BGHSt 9, 385 - Begriff der Heimtücke


BGHSt 9, 385 (385):

Heimtückisch tötet, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tat ausnutzt. Die Tat braucht nicht heimtückisch zu sein, wenn der Täter glaubt, zum Besten des Opfers zu handeln.
 
Beschluß
des Großer Senats für Strafsachen vom 22. September 1956
-- g. B. GSSt 1/56 --
 
Gründe:
 
A. -- I.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hält zur Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Großen Senats für Straf

BGHSt 9, 385 (386):

sachen zu folgender Frage von grundsätzlicher Bedeutung für erforderlich:
    "Setzt das Begriffsmerkmal der Heimtücke beim Mord außer der bewußten Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit eine bestimmte Gesinnung des Täters (zB Falschheit, Verschlagenheit oder dergleichen) gegenüber dem Opfer voraus?"
II.
Anlaß zur Vorlage ist dem 5. Strafsenat ein Verfahren mit folgendem Sachverhalt:
Der Angeklagte veruntreute als städtischer Vollziehungsbeamter in den Jahren 1953 und 1954 etwa 400 DM. Er war verbittert darüber, daß ihm die Stadtverwaltung eine Zulage von 75 DM herabgesetzt hatte. Er glaubte, daß ihm auf diese Zulage ein Rechtsanspruch zustünde. Deshalb versuchte er, sich die Zulage in voller Höhe durch unrichtige Gebührenabrechnungen zu erhalten. Die Stadtverwaltung entdeckte dies und untersagte es ihm, seine Dienstgeschäfte fortzuführen. Hierdurch geriet der Angeklagte, der an krankhafter Überempfindlichkeit leidet, in tiefe Verzweiflung. Er versuchte, sich zu töten, indem er 20 Morphiumtabletten einnahm und sich über den geöffneten Gashahn beugte. Der Versuch mißlang, weil ihn die 11jährige Tochter überraschte und weil ständiges Erbrechen einsetzte. Die große Menge Morphium steigerte seinen Zustand unbeherrschter Verzweiflung. So faßte er in schlafloser Nacht erneut den Entschluß, aus dem Leben zu scheiden und hierbei Ehefrau und Tochter, die er sehr liebte, mit in den Tod zu nehmen. Er glaubte, daß seine Familie die Entbehrung und die Not, die er über sie gebracht hatte, nicht ertragen könnte. Deshalb meinte er, seiner Familie eine Wohltat zu erweisen, wenn er sie auslösche. Zu diesem zweck öffnete er die Gashähne. Das ausströhmende Gas führte seine völlige Unzurechnungsfähigkeit herbei. Als seine Tochter den Gasgeruch spürte und sich an ihn wandte, erwürgte er sie. Auch seine Ehefrau versuchte er zu erwürgen, als sie erwachte. Dies gelang ihm jedoch nicht. Darauf floh er zur Polizei.
Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags verurteilt. Es nimmt an, daß er im Zustande verminderter Zurechnungsfähigkeit die Gashähne geöffnet habe, um seine Familie zu töten. Heimtückisches Handeln verneint

BGHSt 9, 385 (387):

das Schwurgericht, weil der Angeklagte geglaubt habe, seiner Familie eine Wohltat zu erweisen, indem er sie töte. Dieser Sachverhalt und die Begründung, die der 5. Strafsenat für seine Vorlegefrage gegeben hat, zeigen, daß er über den engen Wortlaut seiner Frage hinaus allgemein hat fragen wollen:
    "Setzt das Merkmal der Heimtücke bei Mord mehr voraus als die bewußte Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers, insbesondere eine verwerfliche Gesinnung des Täters?"
Dazu bemerkt der Große Senat folgendes:
 
