BVerfGE 23, 113 - Blankettstrafrecht


BVerfGE 23, 113 (113):

1. § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB gilt als Bundesrecht fort.
2. Der Bundesgesetzgeber kann, wenn er ein Verhalten als strafwürdig erachtet, im Bereich der im Strafgesetzbuch herkömmlich geregelten Materien Straftatbestände schaffen (Art. 74 Nr. 1 GG), ohne hierbei an die ihm sonst durch die Zuständigkeitskataloge gezogenen Grenzen gebunden zu sein.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 22. Februar 1968
- 2 BvO 2/65, 1/66 -
in dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fortgilt, - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des 3. Strafsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 9. November 1965 (3 Ss 1041/65) - 2 BvO 2/65 -; - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des 3. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. Juni 1966 (3 Ss 569/65) - 2 BvO 1/66.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL:
§ 367 Absatz 1 Nr. 15 des Strafgesetzbuches vom 15. Mai 1871 (Reichsgesetzbl. S. 127) gilt als Bundesrecht fort.
 
Gründe:
 
A. - I.
1. Nach § 367 Abs. 1 Nr. 15 i.V.m. § 1 Abs. 3 StGB begeht eine Übertretung,


    BVerfGE 23, 113 (114):

    wer als Bauherr, Baumeister oder Bauhandwerker einen Bau oder eine Ausbesserung, wozu die polizeiliche Genehmigung erforderlich ist, ohne diese Genehmigung oder mit eigenmächtiger Abweichung von dem durch die Behörde genehmigten Bauplan ausführt oder ausführen läßt.
2. In den Jahren 1955 - 1959 hat eine aus Vertretern der Länder und des Bundes bestehende Kommission eine Musterbauordnung ausgearbeitet, die eine Neuordnung des Bauaufsichtsrechts enthielt. Auf der Grundlage dieser Musterbauordnung haben u.a. die Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg neue Bauordnungen erlassen.
a) Nach § 80 Abs. 1 der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Juni 1962 (GVBl. S. 373) - BauO NW sind die Errichtung, die Änderung und der Abbruch baulicher Anlagen genehmigungspflichtig, soweit nichts anderes bestimmt ist. § 88 BauO NW enthält Bestimmungen über "Baugenehmigung und Baubeginn". § 88 Abs. 8 lautet:
    (8) Vor Zustellung der Baugenehmigung darf mit der Bauausführung, einschließlich des Baugrubenaushubs, nicht begonnen werden.
§ 101 BauO NW bestimmt:
    (1) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig
    1. ...
    2. ...
    3. entgegen der Vorschrift des § 88 Abs. 8, § 89 Abs. 3 oder des § 96 Abs. 2 Satz 5 Bauarbeiten beginnt oder fortsetzt oder entgegen der Vorschrift des § 96 Abs. 3 Satz 4 bauliche Anlagen benutzt,
    4. bis 9. ...
    (2) ...
    (3) Die Ordnungswidrigkeit kann bei Vorsatz mit einer Geldbuße bis zu 10.000,- DM, bei Fahrlässigkeit mit einer Geldbuße bis zu 5000,- DM geahndet werden.
    ...
Nach § 108 Abs. 1 BauO NW treten mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes "alle Vorschriften außer Kraft, deren Gegenstände in diesem Gesetz geregelt sind oder die diesem Gesetz widersprechen".


BVerfGE 23, 113 (115):

