BGHSt 44, 171 - Rechtsweg nach erledigter vorläufiger Festnahme


BGHSt 44, 171 (171):

Rechtsweg für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung einer erledigten vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO.
EGGVG § 23; StPO § 98 Abs. 2 Satz 2
5. Strafsenat
 
Beschluß
vom 5. August 1998 g.F.
- 5 AR (VS) 1/97 -
Oberlandesgericht Karlsruhe
 
Gründe:
Die Vorlegungssache betrifft die Frage, welcher Rechtsweg eröffnet ist, wenn ein nach § 127 Abs. 2 StPO vorläufig Festgenommener, der ohne Vorführung vor den Haftrichter wieder freigelassen wird, beantragt, die gesetzlichen Voraussetzungen - die Rechtsmäßigkeit - der Festnahme richterlich zu überprüfen.
I.
Der Antragsteller wurde im August 1994 wegen des Verdachts des sexuellen Mißbrauchs einer zwölfjährigen Schülerin von Polizeibeamten für drei Stunden vorläufig festgenommen, als er in der Nähe der Schule mutmaßlich auf das Mädchen wartete. Dabei wurde seine Person durchsucht; hierbei gefundene Schriftstücke wurden als Beweismittel beschlagnahmt. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren am 28. November 1994 nach § 170 Abs. 2 StPO ein.
Mit Schreiben vom 29. Januar 1996 beantragte der Antragsteller beim Amtsgericht die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner vorläufigen Festnahme und der Beschlagnahme. Sein berechtigtes Interesse hieran begründete er u.a. damit, daß die Fotokopien der beschlagnahmten Schriftstücke in einem beim Amtsgericht Kehl anhängigen Vormundschaftsverfahren verwendet worden seien. Das Amtsgericht legte die Akten dem Oberlandesgericht Karlsruhe vor.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts ist für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Festnahme - nur dies ist Gegenstand der Vorlegung - nicht der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG gegeben. Zu einer nachträglichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer durch die Polizei beendeten vorläufigen

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Festnahme sei vielmehr der Ermittlungsrichter des zuständigen Amtsgerichts entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO berufen. Der subsidiäre Rechtsweg nach § 23 EGGVG scheide deshalb aus. An der Rückgabe der Akten an das Amtsgericht zur Entscheidung über den Antrag sieht sich das Oberlandesgericht durch die entgegenstehende Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Celle (StV 1982, 513) und des Kammergerichts (NStZ 1986, 135) gehindert, die in Fällen der vorliegenden Art den Rechtsweg nach § 23 EGGVG für eröffnet halten.
Das Oberlandesgericht hat deshalb die Sache nach § 29 Abs. 1 Satz 2 EGGVG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt:
    Ist der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG eröffnet, wenn ein nach § 127 Abs. 2 StPO vorläufig Festgenommener ohne Vorführung vor den Haftrichter wieder freigelassen wird und nunmehr beantragt, die Rechtswidrigkeit der Verfolgungsmaßnahme festzustellen?
Der Generalbundesanwalt hält - ebenso wie das vorlegende Oberlandesgericht dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (StV 1981, 597 = GA 1981, 223) folgend - die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts im Ergebnis für zutreffend und hat - wobei er die Vorlegungsvoraussetzungen bejaht - beantragt zu beschließen:
    Der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG ist nicht eröffnet, wenn ein nach § 127 Abs. 2 StPO vorläufig Festgenommener ohne Vorführung vor den Haftrichter wieder freigelassen wird und nunmehr beantragt, die Rechtswidrigkeit der Verfolgungsmaßnahme festzustellen.
II.
Die Sache wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückgegeben; es besteht keine Vorlegungspflicht.
1. Im Ansatz zutreffend geht das Oberlandesgericht davon aus, daß es bei der beabsichtigten Entscheidung von den Entscheidungen des Oberlandesgerichts Celle und des Kammergerichts (jeweils a.a.O.) abweichen würde.
Jenen Entscheidungen stand allerdings die - zu der nämlichen Rechtsfrage - zuvor ergangene Entscheidung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs (a.a.O.) entgegen, dem sich das vorlegende Oberlandesgericht anschließt.


