BVerfGE 7, 320 - Erziehung zu Freikörperkultur


BVerfgE 7, 320 (320):

Mit generellen Verboten darf der Gesetzgeber in das elterliche Erziehungsrecht im Hinblick auf die in Art. 6 Abs. 2 GG zum Ausdruck gekommene Wertentscheidung des Verfassungsgebers nur eingreifen, wenn individuelle Maßnahmen nicht ausreichen, generelle Maßnahmen vielmehr das gebotene und adäquate Mittel sind, um die Gefährdung der Jugendlichen abzuwehren.  Ob diese Grenzen zulässiger staatlicher Eingriffe bei einer gesetzlichen Regelung eingehalten worden sind, hat das Bundesverfassungsgericht zu prüfen.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 10. März 1958
-- 1 BvL 42/56 --
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 21 Abs. 2 des Gesetzes über die Verbreitung  jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 -- BGBl. I S. 377 -- auf Antrag des Oberlandesgerichts Hamm vom 12. Juli 1956 -- 2 Ss 488/56 --.
Entscheidungsformel:
§ 21 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 -- BGBl. I S. 377 -- (GjS) ist mit Art. 6 Abs. 2 GG insoweit unvereinbar, als er für den Tatbestand des § 6 Abs. 2 GjS den aus Art. 6 Abs. 2 GG zu entnehmenden Rechtfertigungsgrund für erziehungsberechtigte Eltern zu einem Strafausschließungsgrund abschwächt.
 
Gründe:
I.
Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS) grenzt den Kreis der Schriften ab, die geeignet sind, Jugendliche sittlich zu gefährden, und ihnen deshalb nicht feilgeboten oder zugänglich gemacht werden dürfen (§ 3 GjS). Jugendgefährdende Schriften sind in eine Liste aufzunehmen. Die Aufnahme ist bekanntzumachen (§ 1 GjS). Schriften, die Jugendliche offensichtlich sittlich schwer gefährden, unterliegen den Beschränkungen des Gesetzes, ohne daß es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf (§ 6 Abs. 1 GjS).


BVerfgE 7, 320 (321):

Das gleiche gilt für Schriften, die durch Bild für Nacktkultur werben (§ 6 Abs. 2 GjS).
Nach § 21 Abs. 1 GjS werden Zuwiderhandlungen gegen die §§ 3 bis 6 GjS bestraft. § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS lautet: "Macht der Erziehungsberechtigte, der gesetzliche Vertreter oder ein Jugendlicher eine Schrift, die den Beschränkungen der §§ 3 bis 6 unterliegt, einem Jugendlichen zugänglich, so bleibt die Tat straflos."
II.
Beim Oberlandesgericht Hamm schwebt ein Strafverfahren gegen die Eheleute B., weil sie der 15 jährigen Tochter ihrer Nachbarsleute, Elisabeth L., Zeitschriften überließen, die für Nacktkultur durch Bild werben. Das Amtsgericht Essen-Borbeck hat die Angeklagten, die Mitglieder der sogenannten "Freikörperkultur-Bewegung" sind, mit Urteil vom 18. Mai 1955 wegen Verstoßes gegen § 6 Abs. 2, § 21 GjS zu je 70 DM Geldstrafe, ersatzweise zu je einer Woche Gefängnis, verurteilt. Es folgte dabei der Einlassung der Angeklagten, die Mutter der Elisabeth L. sei mit der Überlassung der Schriften einverstanden gewesen, hielt dieses Einverständnis aber für rechtlich unerheblich, weil auch die Eltern nicht berechtigt seien, ihren jugendlichen Kindern Schriften zugänglich zu machen, die durch Bild für Nacktkultur werben. Die Eltern würden zwar nach § 21 Abs. 2 GjS nicht bestraft, ihr Verhalten aber bleibe rechtswidrig. Daher könne ihre Einwilligung kein Rechtfertigungsgrund sein für Dritte, die Jugendlichen solche Schriften zugänglich machten.
Im Berufungsverfahren wurden die Angeklagten zu je 20 DM Geldstrafe, ersatzweise 5 Tage Gefängnis, verurteilt.
Mit der Revision griffen sie erneut das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften als verfassungswidrig an.
Das Oberlandesgericht hält einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 GG für gegeben und hat die Sache mit Beschluß vom 12. Juli 1956 dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung über die Vereinbarkeit von § 21 Abs. 2 GjS mit Art. 6 Abs. 2 GG vorgelegt.