Die Bauordnung trat nach ihrem § 109 am 1. Oktober 1962 in Kraft.
b) Auch nach der Landesbauordnung für Baden-Württemberg vom 6. April 1964 (GBl S. 151) - LBO Bad.-Wttbg. bedürfen die Errichtung und der Abbruch baulicher Anlagen grundsätzlich der Genehmigung (§ 87 Abs. 1). Die übrigen hier interessierenden Vorschriften der Landesbauordnung haben folgenden Wortlaut:
    § 95
    Baugenehmigung und Baubeginn
    (1) bis (5) ...
    (6) Vor Zustellung der Baugenehmigung und vor Erfüllung der darin für den Baubeginn enthaltenen Auflagen und Bedingungen darf mit der Ausführung genehmigungspflichtiger Vorhaben nicht begonnen werden.
    (7) ...
    § 12
    Ordnungswidrigkeiten
    (1) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig
    1. bis 5. ...
    6. entgegen § 95 Abs. 6 und 7 und § 96 Abs. 3 und 4 sowie § 103 Abs. 2 Satz 4 Bauarbeiten beginnt oder fortsetzt oder entgegen § 103 Abs. 3 Satz 4 und 5 bauliche Anlagen nutzt.
    (2) ...
    (3) Die Ordnungswidrigkeiten können, wenn sie vorsätzlich begangen sind, mit einer Geldbuße bis zu 10 000,- DM, wenn sie fahrlässig begangen sind, mit einer Geldbuße bis zu 5000 DM geahndet werden.
    § 118
    Aufhebung bestehender Vorschriften
    (1) Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes treten alle Vorschriften außer Kraft, die diesem Gesetz oder den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften entsprechen oder widersprechen. Insbesondere treten außer Kraft:
    1. ...
    2. Die württ. Bauordnung vom 28. Juli 1910 (RegBl. S. 333) mit Änderungen, ausgenommen Art. 60, Art. 61 und Art. 97
    ...


BVerfGE 23, 113 (116):

Die Landesbauordnung trat nach ihrem § 119 am 1. Januar 1965 in Kraft.
II.
1. Im Verfahren des Oberlandesgerichts Hamm - 3 Ss 1041/65 (2 BvO 2/65) wirft die Staatsanwaltschaft einem Tischlermeister eine Übertretung nach § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB vor, weil er als Bauherr in einem Haus verschiedene bauliche Veränderungen hatte vornehmen lassen, für die eine Baugenehmigung nicht beantragt war.
Das Amtsgericht Lemgo sprach den Angeklagten mit der Begründung frei, er habe zwar genehmigungspflichtige Bauarbeiten vorgenommen, § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB habe jedoch als Landesrecht fortgegolten und sei durch § 108 Abs. 1 BauO NW aufgehoben worden.
Die Staatsanwaltschaft hat Revision eingelegt. Der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat durch Beschluß vom 9. November 1965 das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 126 GG, § 86 Abs. 2 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fortgilt.
Der Senat hält diese Frage für entscheidungserheblich und für streitig im Sinne des § 86 Abs. 2 BVerfGG. Das Verhalten des Angeklagten erfülle die Voraussetzungen des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB, aber auch die der Ordnungswidrigkeit gemäß § 101 Abs. 1 Nr. 3 BauO NW. Sei § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB Bundesrecht geworden und geblieben, so sei das angefochtene Urteil des Amtsgerichts aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Sei die Bestimmung dagegen Landesrecht geworden, so gelte sie im Lande Nordrhein-Westfalen nicht mehr fort. Der Angeklagte habe dann keine "Straftat" begangen. Er sei entweder freizusprechen oder das Verfahren sei wegen sachlicher Unzuständigkeit des Gerichts einzustellen.
Die Fortgeltung des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht sei ernstlich zweifelhaft. Die Ahndung des Bauens ohne Genehmigung habe rein baupolizeilichen Charakter. Das Baupolizei

BVerfGE 23, 113 (117):

