argumentation im angefochtenen Entscheid auseinander, sondern wirft dem Obergericht vor, dass in unzulässiger Weise zwischen Scheidungs- bzw. Trennungskindern, die ihren Vater kennen, und einem nichtehelichen Kind, das seinen Vater nicht kennt, unterschieden werde. Völlig zu Unrecht unterstellt die Beschwerdeführerin dem Obergericht eine rechtsungleiche Behandlung von Scheidungs- bzw. Trennungskindern und nichtehelichen Kindern. Dem angefochtenen Urteil kann für eine solche Unterscheidung nicht der geringste Hinweis entnommen werden; vielmehr unterscheidet es nur in bezug auf die Frage, ob das Kind seinen Vater bereits kennt und sich daher eine eigene Meinung zu einem Besuchsrecht bilden kann, oder ob dies nicht der Fall ist, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein aussereheliches Kind handelt oder nicht. Wenn sich aber Julia angesichts ihres Alters und weil sie bislang ihren Vater nicht kennenlernte, keine eigene Meinung zur Frage des Besuchsrechtes bilden konnte, durfte das Obergericht ohne Verletzung von Art. 12 Abs. 1 UNO-Kinderrechtekonvention auf eine Anhörung von Julia verzichten. Umgekehrt wird Art. 12 Abs. 2 UNO-Kinderrechtekonvention insoweit Genüge getan, indem die Beschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin dem Kind mittelbar Gehör verschaffen konnte.
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