BVerfGE 4, 370 - Mandatsrelevanz


BVerfGE 4, 370 (370):

Das Wahlprüfungsverfahren ist ausschließlich dazu bestimmt, die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Bundestages zu gewährleisten.  Die Beschwerde nach § 48 BVerfGG kann daher nur auf solche Wahlfehler gestützt werden, die auf die Sitzverteilung von Einfluß sind oder sein können.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 21. Dezember 1955 gem. § 24 BVerfGG
-- 1 BvC 2/54 --
in dem Verfahren über die Beschwerde des H. N. gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 28. Mai 1954.
Entscheidungsformel:
Die Beschwerde wird verworfen.
 
Gründe:
I.
1. Der Beschwerdeführer hat als Wahlberechtigter im Wahlkreis 1 (Husum-Süd-Tondern-Eiderstedt) gegen die dortige Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag vom 6. September 1953 Einspruch gemäß § 2 des Wahlprüfungsgesetzes vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 166) eingelegt und zur Begründung vorgetragen:
a) Die §§ 46-48 des Bundeswahlgesetzes (BWG) vom 8. Juli 1953 (BGBl. I S. 470) über die Feststellung des Ergebnisses der Landeslistenwahl seien unzweckmäßig, weil sie keine Vorschriften über die wegen der 5%-Klausel notwendige Ermittlung des vorläufigen Wahlergebnisses enthielten.


BVerfGE 4, 370 (371):

b) Der Bundeswahlleiter habe in der Bekanntmachung des Wahlergebnisses im Bundesanzeiger vom 23. September 1953 den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) nicht an der richtigen Stelle aufgeführt. Der Landeswahlleiter von Schleswig-Holstein habe am 24. September 1953 bereits die endgültige Sitzverteilung auf der Landesliste bekanntgemacht, obwohl damals das Wahlergebnis noch nicht endgültig habe festgestellt werden können.
c) In einigen Husumer Wahlbezirken sei entgegen § 33 Abs. 2 der Bundeswahlordnung (BWO) vom 15. Juli 1953 (BGBl. I S. 514) der Abdruck der amtlichen Wahlbekanntmachung und des amtlichen Stimmzettels nicht am Eingang des Gebäudes, sondern an der Tür zum Wahlraum angeschlagen gewesen.
d) Der Aushang des nicht amtlichen Wahlaufrufs der Bundeszentrale für Heimatdienst in einigen Wahllokalen in Husum sei ein Verstoß gegen § 39 BWG.
e) Im Wahlbezirk J in Husum sei die Stimmabgabe sofort bei Aushändigung des Stimmzettels vermerkt worden, obwohl nach § 41 BWO der Stimmabgabevermerk erst angebracht werden dürfe, wenn der Wähler den Umschlag mit dem Stimmzettel abgibt.
f) Bei der Stimmauszählung im Husumer Wahlbezirk E seien die Stimmzettel in gemeinsamer Arbeit des Wahlvorstandes aus den vorher nicht gezählten Umschlägen genommen, nach Bewerbern zusammengelegt, durchgezählt und mit der Wählerzahl verglichen worden. Diese Anwendung des Legeverfahrens bei der Stimmauszählung verstoße gegen die zwingenden Bestimmungen der §§ 46-48 BWO.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Wahlprüfungsausschuß des Bundestages hat der Beschwerdeführer beantragt, das Mandat des in direkter Wahl im Wahlkreis 1 gewählten Abgeordneten Giencke (CDU) für ungültig zu erklären.
Der Wahlprüfungsausschuß hat dem Bundestag vorgeschlagen, den Einspruch zurückzuweisen (Bundestag II/1953 Drucksache 513). Der Bundestag hat am 28. Mai 1954 entsprechend

BVerfGE 4, 370 (372):

beschlossen (Stenographischer Bericht der 32. Sitzung S. 1531). Er ist der Auffassung, daß es nicht seine Aufgabe sei, das Bundeswahlgesetz oder die Bundeswahlordnung auf etwaige Mängel nachzuprüfen. Außerdem sei durch die gerügten Mängel das Wahlergebnis und damit der Wählerwille nicht verfälscht worden.
2. Gegen diesen Beschluß hat der Beschwerdeführer am 27. Juni 1954 Beschwerde eingelegt, die von 131 Wahlberechtigten unterstützt wird. Er beantragt die Aufhebung des Beschlusses des Bundestages. Zur Begründung verweist er auf seine früheren Ausführungen und macht geltend, daß er nicht nur die Direktwahl, sondern auch die Wahl auf Landeslisten habe anfechten wollen.
Dem Bundestag, dem Bundesministerium des Innern, dem Bundeswahlleiter, dem Landeswahlleiter von Schleswig-Holstein, der CDU-Fraktion des Bundestages und dem Abgeordneten Giencke wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Hiervon haben nur der Bundeswahlleiter und der Landeswahlleiter Gebrauch gemacht. Sie sind der Ansicht, daß der Beschwerde nicht stattzugeben sei.
Das Gericht hat von einer mündlichen Verhandlung abgesehen, da es gemäß § 24 BVerfGG einstimmig entschieden hat.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, aber offensichtlich nicht begründet.
1. Die angebliche Unzweckmäßigkeit der §§ 46-48 BWG ist in diesem Verfahren ohne Belang, denn das Bundesverfassungsgericht hat eine gesetzliche Regelung nicht auf ihre Zweckmäßigkeit nachzuprüfen.
2. Das Wahlprüfungsverfahren und damit auch das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 41 Abs. 2 GG in Verbindung mit § 48 BVerfGG ist ausschließlich dazu bestimmt, die richtige Zusammensetzung des Bundestages zu gewährleisten. Nur solche Wahlfehler vermögen