recht gehöre aber von jeher zur Gesetzgebungskompetenz der Länder. Durch Schaffung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten sei grundsätzlich anerkannt worden, daß es neben dem echten kriminellen Unrecht ein davon wesensverschiedenes Ordnungsunrecht gebe. Sei der Wesensgehalt einer Strafvorschrift für deren Zuordnung zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Nr. 1 GG von Bedeutung, so könne nicht zweifelhaft sein, daß § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als rein baupolizeiliche Vorschrift nicht dem Strafrecht, sondern dem Baurecht zugeordnet werden müsse, mit dem die Bestimmung in einem notwendigen Zusammenhang stehe.
Dieser Ansicht könne aber entgegengehalten werden, daß der Reichsgesetzgeber den Verstoß gegen die Baugenehmigungspflicht durch Schaffung eines Übertretungstatbestandes pönalisiert und dadurch zum Strafrecht gemacht habe und daß diese Wertung fortgelten müsse, solange der Bundesgesetzgeber die Bestimmung nicht aufgehoben habe. Diese Meinung werde auch in der Literatur vertreten.
2. Im Verfahren des Oberlandesgerichts Stuttgart - 3 Ss 569/ 65 - (2 BvO 1/66) hat das Amtsgericht Laupheim einen Architekten aus Heilbronn wegen fahrlässiger Übertretung des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB i.V.m. Art. 100 Abs. 4 (gemeint ist: Nr. 4) der Württembergischen Bauordnung vom 28. Juli 1910 (RegBl. S. 333) zu einer Geldstrafe von 50 DM verurteilt, weil er im Juli 1964 auf einem Grundstück, dessen Miteigentümer er ist, an zwei das Grundstück begrenzenden Feldwegen Einfriedungsmauern hatte errichten lassen, ohne die Genehmigung der zuständigen Behörde zu besitzen. Nach Art. 100 der Württembergischen Bauordnung bedurfte die Errichtung von Einfriedungsmauern an Ortsstraßen und öffentlichen Wegen und Plätzen einer baupolizeilichen Genehmigung.
Der Angeklagte hat Revision eingelegt. Der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart hat am 27. Juni 1966 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 126 GG, § 86 Abs. 2 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorzulegen, ob § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fortgilt.


BVerfGE 23, 113 (118):

Das Oberlandesgericht hat ausgeführt, die vom Angeklagten errichtete Mauer sei eine genehmigungspflichtige Einfriedungsmauer im Sinne des Art. 100 Nr. 4 der Württembergischen Bauordnung. Es stelle sich jedoch die Frage, ob das Amtsgericht zutreffend die Bestimmung des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB angewandt habe oder ob es nicht vielmehr das Verhalten des Angeklagten als Ordnungswidrigkeit nach § 112 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 95 Abs. 6 LBO Bad.-Wttbg. hätte ansehen müssen. Die am 1. Januar 1965 in Kraft getretene Landesbauordnung sei in entsprechender Anwendung des § 2 Abs. 2 StGB als das mildere Gesetz zugrunde zu legen, falls § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB seit dem Inkrafttreten der Landesbauordnung nicht mehr gelte. Das Verfahren sei dann einzustellen, da eine strafrechtliche Verfolgung nicht möglich sei.
Die Rechtsfrage, ob § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fortgelte, sei streitig im Sinne des § 86 Abs. 2 BVerfGG. Sehe der Senat von einer Anwendung des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB ab, so setze er sich in Gegensatz zu einer auf beachtliche Stimmen in der Literatur gestützten Auffassung, nach der § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fortgelte.
III.
1. Der Bundesminister der Justiz hat sich namens der Bundesregierung zum Vorlagebeschluß des Oberlandesgerichts Hamm (2 BvO 2/65) geäußert. In dem Verfahren 2 BvO 1/66 hat er auf diese Stellungnahme Bezug genommen.
Er ist der Ansicht, das Oberlandesgericht Hamm habe die Frage, ob die Fortgeltung des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht entscheidungserheblich sei, nicht zutreffend beurteilt. § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB und § 101 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 88 Abs. 8 BauO NW konkurrierten nicht miteinander: § 101 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 88 Abs. 8 BauO NW erfasse nur den Fall, daß eine Baugenehmigung erteilt, aber noch nicht zugestellt sei. Die Vorschrift greife jedoch nicht ein, wenn es an einer Genehmigung überhaupt fehle.
Im übrigen gelte § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht

BVerfGE 23, 113 (119):

