BVerfGE 1, 162 - Arbeitsgerichtsgesetz


BVerfGE 1, 162 (162):

Besteht in einem gerichtlichen Verfahren Streit darüber, ob ein Reichsgesetz durch ein Kontrollratsgesetz vor Einwirkung des Grundgesetzes aufgehoben worden ist, so betrifft er nicht die Rechtsfrage, ob das Reichsgesetz im Sinne der Art. 125, 126 GG als Bundesrecht fortgilt.
Die Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist insoweit unzulässig.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 6. März 1952 gem. § 24 BVerfGG
-- 1 BvO 1/51 --
in dem Verfahren über den Antrag des Landesarbeitsgerichts Hannover auf Entscheidung des Bundesverfassungsgericht über die Rechtsfrage, ob § 36 des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 23. Dezember 1926 mit der Maßgabe fortgilt, daß die Vorsitzenden der bei den Landesarbeitsgerichten gebildeten Kammern auf Lebenszeit zu berufen sind.
Entscheidungsformel:
 
Gründe:
I.
In dem beim Landesarbeitsgericht Hannover anhängigen Rechtsstreit E. gegen das Land Niedersachsen hat der Kläger vorgetragen, daß das Gericht nicht ordnungsmäßig besetzt sei. Sämtliche Kammervorsitzenden dieses Gerichts seien im Angestelltenverhältnis beschäftigt; die Dauer dieses Beschäftigungs

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verhältnisses betrage nur drei Jahre. Den Richtern fehlt daher nach Auffassung des Klägers die richterliche Unabhängigkeit in persönlicher Hinsicht; es sei zu befürchten, daß sie gegenüber dem Land Niedersachsen als Prozeßpartei eine unabhängige richterliche Entscheidung nicht treffen würden. Der Kläger hat ferner die Auffassung vertreten, daß die Bestellung der Kammervorsitzenden auf Zeit gesetzwidrig sei; trotz dem Wortlaut des Kontrollratsgesetzes Nr. 21 sei aus § 36 des Arbeitsgerichtsgesetzes von 1926 (AGG) zu folgern, daß nur lebenslänglich angestellte Beamte zu Kammervorsitzenden beim Landesarbeitsgericht bestellt werden dürften.
Demgegenüber hat der Beklagte die Rechtsauffassung vertreten, daß § 36 AGG durch das Kontrollratsgesetz Nr. 21 aufgehoben worden sei.
Das Landesarbeitsgericht hat angesichts des insoweit entstandenen Streits durch Beschluß vom 16. August 1951 das Verfahren ausgesetzt und gemäß § 86 Abs. 2 in Verbindung mit § 80 BVerfGG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 36 AGG "mit der Maßgabe fortgilt, daß die Vorsitzenden der bei den Landesarbeitsgerichten gebildeten Kammern auf Lebenszeit zu berufen sind".
In den Gründen des Aussetzungsbeschlusses wird hervorgehoben, daß die Übung des Landes Niedersachsen, Kammervorsitzende im befristeten Angestelltenverhältnis zu beschäftigen, gesetzwidrig sei. Nach § 36 AGG seien die Kammervorsitzenden aus den Direktoren und ständigen Mitgliedern des Landgerichts, in besonderen Fällen aus den Richtern des Oberlandesgerichts am Sitze des Landesarbeitsgerichts zu berufen. Allerdings sehe das Kontrollratsgesetz Nr. 21 in Art. VI, VII, XII ein abweichendes Verfahren vor. Dadurch sei jedoch § 36 AGG nicht in vollem Umfange aufgehoben. Vielmehr bestimme Art. X, daß das Arbeitsgerichtsgesetz vom 23. Dezember 1926 in seiner ursprünglichen Fassung vorläufig weiter anzuwenden sei, soweit es nicht in Widerspruch zu den Bestimmungen des Kontrollratsgesetzes selbst stehe. Der in § 36 AGG enthaltene

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Grundsatz, daß die Vorsitzenden in einem lebenslänglichen Anstellungsverhältnis zum Staate stehen müßten, sei daher durch das Kontrollratsgesetz nicht aufgehoben. Da jedoch über die Frage der Fortgeltung des § 36 AGG als Bundesrecht Streit bestehe und der Streit für die Entscheidung erheblich sei, sei die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
Das Bundesverfassungsgericht hat gemäß § 88 in Verbindung mit §§ 82, 77 BVerfGG dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, den Landesregierungen sowie den Prozeßparteien des landesarbeitsgerichtlichen Verfahrens Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung sowie die Regierungen der Länder Württemberg-Hohenzollern, Bremen, Hamburg, Württemberg-Baden, Baden, Schleswig-Holstein und Hessen haben von einer sachlichen Äußerung abgesehen; die Regierungen der Länder Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz halten den Antrag des Landesarbeitsgerichts Hannover für unzulässig, da nicht streitig sei, ob ein als fortbestehend anzusehendes Gesetz als Bundes- oder Landesrecht fortgelte.
Das hauptsächlich betroffene Land Niedersachsen hat sich innerhalb der ihm gesetzten Frist nicht geäußert.
Die Prozeßparteien haben ihre bisherige Rechtsauffassung aufrechterhalten.
II.
1. Der Form nach ist die Vorlage ordnungsmäßig. Da ein Bundesarbeitsgericht noch nicht besteht, war das Landesarbeitsgericht Hannover als letzte Instanz zur unmittelbaren Vorlage an das Bundesverfassungsgericht befugt.
2. Der Sache nach ist jedoch der Antrag unzulässig: Art. 126 GG betrifft lediglich Meinungsverschiedenheiten darüber, ob das nach Art. 123 GG fortgeltende Recht als Bundesrecht fortgilt. In der Regierungsvorlage des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BT-Drucksache Nr. 788) war freilich in § 83 vorge

