BGHSt 11, 213 - Fehlerhafte Zeugenbelehrung


BGHSt 11, 213 (213):

Der Angeklagte kann seine Revision nicht darauf stützen, daß der Vorsitzende einen Zeugen entgegen der Vorschrift des § 55 Abs. 2 StPO nicht über sein Auskunftsverweigerungsrecht belehrt hat.
StPO § 55 Abs. 2
Großer Senat für Strafsachen
 
Beschluß
vom 21. Januar 1958 g.L.
- GSSt 4/57 -
 
Aus den Gründen:
Der 4. Strafsenat hat dem Großen Senat für Strafsachen folgende Rechtsfrage gemäß § 136 GVG zur Entscheidung vorgelegt.
    Darf der Angeklagte seine Revision darauf stützen, daß ein Zeuge entgegen der Vorschrift des § 55 Abs. 2 StPO nicht über sein Auskunftsverweigerungsrecht belehrt worden ist?
Er möchte von der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 27. Februar 1951 (BGHSt 1, 39), die diese Frage verneint, abweichen.


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Die Vorlegungsfrage ist - gemäß der Verfahrenslage in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht - dahin zu verstehen, ob allein die Nichtbelehrung eines Zeugen über sein Auskunftsverweigerungsrecht, ohne daß der Angeklagte die Belehrung in der Hauptverhandlung angeregt oder einen Gerichtsbeschluß darüber beantragt hatte, die Revision begründen kann.
1. Ein allgemeines Recht der Verfahrensbeteiligten, jedes "prozeßordnungswidrige Verhalten", also jeden irgendwie gearteten Verfahrensverstoß des Gerichts mit der Revision zu rügen, wie es im Schrifttum, besonders im Hinblick auf die Verletzung von Belehrungspflichten beim Zeugenbeweis, angenommen wird (Alsberg/Nüse, Der Beweisantrag im Strafprozeß 2 A S. 205; Niese JZ 1953, 223; Eb. Schmidt, Lehrkommentar § 55 Erl. 9), kann, in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs, nicht anerkannt werden. § 337 StPO gibt hierüber keinen Aufschluß. Er will die Revision auf die Anfechtung der Verletzung von Rechtsnormen beschränken. Aus ihm läßt sich aber nicht herleiten, daß alle Verfahrensbeteiligten schlechthin alle Verfahrensverstöße mit der Revision rügen können.
Gegen die unbeschränkte Anfechtbarkeit spricht schon die natürliche Stufung der Verfahrensvorschriften. Neben allgemein übergeordneten Normen, welche die rechtsstaatlichen Grundlagen des Verfahrens gewährleisten (vgl. u.a. § 169 GVG; §§ 22-27, 136a, 140, 338 StPO), enthält das Strafverfahrensrecht Vorschriften, die nach ihrer Bedeutung und Tragweite für die Rechte der Verfahrensbeteiligten sehr verschieden zu bewerten sind, und auch solche, deren Anwendung von dem nicht nachprüfbaren Ermessen des Tatrichters abhängt. Nicht alle Bestimmungen - von bloßen Ordnungsvorschriften ganz abgesehen - berühren den Rechtskreis des Angeklagten in gleichem Maße.
Der Annahme eines alles umfassenden Revisionsrügerechts steht weiter entgegen, daß die Möglichkeit, Verfahrensverlet

