BVerwGE 75, 142 - Nichtigkeitsdogma
Die höhere Verwaltungsbehörde als Plangenehmigungsbehörde ist nicht befugt, die Nichtigkeit eines von ihr als ungültig erkannten Bebauungsplans verbindlich festzustellen. Ebensowenig kann sie die rechtswidrig erteilte, inzwischen aber gemäß § 12 BBauG ortsüblich bekanntgemachte Genehmigung des damit in Kraft getretenen Bebauungsplans zurücknehmen.
Auch ein als ungültig erkannter Bebauungsplan ist - abgesehen von der gerichtlichen Nichtigkeitserklärung im Normenkontrollverfahren - in dem für die Aufhebung von Bebauungsplänen geltenden Verfahren aufzuheben, um damit den Anschein seiner Rechtsgeltung zu beseitigen. Beruht die Ungültigkeit des Plans auf einem Verfahrens- oder Formfehler, hat die Gemeinde darüber zu entscheiden, ob sie den Plan, statt ihn aufzuheben, unter Behebung des Fehlers und Wiederholung des nachfolgenden Verfahrens rückwirkend in Kraft setzt.
BBauG §§2 Abs. 5 und 6, 2 a, 6 Abs. 2, 10, 11, 12, 115 a Abs. 5, 155 b, 183 f Abs. 3
 
Urteil
des 4. Senats vom 21. November 1986
- BVerwG 4 C 22.83 -
I. Verwaltungsgericht Stade
II. Oberverwaltungsgericht Lüneburg
Die klagende Gemeinde wendet sich gegen einen Bescheid der beklagten Bezirksregierung über die Feststellung der Nichtigkeit eines Bebauungsplans und die Rücknahme der Genehmigung des Plans. Der Plan, der ein Kleinsiedlungsgebiet festsetzt, war 1967 mit ortsüblicher Bekanntmachung der Genehmigung erlassen worden. In der Folgezeit ergab sich, daß der Plan die Verwirklichung von Zielen der Raumordnung zur Landesentwicklung und Industrieansiedlung erschwerte. Daraufhin stellte die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid die Nichtigkeit des Bebauungsplans wegen Verletzung formeller und materieller Vorschriften des Bundesbaugesetzes fest. Zugleich nahm sie in dem Bescheid ihre Genehmigung des Plans zurück. Zur Begründung führte sie an, der Satzungsbeschluß bringe nicht zum Ausdruck, daß die Planbegründung mitbeschlossen oder übernommen worden sei, und einzelne Träger öffentlicher Belange seien nicht beteiligt worden.
Die Anfechtungsklage der Gemeinde hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg. Die Revision des Beklagten wurde zurückgewiesen.
 
Aus den Gründen:
Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, daß der angefochtene Bescheid einer Rechtsgrundlage entbehrt. Das Bundesbaugesetz gibt der höheren Verwaltungsbehörde weder die Befugnis, die Nichtigkeit des Bebauungsplans verbindlich gegenüber der Gemeinde festzustellen, noch die Befugnis, die erteilte Genehmigung zurückzunehmen.
Die Mitwirkung der höheren Verwaltungsbehörde am Zustandekommen eines Bebauungsplans beschränkt sich nach den §§11 und 6 Abs. 2 BBauG auf die Rechtskontrolle des Plans im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens und auf die Erteilung der Genehmigung als Wirksamkeitsvoraussetzung für den Plan. Mit der Erteilung der Genehmigung ist die Mitwirkung abgeschlossen. Ob die höhere Verwaltungsbehörde die erteilte Genehmigung vor deren ortsüblicher Bekanntmachung durch die Gemeinde noch zurücknehmen kann, wenn sie nachträglich Rechtsmängel des Plans erkennt, ist hier nicht zu entscheiden. Jedenfalls räumt das Bundesbaugesetz der höheren Verwaltungsbehörde nicht die Befugnis ein, nach ortsüblicher Bekanntmachung der Genehmigung eines Bebauungsplans (§ 12 BBauG) im Rahmen einer nachträglichen Rechtskontrolle die Nichtigkeit des Plans festzustellen. Insbesondere läßt sich dem Bundesbaugesetz keine Kompetenz der für die Plangenehmigung zuständigen höheren Verwaltungsbehörde zu einer umfassenden Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung im Bereich der Bauleitplanung entnehmen.
