BVerfGE 40, 11 - Wahlprüfung
 


BVerfGE 40, 11 (11):

Beschluß
des Zweiten Senats vom 3. Juni 1975 gemäß § 24 BVerfGG
- 2 BvC 1/74 -
in dem Verfahren über die Beschwerde des Herrn Dr. Sch... gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 22. Mai 1974 - Az. 31/72 (BTDrucksache 7/1956) - wegen Einspruchs gegen die Gültigkeit der Wahl zum 7. Deutschen Bundestag vom 19. November 1972.
Entscheidungsformel:
 
Gründe
 
A. - I.
Der Beschwerdeführer hat als Wahlberechtigter Einspruch gegen die Wahl zum 7. Deutschen Bundestag vom 19. November 1972 erhoben und zur Begründung vorgetragen:
1. Als erheblichen Mangel der Wahlvorbereitungen rüge er die Praxis, kraft derer Berliner Bürger durch Begründung von Scheinwohnsitzen im Wahlgebiet an der Wahl zum Bundestag teilnehmen konnten. Wörtlich hat er hierzu ausgeführt: "Wie sich aus vielfachen Presseberichten vor der Bundestagswahl ergeben hat, haben die Manipulationen mit den Berliner Scheinwohnsitzen (u. a. im Landkreis Siegen und im Landkreis Bühl sowie in Recklinghausen und anderswo) einen Umfang angenommen, der eine Verfälschung des Stimmenergebnisses (vor allem des Erststim

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menergebnisses) in einigen Wahlkreisen Nordrhein-Westfalens und Baden-Württembergs als wahrscheinlich erscheinen läßt." Zum Beweis hat er sich auf die Vernehmung der vom zuständigen Innenministerium zu benennenden "betreffenden Kreiswahlleiter" berufen.
2. Eine amtliche gesetzwidrige Wahlbeeinflussung sei darin zu erblicken, daß zwölf Parlamentarische Staatssekretäre, die mit der Auflösung des 6. Deutschen Bundestages ihr Mandat verloren hätten, entgegen der eindeutigen Regelung im Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre im Amt geblieben seien und mit Dienstwagen, Fahrer und persönlichen Referenten sowie durch unzulässige Führung der Amtsbezeichnung auf Wahlplakaten Wahlpropaganda zugunsten der Regierungsparteien betrieben hätten.
3. Eine amtliche Wahlbeeinflussung habe auch darin gelegen, daß der Bundeskanzler und Minister der SPD in der Zeit vor der Bundestagswahl Ansprachen vor Belegschaftsversammlungen gehalten hätten. § 74 Abs. 2 Satz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes begründe die Verpflichtung zur Unterlassung jeder parteipolitischen Tätigkeit im Betrieb seinem Wortlaut nach zwar nur für die Arbeitgeber und die Betriebsräte, seinem Sinngehalt nach aber für alle politisch Tätigen. Daher hätten der Bundeskanzler und die Minister durch eigenes Handeln zur Verletzung des Verbots parteipolitischer Betätigung im Betrieb beigetragen, indem sie den Einladungen zu Ansprachen vor Belegschaftsversammlungen gefolgt seien.
4. Als unzulässige amtliche Wahlbeeinflussung sei es ferner anzusehen, daß der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sein Jahresgutachten gesetzwidrig nicht bis spätestens 15. November 1972 der Bundesregierung zwecks Weiterleitung und Veröffentlichung zugeleitet habe. Der Sachverständigenrat müsse trotz seiner Unabhängigkeit insoweit der Exekutive zugerechnet werden, und die Bundesregierung müsse sich den Gesetzesverstoß zurechnen lassen, weil sie eben nicht in der Lage gewesen sei, das Gutachten unverzüglich