BVerfgE 7, 320 (322):

Der Gedankengang des Oberlandesgerichts ist dabei folgender: Erziehungsberechtigten Eltern steht ein unmittelbarer aus Art. 6 Abs. 2 GG herzuleitender Rechtfertigungsgrund zur Seite, wenn sie ihren eigenen Kindern Schriften zugänglich machen, die durch Bild für Nacktkultur werben. Auf diesen Rechtfertigungsgrund müßten auch Dritte sich berufen können, wenn sie im Einvernehmen mit den Eltern handeln. Das Oberlandesgericht möchte deshalb die Angeklagten freisprechen, weil es hier ein solches Einverständnis der Eltern für erwiesen hält. Es sieht sich indessen an einem Freispruch durch § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS gehindert, der den erziehungsberechtigten Eltern ausdrücklich nur einen persönlichen Strafausschließungsgrund zubilligt, also entgegen Art. 6 Abs. 2 GG von der Rechtswidrigkeit ihres Handelns ausgeht, so daß Dritte strafbar bleiben, auch wenn sie im Einverständnis mit den Eltern handeln. Darin erblickt das Oberlandesgericht einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 GG, der durch § 21 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 3 und § 6 Abs. 2 GjS seiner Funktion als Rechtfertigungsgrund für erziehungsberechtigte Eltern, die ihre Kinder im Sinne der Freikörperkultur-Bewegung erziehen wollen, entkleidet werde.
Die Bundesregierung hält die zur Prüfung gestellte Vorschrift des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften für verfassungsmäßig. Der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Hamm ist als Beteiligter des Ausgangsverfahrens derselben Auffassung. Die Angeklagten haben angeregt, die Verfassungsmäßigkeit des ganzen Gesetzes, insbesondere des § 6 Abs. 2 GjS, auch im Hinblick auf Art. 3 und 5 GG zu prüfen.
III.
Die Vorlage, über die ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (BVerfGE 2, 213 [217]), ist zulässig. Der Auffassung des Oberlandesgerichts ist im Ergebnis zuzustimmen.
1. Die Auslegung, die das Oberlandesgericht dem § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS gibt, ist zu billigen. Er enthält in der Tat nur einen

BVerfgE 7, 320 (323):

Strafausschließungsgrund. Es erhebt sich die Frage, ob sich diese Bestimmung mit dem elterlichen Erziehungsrecht vereinbaren läßt. Art. 6 Abs. 2 GG bestimmt: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." Hieraus folgt, daß die Eltern ein Abwehrrecht gegen solche Eingriffe des Staates in ihr Erziehungsrecht haben, die nicht durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gedeckt sind (BVerfGE 4, 52 [57]). Das gilt auch für gesetzgeberische Eingriffe (Art. 1 Abs. 3 GG). Der Gesetzgeber kann das natürliche Erziehungsrecht der Eltern nicht beliebig in seinem Inhalt beschränken. Er darf in ihr erzieherisches Ermessen nur eingreifen, soweit sein Wächteramt dies rechtfertigt, also jedenfalls dann nicht, wenn kein legitimes öffentliches Interesse an der Erziehung den Eingriff gebietet. Dies ergibt sich daraus, daß der Einzelne nach der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes nicht als isoliertes souveränes Einzelwesen, sondern als verantwortlich lebendes Glied der Gemeinschaft aufgefaßt wird (BVerfGE 4, 7 [15 f.]). Das Kind und der heranwachsende Jugendliche sollen auch heute zu leiblicher, seelischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit erzogen werden (vgl. Art. 120 WRV; § 1 RJWG und entsprechende Bestimmungen der Länderverfassungen). Wird dieses Erziehungsziel durch einen Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts gefährdet, ist der Staat berechtigt einzugreifen.
In der Regel wird sich nur im Einzelfalle feststellen lassen, ob ein solcher Mißbrauch vorliegt. Der Gesetzgeber wird sich daher weitgehend darauf beschränken müssen, die Voraussetzungen zu normieren, unter denen Gerichte und Verwaltungsbehörden in das elterliche Erziehungsrecht eingreifen dürfen. Für den schwersten Eingriff -- die Trennung des Kindes von der Familie -- folgt dies bereits aus Art. 6 Abs. 3 GG. Das schließt indessen nicht aus, gewisse Verhaltensweisen generell als Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts zu werten und gesetzlich zu verbieten. Mit generellen Verboten darf der Gesetzgeber in das elterliche Erziehungsrecht im Hinblick auf die in Art. 6 Abs. 2 GG zum Aus