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Läge bereits eine Entscheidung eines Senats des Bundesgerichtshofs vor, so wäre die Vorlegung nicht zulässig (BGHSt 13, 149, 151; BGHSt 13, 373; BGHSt 34, 79). Die Frage, ob Entscheidungen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs im Hinblick auf die Vorlegung in gleicher Weise wie Entscheidungen eines Senats des Bundesgerichtshofs zu behandeln sind, ist, soweit ersichtlich, höchstrichterlich noch nicht entschieden. Darauf kommt es hier jedoch nicht an. Es braucht auch nicht entschieden zu werden, ob der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Vorlegungsfrage bereits in BGHSt 28, 206 verbindlich mitentschieden hat.
Der rechtliche Ansatz der abweichenden Entscheidungen des Oberlandesgerichts Celle und des Kammergerichts ist nämlich durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überholt; in Fällen dieser Art ist die Sache dem Bundesgerichtshof nicht vorzulegen (Salger in KK 3. Aufl. § 121 GVG Rdn. 28 m.w.N.).
2. Die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die zum Rechtsschutz bei schon abgeschlossenen richterlich angeordneten Durchsuchungen ergangen ist, hat den Fachgerichten aufgegeben, das Rechtsschutzsystem bei abgeschlossenen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen insgesamt anhand der neu entwickelten Maßstäbe möglichst wirksam zu gestalten.
a) Das betrifft zum einen das Rechtsschutzinteresse. In der Entscheidung vom 30. April 1997 (BVerfGE 96, 27 = NJW 1997, 2163) hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann, ein Rechtsschutzinteresse gegeben sei. Effektiver Grundrechtsschutz gebiete es in diesen Fällen, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht geht daher in solchen Fällen vom Fortbestand eines Rechtsschutzinteresses aus. Ein derartiger tief

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greifender Grundrechtseingriff sei auch die vorläufige Festnahme (das Bundesverfassungsgericht zitiert in diesem Zusammenhang ausdrücklich Art. 104 Abs. 2 und 3 GG).
b) Das betrifft aber auch den Rechtsweg. In dem Beschluß vom 27. Mai 1997 (BVerfGE 96, 44 = NJW 1997, 2165) hat das Bundesverfassungsgericht beanstandet, daß bei dem - insoweit vergleichbaren - Problem bei Durchsuchungen die Rechtsmittel in schwer zu durchschauender Weise mehrfach gespalten sind und von den Fachgerichten uneinheitlich gehandhabt werden. Die Fachgerichte treffe daher eine besondere Verpflichtung aus Art. 19 Abs. 4 GG zur Klärung einer unübersichtlichen Rechtslage.
c) Eine übersichtliche Zuständigkeitsregelung ist durch entsprechende Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO gewährleistet. Eine andere Regelung würde zu einer Zersplitterung der Zuständigkeiten führen. Dies ergibt schon der vorliegende Fall: Der Antragsteller begehrt zugleich die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlagnahme der bei der Durchsuchung seiner Person aufgefundenen Beweismittel. Ob die Beschlagnahme noch andauert, ist seinem Vorbringen nicht zu entnehmen. Wäre dies der Fall, so könnte er jedenfalls insoweit die richterliche Entscheidung nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO beantragen. Wäre für die nach weitgehend denselben Maßstäben durchzuführende richterliche Überprüfung der gesetzlichen Voraussetzungen abgeschlossener Maßnahmen - hier der Festnahme, eventuell auch eines Teils der Beschlagnahme - das Oberlandesgericht nach §§ 23 ff. EGGVG zuständig, so bestünde wegen der schwer zu durchschauenden Spaltung des Rechtsweges die Gefahr sachlich widersprechender Entscheidungen (vgl. BGHR StPO § 304 Abs. 5 Rechtsschutzbedürfnis 1 = BGH NJW 1995, 3397). Eine derartige unübersichtliche Rechtslage zu klären, ist den Fachgerichten durch das Bundesverfassungsgericht im Interesse einer möglichst wirksamen gerichtlichen Kontrolle nunmehr auf der Grundlage der neuen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen aufgegeben.
3. Das Oberlandesgericht Karlsruhe ist daher an der beabsichtigten Entscheidung nicht durch die Entscheidungen des

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Oberlandesgerichts Celle und des Kammergerichts gehindert; es kann in der Sache selbst entscheiden.
Der Senat ist im übrigen - ebenso wie der Generalbundesanwalt - mit dem vorlegenden Oberlandesgericht, dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs und der überwiegenden Meinung in der Literatur (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. § 127 Rdn. 23; Boujong in KK 3. Aufl. § 127 Rdn. 48; Pfeiffer/Fischer, StPO § 127 Rdn. 12; Müller in KMR 8. Aufl. § 127 Rdn. 25; Krause in AK-StPO § 127 Rdn. 22; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht 2. Aufl. § 23 EGGVG Rdn. 15; Peters JR 1972, 297, 300; Roxin, Strafverfahrensrecht 24. Aufl. § 29 Rdn. 12, 14; Rieß/Thym GA 1981, 189, 206; Greiner MDR 1981, 547; a.A. Paeffgen in SK-StPO, § 127 Rdn. 36; Ranft, Strafprozeßrecht 2. Aufl. S. 145; Flieger MDR 1981, 17; überholt wohl Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 127 Rdn. 47) der Ansicht, daß der Antragsteller in entsprechender Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO die richterliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit beantragen kann. Der subsidiäre Rechtsweg nach § 23 EGGVG ist danach hier nicht gegeben (§ 23 Abs. 3 EGGVG).