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nach dem 15. November 1972 zu veröffentlichen. Da Wirtschaftsfragen das Hauptthema des Wahlkampfes gewesen seien, hätte die Aussage der Sachverständigen bei Bekanntwerden in der Öffentlichkeit unmittelbar nach dem 15. November 1972 noch großen Einfluß auf den Wahlausgang haben können.
5. Die Rundfunk- und Fernsehanstalten hätten entgegen ihrer Verpflichtung zu unabhängiger und objektiver Berichterstattung einseitig zugunsten der Regierungsparteien Stellung bezogen. So sei in der Tagesschausendung des Ersten Fernsehprogramms (WDR) am 3. November 1972 gegen 18.10 Uhr anläßlich einer Erläuterung der Briefwahlunterlagen auf dem Bildschirm ein Wahlzettel gezeigt worden, auf dem die zur Erklärung der Erst- und Zweitstimme angebrachten Pfeile jeweils direkt in die erste, die SPD bezeichnende Rubrik gewiesen hätten.
6. In einer Stellungnahme vom 25. Juni 1973 zur Frage der Scheinwohnsitze der Berliner (künftig: Scheinwohnsitze) hat der Beschwerdeführer ausgeführt, dieses Problem sei nach allgemeinen Angaben in verschiedenen Wahlkreisen von Bedeutung gewesen; der Wahlprüfungsausschuß müsse ihm daher gemäß der Amtsmaxime über die konkret genannten Wahlkreise hinaus im gesamten Wahlgebiet nachgehen. Mit Schreiben vom 22. Oktober 1973 hat der Beschwerdeführer betont, sein Einspruch beziehe sich nicht nur auf die drei namentlich genannten Wahlkreise, sondern sei umfassend zu verstehen. Gemäß Pressemeldungen seien z. B. auch in Duisburg seiner Zeit solche Scheinwohnsitze festgestellt worden. Er hat beantragt, zur Aufklärung des gesamten Sachverhalts eine schriftliche Auskunft der Berliner Meldebehörden über die Begründung von Zweitwohnsitzen Berliner Bürger in der Bundesrepublik im Zeitraum vom 22. September bis 19. November 1972 einzuholen.
Zum Prüfungsmaßstab hat der Beschwerdeführer ausgeführt, es könne nicht nur darauf abgehoben werden, ob durch die festgestellten Wahlfehler eine Verschiebung der Sitzverteilung im Parlament möglich sei. Vielmehr sei eine Überprüfung auch des reinen Stimmenergebnisses auf seine Richtigkeit schon deshalb

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geboten, weil die Erstattung der Wahlkampfkosten gesetzlich an die Zahl der Zweitstimmen geknüpft sei.
II.
Der Wahlprüfungsausschuß des Deutschen Bundestages hat zur Frage der Scheinwohnsitze am 5. November 1973 eine mündliche Verhandlung durchgeführt.
1. Gegenstand der Prüfung war die unberechtigte Teilnahme Berliner Bürger an der Bundestagswahl. § 54 BWG in Verbindung mit den §§ 15 Abs. 1 Satz 2 und 3, 82 BWO gewährt Bürgern mit Hauptwohnsitz in Berlin und Zweitwohnung in einem Bundesland außerhalb Berlins das Wahlrecht zu Bundestagswahlen.
§ 15 Abs. 1 BWO lautet:
    In das Wählerverzeichnis werden alle Wahlberechtigten eingetragen, die am 35. Tage vor der Wahl (Stichtag) für einen Wahlbezirk bei der Meldebehörde angemeldet sind. Hat ein aus einer anderen Gemeinde des Wahlgebiets zugezogener Wahlberechtigter bei der Anmeldung angegeben, daß er seine bisherige Wohnung beibehält, so wird er nur dann in das Wählerverzeichnis eingetragen, wenn er bei der Anmeldung oder nachträglich bis zum Ablauf der Auslegungsfrist der Meldebehörde ausdrücklich erklärt hat, daß er am neuen Wohnort seine Hauptwohnung habe. In diesem Falle benachrichtigt die Gemeindebehörde die für die bisherige Hauptwohnung zuständige Gemeindebehörde, die den Wahlberechtigten in ihrem Wählerverzeichnis streicht.
§ 82 BWO lautet:
    Solange § 54 des Gesetzes in Kraft ist, gilt § 15 Abs. 1 Satz 2 und 3 nicht für Wahlberechtigte, die bei der Anmeldung angegeben haben, daß sie ihre bisherige Wohnung im Land Berlin beibehalten.
§ 54 BWG ist noch in Kraft.
Da das Bundeswahlgesetz einen besonderen Begriff des Wahlwohnsitzes nicht kennt, kam es zu unterschiedlicher Auslegung dieser Bestimmungen durch Behörden und Wahlorgane.
a) Nach der einen, unter anderem vom Bundesminister des Innern vertretenen Auffassung bestimmt sich der Wohnsitz auch

