BVerfGE 15, 223 - Zeugnisverweigerungsrecht
 


BVerfGE 15, 223 (223):

Beschluss
des Ersten Senats vom 18. Dezember 1962
- 1 BvR 665/62 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. der Verlag Henri Nannen GmbH, Hamburg 1, Pressehaus, vertreten durch ihre Geschäftsführer Dr. Gerd Bucerius und Robert Streitberger, ebenda, 2. des Buchhalters ..., Bevollmächtigter: Rechtsanwalt ..., gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Hamburg vom 15. November 1962 - 158 Gs 2908/62 - und des Landgerichts Hamburg vom 19. November 1962 - (40) Qs 173/62.


BVerfGE 15, 223 (224):

Einstweilige Anordnung
Die Vollstreckung der in dem Beschluß des Amtsgerichts Hamburg vom 15. November 1962 - 158 Gs 2908/62 - gegen den Buchhalter ... zur Erzwingung eines Zeugnisses angeordneten Haft wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgesetzt.
 
Gründe
I.
Die in dem Verlag Henri Nannen GmbH erscheinende Wochenzeitschrift "Stern" hat in ihren diesjährigen Ausgaben Nr. 11 bis 14 über Straftaten einer in Untersuchungshaft befindlichen Bande von Bankräubern und eines ebenfalls inhaftierten Einbrechers berichtet. Diese Veröffentlichungen hat die Staatsanwaltschaft in Stuttgart zum Anlaß genommen, gegen einige Beamte der Polizei und der Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen passiver Bestechung einzuleiten; ihnen wird zur Last gelegt, die für die Berichterstattung erforderlichen Kontakte zwischen dem Nannen-Verlag und den Untersuchungsgefangenen hergestellt und dafür Geld angenommen zu haben.
Im Verlaufe dieses Ermittlungsverfahrens ist die richterliche Vernehmung des bei dem Verlag beschäftigten Buchhalters ... als Zeuge über folgende Fragen angeordnet worden:
    "1) Wurden von dem Verlag Henri Nannen Honorare für das Zustandekommen der oben genannten Artikel ausbezahlt, gegebenenfalls an wen und in welcher Höhe?
    2) Wurden von dem Autor Thomas Westar und den Redakteuren Jochen von Lang und Sievers Auslagen, die diesen bei Reisen in dieser Sache entstanden waren, erstattet, gegebenenfalls, um was für Auslagen hat es sich hierbei gehandelt und in welcher Höhe wurden sie erstattet?"
Auf diese Fragen hat der Buchhalter ... unter Berufung auf die Vorschriften der §§ 53, 55 StPO die Aussage verweigert. Daraufhin hat ihn das Amtsgericht Hamburg durch Beschluß vom 15. November 1962 gemäß § 70 StPO wegen ungerechtfertigter Verweigerung des Zeugnisses zu einer Ordnungsstrafe verurteilt;

BVerfGE 15, 223 (225):

außerdem ist gegen ihn zur Erzwingung des Zeugnisses die Haft angeordnet worden.
Die von beiden Beschwerdeführern gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittel hat das Landgericht Hamburg durch Beschluß vom 19. November 1962 verworfen; es hält die Verweigerung der Aussage weder nach § 53 noch nach § 55 StPO für gerechtfertigt.
II.
Die form- und fristgerecht erhobene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die genannten Beschlüsse. Die Beschwerdeführer rügen in erster Linie, daß durch die angefochtenen Entscheidungen das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt werde.
III.
Der in diesem Verfahren gestellte Antrag des Beschwerdeführers zu 2), durch einstweilige Anordnung die Vollziehung des Beugehaftbeschlusses zur Erzwingung der Aussage des Buchhalters ... bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen, ist zulässig und begründet.
Mit Rücksicht auf das Grundrecht der Pressefreiheit bedarf es bei jeder strafprozessualen Maßnahme, die in den durch dieses Grundrecht geschützten Bereich der Presse eingreift, einer Abwägung zwischen den Erfordernissen einer freien Presse und denen der Strafverfolgung (Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 1962 - 1 BvR 586/62).
Wenn der Buchhalter eines Verlages in Haft genommen werden soll, um ihn zu einer Aussage über Angelegenheiten des Verlages zu zwingen, reicht es daher nicht aus, daß lediglich die Zulässigkeit dieser Maßnahme nach den strafprozessualen Vorschriften festgestellt wird. Es erhebt sich in einem solchen Fall vielmehr die Frage, ob die Maßnahme auch unter Berücksichtigung der als Grundrecht gewährleisteten Pressefreiheit zulässig ist.


BVerfGE 15, 223 (226):

Diese Frage, die in den angefochtenen Beschlüssen nicht erörtert worden ist, bedarf hier einer eingehenden Prüfung. Es ist daher erforderlich, bis zu ihrem Abschluß die Vollstreckung der angeordneten Haft auszusetzen. Bei einer Abwägung der für und gegen eine einstweilige Anordnung sprechenden Gründe überwiegen die eine solche Anordnung rechtfertigenden Gründe.
Würde der Buchhalter ... in Haft genommen und später die Verfassungswidrigkeit der Haftanordnung festgestellt werden, dann wäre ihm ein schwerer Nachteil entstanden. Würde dagegen die Verfassungsbeschwerde erfolglos bleiben, dann könnte die Vollstreckung der Haft, soweit noch erforderlich, nachgeholt werden.
Der Erlaß der einstweiligen Anordnung ist auch zum gemeinen Wohl dringend geboten. Eine Freiheitsentziehung unter Verletzung verfassungsrechtlicher Rechte wäre ein schwerer und nicht zu behebender Schaden.