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zungen festzustellen, für das Revisionsgericht sehr begrenzt ist. Die Strafprozeßordnung sieht hierfür das Sitzungsprotokoll vor, in dem der Gang der Hauptverhandlung jedoch nur im wesentlichen wiederzugeben und nur die Beobachtung der wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich zu machen ist (§ 273 StPO). Dem Nachweis nichtprotokollpflichtiger Verfahrensvorgänge, auf die sich die Revision zur Begründung von Verfahrensverstößen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO uneingeschränkt stützen darf, stellen sich deshalb häufig unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Denn der Freibeweis scheitert meistens daran, daß ausreichende Unterlagen für eine Würdigung durch das Revisionsgericht fehlen.
Ebenso deutet die Notwendigkeit, gegenüber sachleitenden Anordnungen des Vorsitzenden zunächst die Entscheidung des Gerichts anzurufen (§§ 238 Abs. 2, 242 StPO), darauf hin, daß nicht jeder Verfahrensverstoß das Revisionsrügerecht nach sich zieht.
Die Verfahrensgestaltung in ihrer Gesamtheit nötigt hiernach dazu, ein allgemeines Revisionsrügerecht gegenüber Verfahrensverstößen abzulehnen.
Da sich der Ausschluß des Rügerechts im einzelnen nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, muß bei jeder Vorschrift geprüft werden, ob ihre Verletzung den Rechtskreis des Beschwerdeführers wesentlich berührt oder ob sie für ihn nur von untergeordneter oder von keiner Bedeutung ist. Bei dieser Untersuchung sind vor allem der Rechtfertigungsgrund der Bestimmung und die Frage, in wessen Interesse sie geschaffen ist, zu berücksichtigen. Einen wichtigen Anhaltspunkt bietet auch die Protokollfähigkeit des Vorgangs, auf den die Rüge gestützt wird.
2. Zum Schutz der Wahrheitsfindung ist - entgegen der teilweise im Schrifttum vertretenen Auffassung - weder das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO noch das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen des Angeklagten bestimmt. Die Wahrheitsermittlung geschieht nach § 261 StPO im Wege der freien Beweiswürdigung, bei der die Zeugenaussagen auf ihre Tauglichkeit hin geprüft werden. Beweisregeln und Zeugenausschlüsse sind dem geltenden Strafverfahrens

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recht fremd (vgl. § 244 Abs. 3 StPO). Der Gefahr, die Aussagen verdächtiger Zeugen für die Wahrheitsfindung bilden können, begegnen schon die Bestimmungen über die Nichtvereidigung tatverdächtiger wie verwandter Zeugen (§§ 60 Nr. 3, 61 Nr. 2 StPO). Dem Mißtrauen des Gesetzgebers gegen die Zeugen verdanken die beiden Aussageverweigerungsrechte jedenfalls nicht ihre Entstehung (vgl. Beling, Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafprozeß S. 12 f, 15 f).
3. Diese beiden Rechte beruhen vielmehr auf zum Teil wesentlich von einander abweichenden gesetzgeberischen Gründen. Die Rechtskreise, zu deren Schutz sie dienen sollen, berühren sich nicht. Zwar hat der Staat sein Interesse an der Aufklärung von Straftaten in beiden Fällen zurückgestellt, um den Zeugen den inneren Zwiespalt zu ersparen, in den sie durch den Widerstreit zwischen Aussagepflicht und ihren persönlichen Interessen geraten könnten (Motive zu §§ 42-45 des Entwurfs III, Hahn Mat. 98, 106 f; Beling a.a.O. S. 5 f, 12 ff). jedoch entspringt das Zeugnisverweigerungsrecht des verwandten Zeugen zugleich der schonenden Rücksicht auf die Familienbande, die den Angeklagten mit dem Zeugen verknüpfen. Diesem wird deshalb ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht gewährt, das zum Ausschluß des Beweismittels im ganzen führt, wenn er von seinem Recht Gebrauch macht. Aus übergeordneten Gründen, nicht nur wegen des Gewissenskonflikts des Zeugen, sondern auch zum Schutz der Familie des Angeklagten, soll es im Ermessen des Zeugen liegen, ob er aussagen will oder nicht. Der Rechtskreis des Angeklagten wird daher unmittelbar berührt, wenn sich der Zeuge infolge Rechtsunkenntnis nicht frei entscheiden kann. Deshalb ist er in diesem Falle befugt, die Nichtbelehrung des Zeugen mit der Revision zu rügen.
Dagegen beruht das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO ausschließlich auf der Achtung vor der Persönlichkeit des Zeugen. Es ist, wie die Motive betonen, "das notwendige Korrelat des Grundsatzes, daß niemand zu einer Aussage wider sich selbst gezwungen werden dürfe"; die Befreiung von der Aussage des Zeugen gegen seine nahen Angehörigen ist ebenso ein Gebot der Gerechtigkeit wie der Folgerichtigkeit" (Hahn, Mat. S. 107). Dem Zeugen soll die Demütigung einer Selbst