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im Sinne des Wahlrechts nach den §§ 7 ff. BGB. Hiernach wird die Wahlteilnahme Berliner Bürger gemäß § 82 BWO nur für zulässig gehalten, wenn ein Wohnsitz im Sinne des BGB in einem der Bundesländer außerhalb Berlins begründet worden ist.
b) Nach einer anderen, u.a. vom Innenminister und vom Landeswahlleiter des Landes Nordrhein-Westfalen vertretenen Ansicht muß eine Nebenwohnung im Sinne der melderechtlichen Vorschriften bezogen sein; für eine ordnungsgemäße Anmeldung im Sinne des § 82 BWO in Verbindung mit § 15 BWO genügt das Beziehen einer Wohnung oder die Begründung eines nicht nur ganz kurzfristigen Aufenthalts. Dagegen reicht die nur formelle Erfüllung der melderechtlichen Vorschriften lediglich zum Zweck der Wahlteilnahme nicht aus, das Wahlrecht zu begründen.
c) Eine dritte, vom Oberstadtdirektor der Stadt Siegen vertretene Auffassung läßt die melderechtliche Anmeldung für sich allein genügen. Hiernach bleibt es dem Wohnungsnehmer überlassen, wann und in welchem Umfang er die Nebenwohnung in Anspruch nimmt. Die Dauer des Wohnens wird ebenso für unbeachtlich gehalten wie das Motiv der Wohnungsnahme.
In Pressemitteilungen und in der Fernsehsendung "Report" am 13. November 1972 wurde berichtet, es hätten sich in größerem Umfang Berliner Bürger nur zum Zweck der Wahlteilnahme mit Nebenwohnung in einem Bundesland außerhalb Berlins angemeldet oder anmelden lassen, ohne dort Wohnung oder Aufenthalt zu nehmen. Sie seien in die Wählerverzeichnisse eingetragen worden und hätten Briefwahlunterlagen erhalten. Verschiedentlich habe es sich um Sammelanmeldungen durch dritte Personen gehandelt.
2. Der Landeswahlleiter des Landes Baden-Württemberg wies die Kreiswahlleiter mit Fernschreiben vom 16. November 1972 auf das bei Scheinwohnsitzen zu Veranlassende hin und bat um Unterrichtung der Gemeinden. Der Kreiswahlleiter des Wahlkreises 193 (Rastatt), zu dem der vom Beschwerdeführer genannte frühere Landkreis Bühl gehört, leitete das Fernschreiben allen