BVerfgE 7, 320 (324):

druck gekommene Wertentscheidung des Verfassungsgebers aber nur eingreifen, wenn individuelle Maßnahmen nicht ausreichen, generelle Maßnahmen also das gebotene und adäquate Mittel sind, um die Gefährdung abzuwehren. Ob diese Grenzen zulässiger staatlicher Eingriffe bei einer gesetzlichen Regelung eingehalten worden sind, hat das Bundesverfassungsgericht zu prüfen.
2. § 6 Abs. 2 GjS enthält eine generelle Maßnahme. Sie wäre nur zulässig, wenn entweder die Erziehung zur Freikörperkultur selbst bereits ein Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts wäre oder Schriften, die durch Bild für Nacktkultur werben, Jugendliche in aller Regel sittlich gefährdeten oder wenn sozial bedeutsame Gefahren, die von solchen Schriften ausgehen, auf andere Weise nicht bekämpft werden könnten. Keine dieser Voraussetzungen ist erfüllt.
a) Die Erziehung zur sogenannten Freikörperkultur -- jedenfalls in der Form, wie sie zur Zeit von der Freikörperkultur-Bewegung propagiert wird -- hält sich noch im Rahmen des erzieherischen Ermessens, das den Eltern zusteht. Sie können also nicht gehindert werden, ihre Kinder zur Freikörperkultur zu erziehen. Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften will dies auch nicht verhindern (vgl. Begründung zu § 6 des Regierungsentwurfs, BT I Drucks. Nr. 1101).
b) Der Gesetzgeber will nur eine spezifische Form der Beeinflussung Jugendlicher im Sinne der "Freikörperkultur- Bewegung" verbieten. Er geht zutreffend davon aus, daß "zweifellos die Darstellung eines nackten menschlichen Körpers an sich weder unanständig noch obszön ist. Es ist aber zu berücksichtigen, daß die Anschauungen der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes die Verneinung eines natürlichen Schamgefühls durch ungeniertes Zurschaustellen des nackten Körpers im täglichen Leben ablehnt" (Begründung zu § 6 des Regierungsentwurfs a.a.O.). Die durch Bild für Nacktkultur werbenden Schriften seien generell als jugendgefährdend anzusehen (vgl. den mündl. Bericht des Ausschusses für Jugendfürsorge, BT I 230. Sitzung Verh. S. 10534).


BVerfgE 7, 320 (325):