Im Gegenteil: Das Bundesbaugesetz bestimmt, daß der Bebauungsplan als Satzung zu beschließen und bekanntzumachen ist (§§ 10, 12). Eine Norm kann - abgesehen von der Nichtigerklärung in einem gerichtlichen Normen-kontrollverfahren wie es für den Bebauungsplan § 47 VwGO vorsieht -grundsätzlich nur in dem für die Normsetzung geltenden Verfahren aufgehoben werden. So sieht es auch das Bundesbaugesetz (§ 2 Abs. 6) für den Bebauungsplan vor; er ist in dem Verfahren, das für seine Aufstellung gilt, aufzuheben. Etwas anderes gilt auch nicht für den Fall, daß der Bebauungsplan an einem zur Ungültigkeit führenden Fehler leidet. Das gebietet die Rechtssicherheit; denn mit dem Erlaß und der Verkündung eines Bebauungsplans tut der Satzungsgeber der Öffentlichkeit kund, daß die von ihm beschlossene Satzung Geltung beansprucht. Leidet die Satzung an einem Fehler, so ist dies im allgemeinen nicht für jedermann erkennbar, an den sich die Satzung richtet. Der durch Normgebung gesetzte Rechtsschein ist deshalb durch einen Gegenakt der Normsetzung, d. h. beim fehlerhaften Bebauungsplan durch dessen förmliche Aufhebung, zu beseitigen, wenn der Fehler nicht "geheilt" oder "heilbar" ist. Das ist für Bebauungspläne, die eine geordnete städtebauliche Entwicklung gewährleisten sollen (§ 1 Abs. 6 BBauG), auch deshalb unumgänglich, weil mit deren Aufhebung im allgemeinen zugleich darüber zu entscheiden ist, welche Ordnung an die Stelle der mit dem fehlerhaften Plan beabsichtigten Ordnung treten soll. Die mit dem Fortfall eines Bebauungsplans an dessen Stelle tretenden §§ 34 und 35 BBauG können zur Zulässigkeit von Vorhaben führen, die einer geordneten städtebaulichen Entwicklung zuwiderlaufen, so daß im Sinne des § 1 Abs. 3 BBauG die erneute Aufstellung eines Bebauungsplans erforderlich ist. Aus diesem Grunde hat die Beteiligung der Träger öffentlicher Belange und der Bürger (§§ 2 Abs. 5, 2 a BBauG) eine wichtige Bedeutung auch für Bebauungspläne, die die Gemeinde wegen eines die Ungültigkeit begründenden Fehlers förmlich aufheben will. Die Beteiligung soll auch dazu dienen, der Gemeinde Erkenntnisse darüber zu vermitteln, ob die Aufstellung eines neuen Bebauungsplans im Sinne des § 1 Abs. 3 BBauG erforderlich ist und welche Belange dabei zu berücksichtigen sind.
Dem somit gebotenen förmlichen Aufhebungsverfahren für die "Beseitigung" eines von der Gemeinde als ungültig erkannten Bebauungsplans kann auch nicht entgegengehalten werden, ein nichtiger Bebauungsplan sei rechtlich nicht existent und könne folglich nicht als Rechtssatz aufgehoben werden. Diese Ansicht verkennt, daß die Nichtigkeit eines Bebauungsplans im allgemeinen nicht offenkundig ist und daß der Plan, solange er nicht in dem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren, nämlich durch förmliche Aufhebung nach §§ 2 Abs. 6, 2 a, 10, 11 und 12 BBauG oder in einem Normen-kontrollverfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO, "beseitigt" ist, den Schein der Rechtsgeltung erzeugt.
Dieses Ergebnis wird durch die §§ 155 a, 115 b und 183 f BBauG bestätigt. Sie verfolgen das Ziel, aus Gründen der Rechtssicherheit den Bestand von Bauleitplänen zu sichern und Fehler, die die rechtsstaatlichen Anforderungen an Planung und Normsetzung sowie die Grundsätze der Bauleitplanung nicht berühren, weitgehend auf die Gültigkeit des Plans nicht durchschlagen zu lassen. Ist durch einen Verfahrens- oder Formfehler gleichwohl die Gültigkeit des Plans berührt, so kann die Gemeinde nach §§ 155 a Abs. 5 und 183 f Abs. 3 BBauG unter Behebung des Fehlers in einem erneuten Verfahren den Bebauungsplan rückwirkend in Kraft setzen. Die Regelung setzt voraus, daß die Gemeinde prüft, ob und wie der Fehler - wenn er überhaupt beachtlich ist (vgl. § 155 a Abs. 1 und 2, 155 b BBauG) - behebbar ist, und dann entscheidet, ob und wie sie ihn behebt. Diese Möglichkeit würde der Gemeinde entzogen, wenn die höhere Verwaltungsbehörde die Befugnis hätte und von ihr Gebrauch machte, mit verbindlicher Wirkung gegenüber der Gemeinde die Nichtigkeit eines solchen Bebauungsplans festzustellen.