fort (Art. 125 GG i.V.m. Art. 74 Nr. 1 GG). Die Kompetenz der Länder für die Regelung des Baurechts werde durch die Blankettnorm nicht berührt. Der Grundgesetzgeber habe die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das Strafrecht sicherlich nicht so eng fassen wollen, daß sie nicht einmal die im Strafgesetzbuch herkömmlich geregelten Materien umfasse.
2. Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen hat zum Vorlagebeschluß des Oberlandesgerichts Hamm für die Landesregierung vorgetragen:
Die Vorlage des Oberlandesgerichts Hamm sei zulässig. Die Vorschrift des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB konkurriere entgegen der Auffassung des Bundesministers der Justiz mit der Bestimmung des § 101 Abs. 1 Nr. 3 BauO NW. Der Tatbestand des § 101 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 88 Abs. 8 BauO NW erfasse auch diejenigen Fälle, in denen ein Bauherr ein Bauvorhaben durchführe, ohne einen Bauantrag gestellt zu haben.
Von einer Stellungnahme zu der Frage, ob § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fortgilt, hat der Ministerpräsident abgesehen.
3. Mitteilungen gemäß §§ 88, 82 Abs. 4 Satz 1 und 2 BVerfGG haben abgegeben: im Verfahren 2 BvO 2/65 der Bundesgerichtshof, das Oberlandesgericht Köln und das Oberlandesgericht Düsseldorf, im Verfahren 2 BvO 1/66 das Oberlandesgericht Karlsruhe.
a) Die Vorsitzenden des VII. Zivilsenats und des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs haben mitgeteilt, daß diese Senate das Grundgesetz in der streitigen Rechtsfrage bisher nicht ausgelegt haben.
b) Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Köln hat auf seinen Beschluß vom 12. Mai 1965 (JMBl. NW 1965,177 = NJW 1965, 1496 = JZ 1966, 74) hingewiesen. Er hält im Ergebnis an der in dieser Entscheidung vertretenen Auffassung fest, daß das Bauen ohne Baugenehmigung in Nordrhein-Westfalen nicht mehr als Übertretung gemäß § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB, sondern als Ordnungswidrigkeit gemäß § 101 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 88

BVerfGE 23, 113 (120):

Abs. 8 BauO NW zu ahnden ist. § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB habe als Bewehrung des Baupolizeirechts als Landesrecht fortgegolten, welches der nordrhein-westfälische Gesetzgeber dadurch abgeändert habe, daß er an die Stelle des landesrechtlichen Übertretungstatbestandes den Tatbestand der Ordnungswidrigkeit gemäß § 101 Abs. 1 Nr. 3 BauO NW gesetzt habe.
c) Der 1., 2. und 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf haben mitgeteilt, Entscheidungen dieser Senate zur Frage der Fortgeltung des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht lägen bisher nicht vor. Alle drei Senate haben sich jedoch dahin geäußert, daß sie im Gegensatz zur Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln vom 12. Mai 1965 der Auffassung sind, die fragliche Norm gelte als Bundesrecht fort.
d) Der Präsident des Oberlandesgerichts Karlsruhe hat mitgeteilt, der 1. Strafsenat habe sich mit dem Verhältnis von § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB zu § 112 LBO Bad.-Wttbg. in zwei Entscheidungen befaßt. Im Urteil vom 7. Oktober 1965 - 1 Ss 124/65 - (Die Justiz 1966, 47) sei die Frage, ob § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fortgelte, unentschieden geblieben, weil der Senat der Meinung gewesen sei, das in § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB unter Strafe gestellte ungenehmigte Bauen könne schon tatbestandsmäßig nicht den in § 112 LBO Bad.-Wttbg. aufgeführten Ordnungswidrigkeiten zugeordnet werden. Dieselbe Rechtsauffassung liege dem Urteil des Senats vom 20. April 1967 - 1 Ss 393/66 - zugrunde.
Der 3. Strafsenat sei in seinem Beschluß vom 7. September 1966 - 3 Ws (B) 18/66 - (Die Justiz 1966, 333) zu dem Ergebnis gekommen, § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB gelte als Bundesrecht fort.
IV.
Die Verfahren sind zur gemeinsamen Entscheidung verbunden worden, weil sie dieselbe Rechtsfrage zum Gegenstand haben.
 


BVerfGE 23, 113 (121):

