BVerfGE 15, 268 - Tierzuchtgesetz I
 


BVerfGE 15, 268 (268):

Beschluß
des Zweiten Senats vom 22. Januar 1963
- 2 BvL 11/62 -
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 6 Absatz 2 des Gesetzes über Maßnahmen auf dem Gebiete der tierischen Erzeugung (Tierzuchtsgesetz) vom 7. Juli 1949 (WiGBl. S. 181) - Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Köln vom 17. Mai 1962 (1 K 26/62).
Entscheidungsformel:
§ 6 Absatz 2 des Gesetzes über Maßnahmen auf dem Gebiete der tierischen Erzeugung (Tierzuchtgesetz) vom 7. Juli 1949 (WiGBl. S. 181) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
 
Gründe:
I.
1. Das Tierzuchtgesetz vom 7. Juli 1949 - erlassen vom Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets und am 23. Juli 1949, also vor dem ersten Zusammentritt des Bundestags (7. September 1949), verkündet - bestimmt in § 1, daß männliche Tiere (insbesondere Hengste, Bullen, Eber, Schaf- und Ziegenböcke) nur dann zum Decken oder zur künstlichen Besamung verwendet werden dürfen, wenn sie gekört sind und für sie eine Deckerlaubnis erteilt ist. Nach § 6 Abs. 2 kann "die oberste Landesbehörde für Landwirtschaft" bestimmen, "daß nicht gekörte oder abgekörte Tiere zu schlachten oder unfruchtbar zu machen sind". § 9 enthält die Strafvorschrift gegen Zuwiderhandlungen gegen das Gesetz und die zur Durchführung des Gesetzes ergangenen Bestimmungen. § 10 Abs. 2 ermächtigt die Oberste Landesbehörde

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für Landwirtschaft, "im übrigen" "die zur Durchführung dieses Gesetzes erforderlichen Bestimmungen" zu erlassen.
Das Tierzuchtgesetz ist gemäß Art. 127 GG durch Verordnung vom 21. Februar 1950 (BGBl. S. 37) auf die französische Zone und den Kreis Lindau, durch Verordnung vom 25. März 1954 (BGBl. I S. 64) auf das Land Berlin erstreckt worden. § 10 des Gesetzes ist geändert worden, indem das Gesetz vom 23. Juni 1953 (BGBl. I S. 445) den Absatz 3 gestrichen hat; er hatte gelautet: "Zur Verbesserung der Geflügelzucht trifft die oberste Landesbehörde für Landwirtschaft Bestimmungen über die Erzeugung von Kücken in Brütereien."
Der nordrhein-westfälische Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten erließ am 29. Juli 1960 (GVBl. S. 308) eine Durchführungsverordnung zum Tierzuchtgesetz, die sich in der Einleitung u.a. ausdrücklich auf die Ermächtigungen in § 6 Abs. 2 und § 10 Abs. 2 des Tierzuchtgesetzes stützt. Nach § 9 dieser Verordnung kann verlangt werden, nicht gekörte oder abgekörte oder nicht rechtzeitig vorgestellte Tiere unfruchtbar zu machen oder zu schlachten.
2. Dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Gutspächterin H ... in ... hielt einen Eber, der zur Körung im Jahre 1961 nicht vorgestellt worden war. Der Oberkreisdirektor in Köln forderte deshalb mit Verfügung vom 9. August 1961, den nicht gekörten Eber binnen vier Wochen kastrieren oder schlachten zu lassen. Nach erfolglosem Widerspruch erhob die Gutspächterin Anfechtungsklage mit dem Antrag, die Verfügung und den Widerspruchsbescheid aufzuheben. Sie machte geltend, die nordrhein-westfälische Durchführungsverordnung zum Tierzuchtgesetz entbehre einer hinreichenden gesetzlichen Ermächtigung, weil § 10 Abs. 2 Tierzuchtgesetz nicht der Anforderung des Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG genüge und deshalb nichtig sei.
3. Das Verwaltungsgericht hat sein Verfahren ausgesetzt, um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzu

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holen, ob § 10 Abs. 2 Satz 1 Tierzuchtgesetz mit Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar ist. Von der Entscheidung dieser Frage hänge seine eigene Entscheidung ab, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig, also durch Abweisung der Klage zu bestätigen oder aber aufzuheben sei.
§ 10 Abs. 2 Satz 1 Tierzuchtgesetz sei nichtig, weil entgegen der Vorschrift des Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG nicht die Landesregierung, sondern die Oberste Landesbehörde für Landwirtschaft zum Erlaß der Verordnung ermächtigt worden sei (vgl. BVerfGE 11, 77 ff.). Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG gelte, da es sich nicht um eine Organisationsbestimmung handle (BVerfGE 4, 331 ff.), vom Tage des Inkrafttretens des Grundgesetzes an; ihm müsse deshalb die Ermächtigung des § 10 Abs. 2 Tierzuchtgesetz genügen.
4. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG gelte nicht für Ermächtigungen in Gesetzen, die vor dem ersten Zusammentritt des Bundestags (7. September 1949) erlassen worden sind. Solche Ermächtigungen seien vielmehr als "alte" Ermächtigungen nach Art. 129 GG zu beurteilen. Die gleiche Auffassung vertritt der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten; er weist außerdem darauf hin, daß Grundlage für den Erlaß des § 9 der Durchführungsverordnung vom 29. Juli 1960 nicht die allgemeine Ermächtigung des § 10 Abs. 2 Tierzuchtgesetz, sondern die besondere Ermächtigung des § 6 Abs. 2 a.a.O. bilde.
II.
Die Vorlage ist zulässig.
Es kommt hier allerdings nicht auf die Ermächtigung in § 10 Abs. 2 Tierzuchtgesetz, sondern auf die Ermächtigung in § 6 Abs. 2 a.a.O. an. Zwar spricht § 6 Abs. 2 nur von "nicht gekörten" oder "abgekörten" Tieren, während § 9 der Verordnung auch noch "nicht vorgestellte" Tiere kennt; in der Sprache des Gesetzes fallen aber die "nicht vorgestellten" Tiere unter die "nicht