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bezichtigung oder Beschuldigung seiner Angehörigen nicht zugemutet werden (Beling a.a.O. S. 13). Zweck dieses Aussageverweigerungsrechts ist es also, dem Zeugen, und nur ihm, einen Konflikt zu ersparen. Die Verweigerung der Aussage bewirkt infolgedessen nicht, daß die Benutzung des Beweismittels im ganzen ausgeschlossen wird, sondern sie verbietet dem Richter nur, weitere Fragen zu stellen, die den bezeichneten Persönlichkeitsbereich des Zeugen betreffen. Der Angeklagte kann kein rechtlich zu schützendes Interesse daran haben, daß die Entschlußfreiheit des Zeugen gewahrt bleibt, auch wenn dieser etwa durch eine wahrheitsgemäße Bekundung offenbaren müßte, daß er oder ein naher Angehöriger von ihm an der Tat beteiligt war (vgl. RGRspr. 2, 305; RGSt 38, 320; 48, 269 f). Durch den Konflikt des Zeugen wird sein Rechtskreis nicht so berührt, daß ihm wegen unterbliebener Belehrung des Zeugen ein Revisionsrügerecht zugestanden werden kann.
4. Die Einführung der Belehrungspflicht durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950 kann die Beurteilung der Rechtslage nicht im gegenteiligen Sinn beeinflussen. Durch die neue Vorschrift ist dem Richter zur Pflicht gemacht, was bis dahin seinem Ermessen überlassen war. Daß sie weiterreichende Wirkungen haben soll, ist ihr nicht zu entnehmen. Einer vollen Gleichstellung mit § 52 Abs. 2 StPO steht eher entgegen, daß hier eine dem § 52 Abs. 2 Satz 2 entsprechende Bestimmung fehlt, die es dem Zeugen gestattet, seinen Verzicht auf das Aussageverweigerungsrecht auch während seiner Vernehmung zu widerrufen. Eine so weitgehende Absicht hat der Gesetzgeber auch nirgends zu erkennen gegeben. Weder in den Sitzungen des Rechtsausschusses noch in denen des Bundesrats und des Bundestags wurden Bedeutung und Tragweite der neuen Bestimmung erörtert. Der Vertreter des Rechtsausschusses hat sie in seinem Bericht in der Bundestagssitzung vom 26. Juli 1950 unter den von ihm aufgeführten "wesentlichen Verbesserungen des Strafverfahrens" nicht erwähnt. Sie findet ihre Erklärung allein in dem Bestreben des Gesetzgebers, alle Beteiligten davor zu schützen, daß sie aus Rechtsunkenntnis Erklärungen abgeben, die ihnen schaden könnten.

