BVerfGE 1, 5 - Spruchkammer


BVerfGE 1, 5 (5):

Entscheidungen, die aufgrund der Rechtsvorschriften zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus ergehen, können mit der Verfassungsbeschwerde nicht angefochten werden.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 27. September 1951 gemäß § 24 BVerfGG
-- 1 BvR 70/51 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des J. N.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.
 


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Gründe:
Der Beschwerdeführer begehrt mit der Verfassungsbeschwerde die Aufhebung des Spruches der Berufungskammer M. vom 16. Februar 1951, durch den er in die Gruppe der Belasteten eingestuft worden ist. Ferner beantragt er, den Art. 13 a des bayerischen Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 in der Fassung des Abänderungsgesetzes vom 16. Oktober 1947 (Bayer. GVBl. 1946 S. 145,1947 S. 193) für nichtig zu erklären. Er rügt in beiden Fällen die Verletzung des Art. 3 GG.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Spruch der Berufungskammer M. vom 16. Februar 1951 richtet, ist sie schon deshalb unzulässig, weil dieser Spruch vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht -- dem 17. April 1951 -- wirksam geworden ist. Nach allgemeinen Grundsätzen des Verfahrensrechts gelten neue Verfahrensvorschriften auch für anhängige Verfahren; sie werden in der Lage, in der sie sich beim Inkrafttreten der neuen Vorschriften befinden, von diesen ergriffen und nach ihnen weitergeführt. Verfahren hingegen, die beim Inkrafttreten des neuen Gesetzes nach den bisher geltenden Verfahrensvorschriften bereits rechtskräftig abgeschlossen waren, werden von den neuen Vorschriften nicht mehr berührt, es sei denn, daß besondere Übergangsbestimmungen dies anordnen (vgl. Bayer. VGH in VerwRspr. 1 Nr. 20, 22; Württ.-Bad. VGH in VerwRspr. 1 Nr. 60; RGZ 110, 370; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1950, S. 124; Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 4. Aufl., § 6 I).
Die Verfassungsbeschwerde ist für die Bundesrepublik Deutschland erstmals durch das am 17. April 1951, in Kraft getretene Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 -- BVerfGG -- (BGBl. I S. 243) eingeführt worden. Das Grundgesetz kennt sie noch nicht. Die Verfassungsbeschwerde ist kein zusätzlicher Rechtsbehelf für das Verfahren vor den ordentlichen Gerichten oder Verwaltungsgerichten. Sie ist dem Staatsbürger als besonderes Rechtsschutzmittel zur prozessualen Durch-

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setzung der Grundrechte oder der diesen gleichgestellten Rechte gewährt. Daher gelten die eingangs dargelegten Grundsätze auch für die Verfassungsbeschwerde gegen die rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts, da eine abweichende Übergangsregelung nicht getroffen ist. Eine Übergangsbestimmung ist insbesondere nicht aus dem § 93 Abs. I BVerfGG zu entnehmen. Nur § 93 Abs. 3 BVerfGG gewährt eine Verfassungsbeschwerde mit rückwirkender Kraft insoweit, als es sich um eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz handelt, das vor dem 1. April 1951 in Kraft getreten ist. Somit ist eine Verfassungsbeschwerde gegen rechtskräftige Entscheidungen eines Gerichts nur zulässig, wenn diese nach dem 16. April 1951 wirksam geworden sind.
Was die wegen des Art. 13 a des genannten Gesetzes erhobene Verfassungsbeschwerde betrifft, so ist sie auf Grund des Art. 139 GG unzulässig. Danach werden die zur "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus" erlassenen Rechtsvorschriften von den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht berührt. Für den Art. 13 a gelten mithin nicht die Schranken, die durch Art. 1 Abs. 3 und Art. 19 GG errichtet sind. Die in Art. 139 GG genannten Befreiungsgesetze sind demnach an keine Übereinstimmung mit den Grundrechten gebunden. Sie unterliegen somit nicht der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Der Verfassungsrechtsweg ist für Eingriffe auf Grund dieser Gesetze daher ausgeschlossen.
Die Verfassungsbeschwerde ist deshalb gemäß § 24 BVerfGG zu verwerfen.