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sehen, daß das Bundesverfassungsgericht aussprechen solle, ob "die Rechtsnorm ... für das Bundesgebiet oder einen bestimmten Teil des Bundesgebietes als Bundesrecht fortgilt, ob sie als Landesrecht fortgilt, oder ob sie nicht mehr fortgilt". Demgegenüber hatte jedoch der Bundesrat (BR-Drucksache Nr. 189/50) eine Änderung verlangt, da die Frage, ob eine Norm als Landesrecht fortgelte, zur Zuständigkeit der Länder gehöre. Nach der endgültigen Fassung des § 89 soll demgemäß das Bundesverfassungsgericht nur aussprechen, ob das Gesetz ganz oder teilweise in dem gesamten Bundesgebiet oder in bestimmten Teilen als Bundesrecht fortgilt.
Nur in diesem Umfang ist dem Bundesverfassungsgericht auch die Entscheidungsbefugnis im Falle eines gerichtlichen Streits gemäß §§ 86 Abs. 2, 89 BVerfGG übertragen worden.
Im vorliegenden Falle will jedoch das Landesarbeitsgericht nicht eine Entscheidung darüber herbeiführen, ob eine fortgeltende Norm als Bundesrecht fortgilt. Wie der Bayerische Ministerpräsident in seiner Äußerung zutreffend bemerkt, wird auch nicht etwa eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Fortgeltung des § 36 AGG selbst begehrt, sondern lediglich über eine Folgerung, die sich daraus ergibt, daß das in § 36 AGG vorgesehene Verfahren zur Berufung der Vorsitzenden der Landesarbeitsgerichte durch die Vorschriften des Kontrollratsgesetzes ersetzt worden ist. Denn gerade die Beseitigung dieses Berufungsverfahrens bewirkt das Fehlen einer besonderen Bestimmung über die persönliche Rechtsstellung der Vorsitzenden, die sich vorher mittelbar aus § 36 AGG ergab.
Aber selbst wenn man annehmen könnte, daß der Streit in erster Linie den Rechtscharakter des § 36 AGG als Bundesnorm betreffe und daß bei der Entscheidung gemäß § 86 Abs. 2 BVerfGG die Frage der Fortgeltung der Rechtsnorm überhaupt als Vorfrage mitentschieden werden müsse (vgl. Bonner Kommentar, Art. 126 Anm. II 3 d, S. 6), wäre gleichwohl im vorliegenden Falle der Antrag unzulässig. Denn weder Art. 126

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GG noch § 86 Abs. 2 BVerfGG in Verbindung mit Art. 93 Abs. 2 GG überträgt dem Bundesverfassungsgericht jede Entscheidung darüber, ob eine Rechtsnorm überhaupt noch fortgilt oder ob sie aus irgendeinem Grunde unwirksam geworden ist. Vielmehr könnte das Bundesverfassungsgericht sich bei Prüfung der Rechtsfrage, ob eine Norm als Bundesrecht fortgelte, höchstens mit der Vorfrage befassen, ob sie im Rahmen des Art. 123 Abs. 1 GG fortgilt oder wegen Widerspruches zum Grundgesetz unwirksam geworden ist.
Darum aber handelt es sich im vorliegenden Falle nicht. Vielmehr betrifft der Streit allein die Rechtsfrage, ob § 36 AGG mit der vom Landesarbeitsgericht angenommenen Maßgabe lange vor einer Einwirkungsmöglichkeit des Grundgesetzes durch das Kontrollratsgesetz aufgehoben worden ist oder ob die Bestimmung trotz dem Kontrollratsgesetz fortgegolten hat. Wäre § 36 AGG, der in seiner ursprünglichen Fassung bis zum Inkrafttreten des Kontrollratsgesetzes unverändert fortgalt, durch das Kontrollratsgesetz in vollem oder beschränktem Umfange aufgehoben, so könnte die Rechtsfrage einer Fortgeltung gemäß Art. 123 GG überhaupt nicht entstehen. Hätte jedoch § 36 AGG trotz des Kontrollratsgesetzes ursprünglich fortgegolten, so bestände wegen seiner weiteren Geltung gemäß Art. 123 GG und wegen seiner Geltung als Bundesrecht innerhalb der britischen Besatzungszone gemäß Art. 124 Nr. 1 GG kein Streit. Die Frage aber, ob das Kontrollratsgesetz den § 36 AGG vor einer Einwirkungsmöglichkeit des Grundgesetzes vollständig oder nur teilweise oder gar nicht aufgehoben hat, muß das Landesarbeitsgericht in eigener Zuständigkeit prüfen und entscheiden.
3. Aus den angeführten Gründen ist der Antrag des Landesarbeitsgerichts unzulässig. Die Entscheidung ergeht gemäß § 24 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluß des Gerichts.