B. -- I.
Die Neufassung des § 211 StGB durch das Gesetz vom 4. September 1941 (RGBl. I S. 549) lehnt sich an alte Entwürfe zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch an. Art. 52 des Vorentwurfs dieses Gesetzes nach den Beschlüssen der Expertenkommission 1896 lautete:
    "Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, wird mit Zuchthaus von 10 bis 15 Jahren bestraft.
    Tötet der Täter aus Mordlust, aus Habgier, unter Verübung von Grausamkeit, heimtückisch oder mittels Gift, Sprengstoffen oder Feuer, oder um die Begehung eines anderen Verbrechens zu verdecken oder zu erleichtern, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Tötet der Täter in leidenschftlicher Aufwallung, so ist die Strafe Zuchthaus bis zu 10 Jahren."
Der Vorentwurf von 1908 enthielt in Art. 64 inhaltlich die gleiche Regelung mit unbedeutenden sprachlichen Änderungen. Stoss hierzu in seinem Bericht aus, daß der Entwurf gerechtfertigt sei, weil er "dieses vage und fließende Unterscheidungsmerkmal von Mord und Totschlag (nämlich Vorbedacht oder Überlegung) nicht beibehält". Die Vorentwürfe wurden nicht Gesetz. Art. 112 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs vom 21. Dezember 1937 heißt vielmehr:
    "Hat der Täter unter Umständen oder mit einer Überlegung getötet, die seine besonders verwerfliche Gesinnung oder seine Gefährlichkeit offenbaren, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft."
Den entgegengesetzten Weg ging die deutsche Gesetzgebung. Die amtliche Strafrechtskommission faßte 1936 in zweiter Lesung den § 211 StGB so:
    "Wer einen Menschen tötet, wird, wenn er besonders verwerflich gehandelt hat, als Mörder mit dem Tode bestraft.


    BGHSt 9, 385 (388):

    Besonders verwerflich handelt in der Regel, wer die Tat aus Mordlust, Habgier, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes oder sonst aus niedrigen beweggründen, auf hinterlistige oder grausame Weise oder mit gemeingefährlichen Mitteln, oder zum Zweck eine andere Straftat zu ermöglichen begeht." (Gürtner, Das kommende deutsche Strafrecht, Bes. Teil S. 385).
Hiernach sollten die in § 211 Abs. 2 StGB aufgezählten Beweggründe und Ausführungsarten der Tötung oder die mit ihr verfolgten Zwecke nur "in der Regel" als besonders verwerflich gelten und deshalb Merkmale des Mordes sein. Graf Gleispach konnte deshalb hierzu mit Recht ausführen, daß stets eine Gesamtbewertung des Täters erforderlich und "auch stärkste Belastung nach einer der drei Richtungen hin, zB art der Ausführung, doch mit dem Urteil: Totschlag vereinbar" sei (a.a.O. S. 385).
Die Fassung, die Gesetz geworden ist, stellt ein besonderes verwerfliches Handeln weder als allgemeinen Oberbegriff des Mordes auf, noch bezeichnet sie die Beweggründe und Ausführungsarten der Tötung und die mit ihr verfolgten Zwecke nur als dessen Regelfälle. Nach ihr ist vielmehr Mörder, wer nach den im einzelnen gekennzeichneten drei Richtungen getötet hat. Dieser an sich klare Gesetzeswortlaut ergibt gerade im Zusammenhang mit der zunächst vorgeschlagenen Fassung, daß immer schon als Mörder zu bestrafen ist, wer beim Töten eines der in § 211 Abs. 2 StGB aufgeführten Merkmale erfüllt. Gegenüber diesem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes fällt die Ansicht eines Mitgliedes der amtlichen Strafrechtskommission nicht ins Gewicht, nach der sich die endgültige Fassung von der früheren inhaltlich nicht unterscheide (Freisler, DJ 1941, 929, 935). Sie ist ersichtlich unrichtig und läßt sich auch nicht auf den Satz der amtlichen Begründung stützen: "Die Bezeichnung des Täters als Mörder bzw Totschläger weist den Richter an, die Gesamtpersönlichkeit des Täters zu prüfen und zu würdigen." Eine Gesamtbewertung hat der Richter auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach den in den Entscheidungen BGHSt 3, 330 und BGH NJW 1954, 565 aufgestellten Grundsätze vorzunehmen.
II.
Das Schrifttum nimmt überwiegend an, Mörder sei nur, wer ein Merkmal des § 211 Abs. 2 StGB verwirkliche und zugleich besonders verwerflich handele (Schönke-Schröder 7. Aufl

BGHSt 9, 385 (389):