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gekörten" Tiere. Daran, daß das vorlegende Gericht die Ermächtigung in § 6 Abs. 2 a.a.O. übersehen hat und fälschlicherweise den § 10 Abs. 2 a.a.O. nennt, scheitert die Vorlage nicht. Beide Ermächtigungen leiden an demselben Mangel, der das Gericht zu seiner Vorlage veranlaßt hat. Es wollte natürlich die einschlägige Ermächtigung zum Gegenstand der Nachprüfung machen.
III.
§ 6 Abs. 2 Tierzuchtgesetz ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
1. In einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz wäre die Ermächtigung des § 6 Abs. 2 a.a.O. nach den Darlegungen des Beschlusses des Senats vom 10. Mai 1960 (BVerfGE 11, 77), von denen abzugehen kein Anlaß besteht, wegen Unvereinbarkeit mit Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG nichtig.
Dasselbe müßte gelten, wenn die Ermächtigung aus Anlaß einer Gesetzesänderung durch den Bundestag noviert worden wäre. Das ist nicht der Fall. Die nachträgliche Erstreckung des Geltungsbereichs des Tierzuchtgesetzes auf die französische Besatzungszone und auf Berlin scheidet in diesem Zusammenhang aus, weil sie durch Verordnung erfolgte und die Ermächtigung dazu nicht auch die inhaltliche Änderung des Gesetzes umfaßte. Die Änderung des § 10 durch Streichung von dessen Absatz 3 stellt nach den Grundsätzen der Entscheidung vom 17. Mai 1960 (BVerfGE 11, 126) weder die Umwandlung der Ermächtigung des § 10 Abs. 2 noch der Ermächtigung in § 6 Abs. 2 Tierzuchtgesetz in eine Vorschrift aus der Zeit nach dem 7. September 1949 dar.
2. Es kommt also darauf an, ob auch eine Ermächtigung in einem Gesetz, das nach Inkrafttreten des Grundgesetzes und vor dem ersten Zusammentritt des Bundestages verkündet worden ist, dem Erfordernis des Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG genügen muß.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat schon entschieden, daß eine solche Ermächtigung nicht an Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG gemessen werden kann (BVerfGE 2, 307 [326 ff.]). Die Begründung dafür ist: Art. 129 GG regelt als Sondervorschrift die Wei

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tergeltung früherer Ermächtigungen; grundsätzlich sollen sie fortgelten; nur unter den besonderen Voraussetzungen des Art. 129 Abs. 3 a.a.O. erlöschen sie. Der Parlamentarische Rat kannte landesrechtliche Überleitungsvorschriften aus der Zeit nach 1945, die die strengeren Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG vorweggenommen hatten, und wußte, daß dem deutschen Staatsrecht vor 1945 eine inhaltsgleiche gesetzliche Begrenzung der Verordnungsbefugnis fehlte. Wenn er gleichwohl davon absah, in Art. 129 GG das Erfordernis des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG aufzunehmen, ist zu folgern, "daß der Fortbestand der Ermächtigung in einer Rechtsvorschrift aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestags nicht davon abhängt, daß die Ermächtigung sich im Rahmen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG hält". Es besteht kein Anlaß, diese Auffassung aufzugeben. Sie widerspricht insbesondere weder dem in der Entscheidung vom 24. April 1953 (BVerfGE 2, 237 [258]) enthaltenen Rechtsgrundsatz, daß der Wirtschaftsrat an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden war, noch dem in der Entscheidung vom 9. November 1955 (BVerfGE 4, 331 [341]) enthaltenen allgemeineren Grundsatz, daß der Gesetzgeber der Übergangszeit (d. i. vom 23. Mai bis 7. September 1949) "an die Bestimmungen des Grundgesetzes" - grundsätzlich - gebunden war, "soweit sie nicht - wie z.B. die Organisationsbestimmungen bis zur Bildung der Bundesorgane - aus besonderen Gründen zunächst noch gegenstandslos waren". Denn jene Auslegung des Art. 129 GG hatte gerade das Ergebnis, daß das Grundgesetz den Gesetzgeber vor dem 7. September 1949 nicht an Art. 80 Abs. 1 Satz 2 gebunden hat.
b) Was für die Nichtanwendbarkeit des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG auf Ermächtigungen in einem Gesetz aus der Zeit vor dem 7. September 1949 gilt, muß erst recht für den Fall gelten, daß sich dieser Gesetzgeber bei der Ermächtigung nicht an die Vorschrift des Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG gehalten hat, der die durch das Grundgesetz geschaffene Organisation voraussetzt. Beide Sätze des Art. 80 Abs. 1 sind durch das Wörtchen "dabei" überdies eindeutig zu einer inneren Einheit zusammengefaßt, die auch

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rechtlich hinsichtlich ihres Anwendungsbereiches nur einheitlich gedeutet werden kann.
3. Eine andere Frage ist, ob sich aus Art. 129 Abs. 1 Satz 1 GG ergibt, daß die im Gesetz an die "Oberste Landesbehörde für Landwirtschaft" erteilte Ermächtigung auf die Landesregierung als "auf die nunmehr (nämlich nach dem Grundsatz des Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG) sachlich zuständige Stelle" übergegangen ist. Das haben die Gerichte in eigener Zuständigkeit zu entscheiden.