BVerfGE 4, 370 (373):

daher die Beschwerde zu rechtfertigen, die auf die Mandatsverteilung von Einfluß sind oder sein können. Infolgedessen scheiden alle Verstöße von vornherein als unerheblich aus, die die Ermittlung des Wahlergebnisses nicht berühren. Aber auch Wahlfehler, die die Ermittlung des Wahlergebnisses betreffen, können die Beschwerde dann nicht rechtfertigen, wenn sie angesichts des Stimmverhältnisses keinen Einfluß auf die Mandatsverteilung haben konnten.
3. Die vom Beschwerdeführer behaupteten Unrichtigkeiten bei der Bekanntgabe der vorläufigen Wahlergebnisse durch den Bundeswahlleiter und den Landeswahlleiter von Schleswig- Holstein sind für die Wahlprüfung offensichtlich ohne Bedeutung, denn sie betreffen nicht die Ermittlung des Wahlergebnisses.
4. Auch die vom Beschwerdeführer gerügten Verstöße, die das Wahlverfahren selbst betreffen, vermögen die Beschwerde nicht zu rechtfertigen.
a) Der Aushang des Wahlaufrufs der Bundeszentrale für Heimatdienst im Wahllokal ist nicht zu beanstanden. § 39 BWG verbietet zwar jede Beeinflussung des Wählers in dem Gebäude, in dem sich der Wahlraum befindet. Das neutral gehaltene Plakat der Bundeszentrale für Heimatdienst, das nur technische Hinweise für den Wahlvorgang enthielt, war nach Form und Inhalt weder bestimmt noch geeignet, den Wähler in seiner Wahlentscheidung zu beeinflussen. Sein Aushang im Wahllokal war daher nicht durch § 39 BWG verboten.
b) Der geringfügige Verstoß, der darin liegt, daß die amtliche Wahlbekanntmachung und der amtliche Stimmzettel an der Tür zum Wahlraum anstatt am Gebäudeeingang angeschlagen wurden, ist seiner Natur nach nicht geeignet, das Wahlergebnis zu beeinflussen.
c) Die willkürliche Änderung der in § 41 BWO vorgeschriebenen Reihenfolge der einzelnen Handlungen bei der Stimmabgabe im Husumer Wahlbezirk J war unzulässig. Sie könnte der Beschwerde jedoch nur dann zum Erfolg verhelfen, wenn sie für das Wahlergebnis von Bedeutung wäre. Nach der Eigen

BVerfGE 4, 370 (374):

art des Verstoßes ist der vom Beschwerdeführer gerügte vorzeitige Vermerk der Stimmabgabe nur bei großer Unaufmerksamkeit geeignet, das Wahlergebnis zu verfälschen. Im vorliegenden Fall war er unschädlich, denn die Zahl der Stimmabgabevermerke und der Wahlscheine stimmte im Husumer Wahlbezirk J mit der Zahl der Stimmzettel überein.
d) Schwerer wiegen die vom Beschwerdeführer gerügten und vom Landeswahlleiter bestätigten Verstöße gegen die §§ 46-48 BWO bei der Auszählung der Stimmen im Husumer Wahlbezirk E. Sie betreffen die Ermittlung des Wahlergebnisses unmittelbar und sind daher besonders geeignet, zu einem unrichtigen Wahlergebnis zu führen. Sie konnten jedoch angesichts der Stimmverhältnisse offensichtlich keinen Einfluß auf die Mandatsverteilung haben. Im Husumer Wahlbezirk E wurden 988 Erststimmen und 989 Zweitstimmen abgegeben. Der erfolgreiche Wahlkreisbewerber hatte gegenüber dem nächstfolgenden Kandidaten einen Vorsprung von 24 557 Stimmen, so daß offensichtlich die 988 Erststimmen des Wahlbezirks E in Husum das Wahlergebnis nicht verschieben konnten. Aber auch das Ergebnis der Landeslistenwahl wird durch die Stimmen des Wahlbezirks E in Husum nicht beeinflußt. Das Gericht hat die gesamten Zweitstimmen dieses Wahlbezirks der Reihe nach jeder einzelnen Partei zugeschlagen und für jeden dieser Fälle das Ergebnis neu berechnet. Es ergab sich, daß nicht einmal an der Reihenfolge, in der die Sitze auf die Parteien entfielen, geschweige denn an der Zahl ihrer Mandate sich etwas gegenüber dem festgestellten Wahlergebnis änderte. Damit ist offenkundig, daß die fehlerhafte Ermittlung des Wahlergebnisses im Wahlbezirk E in Husum die Mandatsverteilung nicht berührte.
Die Beschwerde war daher als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.