§ 211 Anm V; Leipz Kom 6. und 7. Aufl § 211 Anm. I 1 S. 184; Kohlrausch-Lange 4. Aufl § 211 Anm IV und VIII 5; Welzel, Lehrbuch 4. Aufl., S. 208; Eb. Schmidt, DRZ 1949, 241, 245). Danach soll der Richter im Einzelfalle nach seinem Ermessen darüber entscheiden, ob der Täter, der den Tatbestand des § 211 Abs. 2 StGB erfüllt hat, wegen Mordes oder nur wegen Totschlags zu verurteilen sei. Dem vermag der Große Senat nicht zu folgen. Die Entstehungsgeschichte und die Fassung des § 211 StGB zeigen deutlich das rechtspolitische Anliegen des deutschen Gesetzgebers, dem Richter für die Beurteilung der Frage, ob eine Tötung Mord oder Totschlag ist, klare und fest umrissene Tatbestände an die Hand zu geben. Das Gesetz umschreibt abschließend die Fälle, die es als besonders verwerflich und deshalb als Mord beurteilt. Es soll deshalb nicht von einer richterlichen Wertung des Gesamtbildes der tat abhängen, ob der Täter wegen Mordes oder wegen Totschlags verurteilt wird. Die Gegenmeinung träfe nur zu, wenn der Entwurf 1936 Gesetz geworden wäre. Dies ist nicht der Fall. Das Gesetz vom 4. September 1941 knüpft auch nicht an Art. 112 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs vom 21. Dezember 1937 an, der dem richterlichen Ermessen einen weiten Spielraum läßt. Es hat sich vielmehr Art. 52 des Vorentwurfs 1896 zum Vorbilde genommen, der fest umrissene Tatbestände zwingend und abschließend als Merkmale des Mordes umschreibt, weil er "vage und fließende Unterscheidungsmerkmale" vermeiden will.
III.
Aus all diesen Gründen schließt sich der Große Senat der Auslegung an, die das Reichsgericht, der Oberste Gerichtshof und sämtliche Senate des Bundesgerichtshofs dem § 211 StGB gegeben haben. Die Gegenmeinung gefährdet die klare Abgrenzung des Mordtatbestandes und damit den besonderen Rechtsschutz, die die staatliche Gemeinschaft dem Leben ihrer Glieder als ihrem höchsten Rechtsgut schuldet.
IV.
Es bleibt zu prüfen, ob die bisherige Rechtsprechung das Merkmal der Heimtücke selbst richtig auslegt. Sie stimmt insoweit mit dem Schrifttum überein, als es ebenfalls das bewußte Ausnutzen der Arg- und wehrlosigkeit des Opfers in der Regel als heimtückisch ansieht. Sie unterscheidet sich von ihm dadurch, daß sie, wenn dieser Tatbestand vorliegt, den Beweg

BGHSt 9, 385 (390):

gründen in der Regel keine selbständige Bedeutung beimißt. Die gesinnung des Täters kann jedoch insofern bedeutsam sein, als sie dem Vorstellungsbilde entsprechen muß, das dem Begriff der Heimtücke selbst zugrunde liegt. Hierzu ist die bisherige Auslegung des Merkmals der Heimtücke in folgendem Sinne fortzuentwickeln:
Der Begriff "Heimtücke" hat nach allgemeinem Sprachgebrauch eine feindliche Willensrichtung des Täters gegen das Opfer zum Inhalt. Diese feindselige Haltung des Täters gegen das Opfer zeigt sich darin, daß er dessen Arg- und Wehrlosigkeit zum Töten ausnutzt. Sie gibt damit dem Gesamtbilde der Tat das Gepräge. Wenn der Täter jedoch - wie hier - seine Familie, die er sehr liebt, mit sich in den tod nehmen, ihr also das Schicksal bereiten will, das er sich selbst zugedacht hat, weil er in krankhafter Verblendung meint, zum Besten seiner Familie zu handeln, so fehlt es ihm an der feinseligen Willensrichtung, die für das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit kennzeichnend ist. Er handelt dann nicht heimtückisch. Hiernach ist die dem Großen Senat vorgelegte Frage so zu beantworten, wie es der Leitsatz ergibt.
V.
Der Oberbundesanwalt hat als seine Ansicht vorgetragen, daß die Verurteilung wegen Mordes die Feststellung besonderer Verwerflichkeit der Tötung erfordere.