Das Bundesverfassungsgericht hat sich jedoch nicht davon überzeugen können, daß die in § 6 Abs. 2 GjS aufgeführten Schriften Jugendliche durchweg sittlich gefährden. Zeitschriften, die durch Bild für Nacktkultur werben, können verschieden ausgestaltet sein und sind es in der Tat auch. Hieraus folgt, daß die von ihnen möglicherweise ausgehende Gefährdung graduell verschieden ist. Unterschiede können sich schon in verschiedenen Nummern ein und derselben Zeitschrift finden. Außerdem hängt die Wirkung solcher Zeitschriften auf Jugendliche nicht nur von ihrem Inhalt ab, sondern auch von dem Erziehungsmilieu, in dem die Jugendlichen aufwachsen. Was den einen gefährdet, braucht für den anderen noch keine Gefahr zu sein. Jedenfalls läßt sich nicht feststellen, daß Jugendliche unter allen Umständen durch Zeitschriften, die durch Bild für Nacktkultur werben, sittlich so gefährdet werden, daß die Entscheidung der Eltern, ihnen solche Zeitschriften zugänglich zu machen, in jedem Falle einen Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts darstellt, der das Einschreiten des Staates erfordert. Aus diesem Grunde ging der Entwurf der Bundesregierung allgemein davon aus, daß der Erziehungsberechtigte, der seinen Zöglingen die Lektüre von Schriften gestatte, die geeignet sind, Jugendliche sittlich zu gefährden, dies selbst zu verantworten habe (vgl. Begründung zu § 3 des Regierungsentwurfs a.a.O.), während der Bundesrat die Entscheidung über den jugendgefährdenden Charakter von Nacktkulturschriften allein den Prüfstellen überlassen wollte (BT I Drucks. Nr. 1101 Anl. 2 Nr. 10).
c) Die in § 6 Abs. 2 GjS getroffene Regelung ist, soweit sie in das in Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistete elterliche Erziehungsrecht eingreift, nicht das gebotene und adäquate Mittel zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks. Einzelne Nummern einer Zeitschrift im Sinne von § 6 Abs. 2 GjS können von der Bundesprüfstelle auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften (§ 1 GjS) gesetzt werden; unter den Voraussetzungen des § 7 GjS kann gegen eine solche Zeitschrift vorbeugend eingeschritten werden. Soweit Nacktkulturschriften Jugendliche offensichtlich schwer gefährden, bedarf es nicht erst der Aufnahme in die Liste, um die

BVerfgE 7, 320 (326):

Strafbarkeit ihrer Weitergabe an Jugendliche zu begründen (§ 3, § 6 Abs. 1, § 21 Abs. 1 GjS). Auch den Eltern ist diese Weitergabe nicht gestattet; sie wäre ein Mißbrauch ihres Erziehungsrechts. Schließlich können jederzeit Maßnahmen nach § 1666 BGB und dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz gegenüber Jugendlichen oder Erziehern ergriffen werden, wenn Schädigungen drohen. Eine generalisierende Maßnahme im Sinne von § 6 Abs. 2 GjS ist jedoch gegenüber den erziehungsberechtigten Eltern nicht gerechtfertigt, da sie das Erziehungsrecht mehr als notwendig einschränkt.
3. Zusammenfassend ergibt sich:
Der Gesetzgeber war nicht befugt, den Rechtfertigungsgrund des Art. 6 Abs. 2 GG in § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS in einen Strafausschließungsgrund abzuschwächen und dadurch einem wegen Verstoßes gegen §§ 3 und 6 Abs. 2 GjS Angeklagten von vornherein die Möglichkeit abzuschneiden, sich auf das elterliche Einverständnis zu berufen. Verfassungswidrig ist dieses Vorgehen des Gesetzgebers allerdings nur, soweit es sich gegen Eltern richtet, denen das elterliche Erziehungsrecht (Sorgerecht) zusteht.
4. Da § 21 Abs. 2 Satz 1 GjS in dem zu prüfenden Umfang gegen Art. 6 Abs. 2 GG verstößt, erübrigt sich eine Prüfung, ob er insoweit andere Vorschriften des Grundgesetzes verletzt (BVerfGE 6, 55 [82]). Dem Bundesverfassungsgericht ist es in diesem Verfahren auch verwehrt, die Vereinbarkeit anderer Vorschriften des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften mit Art. 5 GG zu prüfen. Soweit das Vorbringen der Angeklagten des Ausgangsverfahrens etwa darauf abzielen sollte, kann ihm nicht entsprochen werden (BVerfGE 4, 387 [398]). Hier war nur zu entscheiden, inwieweit die zur Prüfung gestellten Vorschriften des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise in das elterliche Erziehungsrecht eingegriffen haben.