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Die Einführung der Belehrungspflicht im § 55 Abs. 2 StPO soll also das Auskunftsverweigerungsrecht für den Zeugen wirksamer gestalten. Eine Erweiterung der Rechte des Angeklagten im Revisionsrechtszug lag dem Gesetzgeber fern.
5. Anders als bei einem Verstoß gegen § 52 Abs. 2 StPO ist die Verwertung einer Zeugenaussage, die unter Verletzung der Belehrungspflicht des § 55 Abs. 2 StPO zustande gekommen ist, gegenüber dem Angeklagten nicht unzulässig. Da sein Rechtskreis durch den Verfahrensfehler nicht wesentlich berührt wird, steht ihm auch nicht das Recht zu, sich gegen die Verwertung einer solchen Aussage im Revisionsrechtszug zu wehren. Er muß es also hinnehmen, wenn die im Vorverfahren oder vor einem beauftragten Richter ohne Belehrung gemachten Bekundungen des Zeugen beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 - 3 StPO verlesen werden. Er kann seine Revision nicht darauf stützen, daß solche Aussagen nach der Auskunftsverweigerung des Zeugen in der Hauptverhandlung verlesen oder im Urteil gegen ihn verwertet worden seien. Ebensowenig kann er sich darauf berufen, daß die mit dem Verfahrensfehler behafteten Bekundungen nach § 253 StPO zur Unterstützung des Gedächtnisses des Zeugen oder zur Klärung von Widersprüchen verlesen worden seien.
Dem Verbot der Benutzung der früheren Bekundungen des Zeugen stände hier besonders der Umstand entgegen, daß der Tatrichter ohne genaue Kenntnis des Hergangs der früheren Vernehmung meistens nicht feststellen kann, welcher Teil der Aussage unter das Auskunftsverweigerungsrecht fällt. Inhaltlich unteilbare Aussagen müßten von der Beweisaufnahme ganz ausgeschlossen werden. Über diese Frage könnte sich das Gericht in der Hauptverhandlung aber erst ein Urteil nach Kenntnisnahme von dem Inhalt der Aussagen auf Grund ihrer - möglicherweise unzulässigen - Verlesung bilden.
6. Die Richtigkeit des hier gewonnenen Ergebnisses sieht der Senat durch die - schon angedeuteten - untragbaren Schwierigkeiten bestätigt, die bei Zulassung der Rüge - anders als im Falle des § 52 StPO - für die Nachprüfung des behaupteten Verfahrensverstoßes im Revisionsverfahren entstehen würden. Das Revisionsgericht kann in der Regel nicht prüfen, welche

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Fragen der Vorsitzende in der Hauptverhandlung an den Zeugen gestellt und wie dieser darauf geantwortet hat, weil der Inhalt der Vernehmung nur ausnahmsweise in die Sitzungsniederschrift aufgenommen wird (§ 273 Nr. 3 StPO). Für den Freibeweis fehlt es fast immer an zuverlässigen Unterlagen. Dies gilt besonders dann, wenn gerügt wird, daß der Zeuge zu spät belehrt und demgemäß die Verwertung der vor diesem Zeitpunkt gemachten Bekundungen ganz oder zum Teil unzulässig sei. Kaum eine der an der Verhandlung mitwirkenden Gerichtspersonen wird sich noch an den Gang der Vernehmung im einzelnen erinnern und zuverlässige Auskunft über die Reihenfolge der dem Zeugen gestellten Fragen, die den Vorsitzenden zu einer früheren Belehrung hätten veranlassen müssen, geben können. Auf die Rüge des Verfahrensverstoßes sähe sich das Gericht in einem solchen Fall möglicherweise dazu gedrängt, im Rahmen des Freibeweises die Darstellung des Angeklagten über die Vorgänge in der Hauptverhandlung zugrunde zu legen, weil sich ein Verfahrensfehler, auf dem das Urteil beruhen könnte, nicht ausschließen lasse. Der Angeklagte könnte mithin durch die Erhebung der Rüge leicht eine ungerechtfertigte Aufhebung des Urteils und in der neuen Hauptverhandlung auf Grund einer Auskunftsverweigerung des Zeugen nach Belehrung unter Umständen den Ausschluß eines ihn belastenden Beweismittels erreichen. Daß ein Schuldiger auf diese Weise zur Abwendung seiner Verurteilung gelangen kann, widerspricht dem Sinn des Verfahrensrechts.
Nach alledem muß die dem Senat vorgelegte Rechtsfrage verneint werden.
Diese Entscheidung entspricht dem Antrag des Generalbundesanwalts.