B. - I.
Die Vorlagen sind zulässig.
1. Die Frage, ob § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fortgilt, ist für die Entscheidung des beim Oberlandesgericht Hamm anhängigen Verfahrens erheblich. Das Oberlandesgericht hält die Vorschrift des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB nur dann für anwendbar, wenn sie als Bundesrecht fortgilt. Für diesen Fall will das Gericht der Revision der Staatsanwaltschaft stattgeben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverweisen. Sei die Vorschrift dagegen nicht Bundesrecht geworden, so gelte sie im Lande Nordrhein-Westfalen nicht mehr fort. Der Angeklagte sei freizusprechen oder das Verfahren sei einzustellen.
Das Oberlandesgericht geht - wie der Zusammenhang des Vorlagebeschlusses ergibt - davon aus, daß ein Bauherr, der ohne Baugenehmigung baut, eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 101 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 88 Abs. 8 BauO NW begeht, daß diese Vorschriften mit § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB konkurrieren und daß die in einem späteren Gesetz enthaltene Ordnungswidrigkeit die Übertretung ersetzt hat. Dieser Auffassung des Oberlandesgerichts liegt ersichtlich die auch in der Stellungnahme des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen vertretene Erwägung zugrunde, für die Frage, ob ein Bauherr nach § 101 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 88 Abs. 8 BauO NW ordnungswidrig handelt, mache es keinen Unterschied, ob eine Baugenehmigung überhaupt fehlt oder ob eine solche zwar behördenintern erteilt, jedoch mangels Zustellung noch nicht wirksam geworden ist. Diese Auffassung ist jedenfalls nicht offensichtlich unhaltbar.
Die Rechtsfrage ist auch "streitig". Das Oberlandesgericht hat eingehend dargelegt, welche Erwägungen für und gegen eine Fortgeltung des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht sprechen. Es hält die Fortgeltung der Vorschrift als Bundesrecht für ernstlich zweifelhaft (vgl. BVerfGE 11, 89 [92 f.]).
2. Eine Gesamtwürdigung des Vorlagebeschlusses des Oberlandesgerichts Stuttgart, das auf den Beschluß des Oberlandes

BVerfGE 23, 113 (122):

gerichts Köln vom 12. Mai 1965 (NJW 1965, 1496) und auf den Vorlagebeschluß des Oberlandesgerichts Hamm (Verfahren 2 BvO 2/65) Bezug nimmt, ergibt, daß auch in diesem Verfahren die vorgelegte Rechtsfrage erheblich und streitig ist.
Im Falle einer Fortgeltung des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht hält das Oberlandesgericht die Bestrafung des Angeklagten durch das Amtsgericht für berechtigt und will die Revision verwerfen. Für den Fall, daß § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB nicht gemäß Art. 125 GG Bundesrecht geworden ist, gilt die Vorschrift nach Ansicht des Oberlandesgerichts seit dem Inkrafttreten der Landesbauordnung für Baden-Württemberg wegen deren § 112 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 95 Abs. 6 nicht mehr fort. Das Verhalten des Angeklagten sei dann als Ordnungswidrigkeit anzusehen und das Verfahren in Anwendung von § 2 Abs. 2 StGB einzustellen. Diese Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart ist nicht offensichtlich unhaltbar.
Streitig im Sinne des § 86 Abs. 2 BVerfGG ist die Rechtsfrage jedenfalls deshalb, weil das Oberlandesgericht, ginge es bei seiner Entscheidung davon aus, daß § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB nicht als Bundesrecht fortgilt, sich zu einer beachtlichen Meinung im Schrifttum in Widerspruch setzen würde.
II.
§ 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB gilt gemäß Art. 125 Nr. 1 GG als Bundesrecht fort. Die Vorschrift betrifft einen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes. Sie gehört zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Nr. 1 GG und galt im Zeitpunkt des ersten Zusammentretens des Bundestages am 7. September 1949 (vgl. BVerfGE 11, 23 [28]) in allen Besatzungszonen.
Dabei kann außer Betracht bleiben, ob auch die besonderen Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen, ob also ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung am 7. September 1949 bestand und noch besteht (BVerfGE 1, 283 [293 ff.]; 7, 18 [25]; 7, 330 [337]).


BVerfGE 23, 113 (123):