Übrigens ist die Gemeinde nicht nur befugt, sondern auch gehalten, den als nichtig erkannten Bebauungsplan, wenn sie die die Nichtigkeit begründenden, behebbaren Fehler nicht beheben will, nach den Vorschriften über die Aufstellung von Bauleitplänen (§§ 2, 2 a, 10, 11 und 12 BBauG) aufzuheben. Das gebietet - wie schon ausgeführt - die Rechtssicherheit.
Mit seinen vorstehenden Ausführungen schließt der Senat nicht aus, daß nach Maßgabe des Landesrechts die Kommunalaufsichtsbehörde, die mit der Plangenehmigungsbehörde identisch sein kann, aufgrund eigener Erkenntnis der Ungültigkeit eines Bebauungsplans mit den landesrechtlich gegebenen Mitteln die Gemeinde veranlaßt, den Bebauungsplan nach dem im Bundesbaugesetz dafür vorgesehenen Verfahren aufzuheben. Darum geht es hier aber nicht.
Der Fall gibt ferner keinen Anlaß, auf die Frage einzugehen, wie sich eine Behörde bei der Entscheidung eines Einzelfalls - wie etwa die Bauaufsichtsbehörde bei der Entscheidung über ein Baugesuch - zu verhalten hat, wenn sie Zweifel an der Gültigkeit eines Bebauungsplans hat, auf dessen Gültigkeit es für die Entscheidung ankommt (vgl. auch BGH, Urteil vom 10. April 1986 - III ZR 209/84 - DVB1. 1986, 1264 ff.); denn die Beklagte hat nicht über die Gültigkeit des Bebauungsplans aus Anlaß der Entscheidung eines Einzelfalls befunden. Sie hat vielmehr unabhängig von einem konkret zu entscheidenden Fall eine selbständige, auf Beseitigung des Plans gerichtete Verfügung erlassen.
Die Beklagte kann das von ihr verfolgte Ziel auch nicht dadurch erreichen, daß sie die dem Bebauungsplan erteilte Genehmigung zurücknimmt. Zwar ist die Erteilung der Genehmigung gegenüber der Gemeinde ein Verwaltungsakt. Sie ist aber zugleich und in erster Linie Mitwirkung an einem Rechtssetzungsverfahren. Sie kann nicht mehr isoliert rückgängig gemacht werden, wenn das Rechtssetzungsverfahren abgeschlossen und der Rechtssatz entstanden ist. Jedenfalls von diesem Zeitpunkt an kann nur noch der Rechtssatz selbst - und nicht mehr ein einzelner Akt, der zu seiner Entstehung beigetragen hat- rückgängig gemacht, d. h. in einem Rechtssetzungsverfahren aufgehoben oder im gerichtlichen Normenkontrollverfahren für nichtig erklärt werden. Der höheren Verwaltungsbehörde die Möglichkeit zu eröffnen, nach Inkrafttreten des Bebauungsplans die Genehmigung gemäß § 48 VwVfG zurückzunehmen, wäre eine Umgehung des Grundsatzes, daß ein Bebauungsplan, und zwar auch ein nichtiger, in dem für seine Aufstellung geltenden Verfahren aufzuheben ist.
Aus demselben Grunde kommt auch nicht die Feststellung der Nichtigkeit der Genehmigung des Bebauungsplans in Betracht (vgl. hierzu auch das Senatsurteil vom 21. November 1986 - BVerwG 4 C 60.84 -). Eine solche Feststellung wäre hier - selbst wenn die Genehmigungsbehörde vor Inkraftsetzung des Bebauungsplans bemerkt hätte, daß sie die Genehmigung nach § 11 Satz 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 2 BBauG nicht hätte erteilen dürfen -nicht in Betracht gekommen. Die Genehmigung eines fehlerhaft zustande gekommenen Bebauungsplans ist entgegen der Meinung der Beklagten kein "substratloser Verwaltungsakt", der in analoger Anwendung des § 44 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG nichtig wäre. Sie gilt einem von der Gemeinde beschlossenen und der Plangenehmigungsbehörde zur Rechtmäßigkeitskontrolle vorgelegten Plan und bescheinigt - wenn auch fälschlich - dessen Rechtmäßigkeit. Ein Vergleich mit einem Verwaltungsakt, "den aus tatsächlichen Gründen niemand ausführen kann", ist nicht angebracht. Es ist im Sinne des § 44 Abs. 1 VwVfG auch nicht offenkundig, daß eine Genehmigung an einem Fehler leidet, wenn der Bebauungsplan, dem sie gilt, Rechtsvorschriften widerspricht.