1. a) Der Tatbestand des § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB gehört zu einer Gruppe von Zuwiderhandlungen, die herkömmlich als "Polizeistrafrecht" vom "kriminellen" Unrecht unterschieden wurde. Gleichwohl hat der Reichstag des Norddeutschen Bundes diese Gruppe als besonderen Abschnitt "Übertretungen" in das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870 aufgenommen. In den Motiven des damaligen Entwurfs wird dargelegt, es solle ein "generischer Unterschied zwischen der Verletzung von kriminalrechtlichen und der von polizeirechtlichen Vorschriften" nicht gemacht werden. Auch das Polizeistrafrecht sei ein Teil des Strafrechts. Es sei bisher nicht gelungen, "die Grenzlinie zwischen dem kriminell und polizeilich Strafbaren zu finden". Der Besonderheit der Übertretungen gegenüber den Verbrechen und Vergehen solle jedoch durch die Bezeichnung der Freiheitsstrafe als "Haft" Rechnung getragen werden, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß "der Leumund" der wegen einer Übertretung verurteilten Person "in keiner Weise berührt werde" (vgl. Anl. Nr. 5 zu den Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Leg.Per., Sess. 1870, Dritter Band, 1870, S. 86 ff.).
Der Deutsche Reichstag hat das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund am 9. Mai 1871 im wesentlichen unverändert als "Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich" übernommen, ohne daß die Frage des "Polizeistrafrechts" bei den Beratungen zur Sprache kam (vgl. Sten.Ber. über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, I. Leg.Per., I. Sess. 1871, Erster Band, S. 571 ff. und 601). Bei dieser "straftechnischen Behandlung" der Übertretungstatbestände als Kriminalstrafrecht (vgl. Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1965, § 1 III A, S. 11) ist es seither geblieben.
Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das "Strafrecht" (Art. 74 Nr. 1 GG) geht auf Art. 4 Nr. 13 der Reichsverfassung von 1871 und auf Art. 7 Nr. 2 WRV zurück. In allen drei Verfassungen findet sich derselbe Begriff. Der Reichsgesetzgeber war nach der im staatsrechtlichen Schrifttum des Kaiserreichs und der

BVerfGE 23, 113 (124):

Weimarer Zeit herrschenden Lehre kraft dieser Kompetenz befugt, auch im Bereich des Polizei-(Verwaltungs-)strafrechts Straftatbestände zu schaffen.
    Vgl. Haenel, Deutsches Staatsrecht, Band 1 1892, S. 467; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Erl. 4 zu Art. 7; Grau, Festschrift für Ernst Heinitz, 1926 S. 358 [395 ff., 399]; Lassar, HdbDStR I, S. 301 [309 Anm. 45].-
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Parlamentarische Rat dem Begriff "Strafrecht" einen anderen Sinn beigegemessen hat als die herrschende Lehre der Weimarer Zeit.
Bei § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB liegt es also anders als bei den Bestimmungen über die Verjährung der Strafverfolgung von Pressedelikten, die der besonderen Gesetzgebungsmaterie "Presserecht" zuzurechnen sind (vgl. BVerfGE 7, 29 [38 ff.]).
b) Das Strafgesetzbuch ist ein einheitliches Gesetzgebungswerk; ungeachtet aller in Nebengesetze aufgenommenen Straftatbestände muß es dahin verstanden werden, daß alle in ihm enthaltenen Tatbestände strafrechtliches Unrecht konkretisieren. Der Grundgesetzgeber wollte mit der Aufnahme des Begriffs "Strafrecht" in Art. 74 Nr. 1 GG die Kompetenz des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung sicher nicht derart beschränken, daß sie nicht einmal die im Strafgesetzbuch herkömmlich geregelten Materien umfaßt.
Der Bundesgesetzgeber kann also, wenn er ein Verhalten als strafwürdig erachtet, jedenfalls im Bereich dieser Materien Straftatbestände schaffen, ohne dabei an die ihm sonst durch die Zuständigkeitskataloge gezogenen Grenzen gebunden zu sein (vgl. v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1964, Erl. IV 2 a zu Art. 74 GG; Maurach, a.a.O., § 1 III A und § 8 III B 1, S. 11 und 72 f.). Das gilt, was im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Januar 1962 (BVerfGE 13, 367 [371 ff.]) nicht zu entscheiden war, auch für Übertretungen. Das Bundesverfassungsgericht ist demgemäß in etlichen Entscheidungen davon ausgegangen, daß Geld- und Haftstrafen für Übertretungen

BVerfGE 23, 113 (125):

ebenso wie Strafen für Verbrechen und Vergehen Kriminalstrafen sind und daß also alle Übertretungen zum Kriminalstrafrecht gehören (vgl. BVerfGE 21, 378 [384 ff.]; 21, 391 [403 f.]; 22, 49 [78 ff.]; Beschluß vom 7. November 1967 - 2 BvL 14/67 - = BVerfGE 22, 311 [317]).
2. § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB ist ein Blankettstrafgesetz: der Tatbestand bedarf der Ausfüllung durch das jeweils anwendbare Bauordnungsrecht. Dieses gehört mit dein allgemeinen Polizeirecht zur Zuständigkeit der Länder (BVerfGE 3, 407 [433 f.]). Der Umstand, daß § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB der Durchsetzung von Bestimmungen dient, die zur Gesetzgebungskompetenz der Länder gehören, steht jedoch seiner Zugehörigkeit zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Nr. 1 GG nicht entgegen.
Im Schrifttum wird zwar die Auffassung vertreten, der Erlaß sogenannter unselbständiger Strafrechtsnormen, die dem Schutz außerstrafrechtlicher Regelungen dienen, gehöre wegen des Sachzusammenhangs zur Kompetenz des Gesetzgebers, dem auch die außerstrafrechtliche Regelung zustehe (Dreher, NJW 1952,1282, und ihm folgend u.a. Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 13. Aufl. 1967, § 367 Rn. 79a). Dieser Ansicht, die schon in der Entscheidung vom 31. Januar 1962 (BVerfGE 13, 367 [373]) abgelehnt worden ist, kann der Senat jedoch aus den vorstehend dargelegten Gründen nicht folgen.
Aus dem Grundgesetz können dagegen, daß der Bund Landesrecht mit einer Kriminalstrafe bewehrt, Bedenken nicht hergeleitet werden, weil dadurch die Kompetenz der Länder zur inhaltlichen Ausgestaltung des so geschützten Landesrechts nicht beeinträchtigt wird und erst recht nicht ausgehöhlt werden kann (BVerfGE 13, 367 [373]).
Auch im baurechtlichen Schrifttum geht man allgemein davon aus, § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB gelte als Bundesrecht fort (Scheerbarth, Allgem. Bauordnungsrecht, 2. Aufl. 1966, S. 422; Gädtke, Komm.z.BauO NW, Erl. zu § 88 Abs. 8 und § 101 Abs. 1 Nr. 3; Schlez, Komm.z.LBO Bad.-Wttbg., Rn. 1 u. 7 zu § 112; Stich,

BVerfGE 23, 113 (126):

JuS 1964, 381 [387]; Koschella, Bad.-Wttbg. Verwaltungsblatt 1962, 177 [179]).
3. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Strafgewalt der Finanzämter einen Kernbereich des Strafrechts, zu dem alle bedeutsamen Unrechtstatbestände gehören, und die minder gewichtigen strafrechtlichen Unrechtstatbestände unterschieden (BVerfGE 22, 49 [81]). Der Gesetzgeber könne in einer rechtspolitisch anderen Wertung des Unrechtsgehalts solche minder gewichtigen Straftatbestände ersetzen durch die Qualifizierung einer Verhaltensweise als bloße Ordnungswidrigkeit, die durch Buße geahndet wird (BVerfGE a.a.O. S. 78, 81). Zu diesen minder gewichtigen Straftatbeständen gehört auch § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB. Art. 154 des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (BTDrucks. V/1319) sieht als vorläufige Maßnahme vor, daß die Vorschrift nicht mehr anzuwenden ist, soweit andere Vorschriften den Tatbestand mit Geldbuße bedrohen. Das künftige Strafgesetzbuch soll nach den Vorstellungen der Bundesregierung Übertretungstatbestände nicht mehr enthalten. Diese sollen, soweit sie nicht als Vergehen eingestuft werden, in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt werden (vgl. Einl. A der Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, BT-Drucks. V/1269, S. 22).
4. Gilt § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB als Bundesrecht fort, so konnten landesrechtliche Bestimmungen die Vorschrift nicht außer Kraft setzen. Die Frage, ob § 101 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 88 Abs. 8 BauO NW und § 112 Abs. 1 Nr. 6 in Verbindung mit § 95 Abs. 6 LBO Bad.-Wttbg. gültig sind, hatte der Senat nicht zu entscheiden.
5. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Seuffert, Henneka, Dr. Leibholz, Geller, Dr. Rupp, Dr. Geiger, Dr. Kutscher