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Bürgermeisterämtern des Wahlkreises zu. Daraufhin wurden in der Gemeinde Achern vier und in der Gemeinde Kappelrodeck acht Berliner Bürger mit mutmaßlichem Scheinwohnsitz aus dem Wählerverzeichnis gestrichen. Weitere Fälle von Scheinwohnsitzen im Wahlkreis 193 konnten nach dem Bericht des Landeswahlleiters vom 28. Mai 1973 nicht nachgewiesen werden.
3. Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen bat die Oberkreisdirektoren und Oberstadtdirektoren des Landes mit fernschriftlichem Runderlaß vom 14. November 1972 um die Aufnahme von Ermittlungen in allen Fällen, in denen Anzeichen für eine Scheinanmeldung vorlägen. Er bezog sich dabei auf seine Runderlasse vom 2. und 17. Oktober 1972, in denen als Voraussetzung der Eintragung in das Wählerverzeichnis die "Begründung von Wohnung oder Aufenthalt und ordnungsgemäße Anmeldung am Ort der Nebenwohnung" bezeichnet worden waren.
Der Landeswahlleiter des Landes Nordrhein-Westfalen, bei dem schon zuvor ebenso wie beim zuständigen Referat des Innenministeriums zahlreiche fernmündliche Anfragen aus allen Landesteilen über die Auslegung der §§ 15, 82 BWO eingegangen waren, bat durch Fernschreiben vom 14. November 1972 die Kreiswahlleiter dringend um ihr persönliches Engagement bei der Prüfung und um sofortige fernmündliche Unterrichtung in den Fällen, in denen Unregelmäßigkeiten festzustellen seien.
Der Oberkreisdirektor in Siegen als Kreiswahlleiter des Wahlkreises 125 (Siegen-Wittgenstein) wies durch Schreiben vom 14. November 1972 die Stadt-, Amts- und Gemeindedirektoren unter Bezugnahme auf die Fernsehsendung vom 13. November 1972 auf die genaue Beachtung der Runderlasse hin und bat mit Schreiben vom 15. November 1972 um sofortige fernmündliche Unterrichtung bei der Feststellung von Unregelmäßigkeiten bei der Begründung einer Wohnung, ferner um eingehenden schriftlichen Bericht bis spätestens 17. November 1972 über etwa festgestellte Unregelmäßigkeiten und über das daraufhin im Einzelfall Veranlaßte.
Der Oberstadtdirektor der Stadt Siegen vertrat vor der Presse

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die Auffassung, für die Eintragung in das Wählerverzeichnis genüge die bloße Anmeldung; eine Überprüfung nach dem Melderecht sei untunlich. Dieser Ansicht lag eine Kommentierung zu § 6 des Meldegesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Mai 1960 (GVBl. NW S. 81) zugrunde. Die Vorschrift lautet: "Wer in einer Gemeinde im Inland wohnt und sich besuchsweise in einer anderen Gemeinde bei Verwandten oder Bekannten aufhält, braucht sich in der Besuchsgemeinde erst zu melden, wenn sein Aufenthalt die Dauer von zwei Monaten überschreitet." Der Oberstadtdirektor verstand die Vorschrift als Ausnahmebestimmung dahin, daß diejenigen, die sich nicht länger als zwei Monate am Besuchsort aufhalten, zur Meldung nicht verpflichtet seien; dagegen besage sie ebensowenig wie eine andere Norm des Meldegesetzes, daß bei kürzerem Aufenthalt keine Berechtigung zur Anmeldung bestehe.
Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen trat mit Fernschreiben vom 16. November 1972 der vor der Presse geäußerten Rechtsansicht des Oberstadtdirektors entgegen und wies ihn an, auf der Grundlage des Runderlasses vom 14. November 1972 zu verfahren.
Der Oberstadtdirektor berichtete unter dem 17. November 1972 dem Kreiswahlleiter, es sei nach dem Runderlaß verfahren worden. Allerdings sei der Begriff "Aufenthalt" melderechtlich nicht genau zu fixieren, da er teilweise im subjektiven Bereich liege. Für theoretisch mögliche Scheinanmeldungen könne in der Praxis ein Nachweis kaum geführt werden. Er sei der Ansicht, daß es dem Wohnungsnehmer überlassen bleibe, wann und in welchem Umfang er die Nebenwohnung in Anspruch nehme. Bei den durchgeführten Einzelprüfungen hätten die Wohnungsgeber unwiderlegbare Begründungen für eine Aufenthaltnahme der Berliner gegeben, so daß der Beweis einer Scheinanmeldung nicht zu erbringen sei. Der Oberstadtdirektor bat um Weisung, was weiter zu veranlassen sei.
Der Kreiswahlleiter erwiderte noch am selben Tage, der Ober

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stadtdirektor möge in eigener Zuständigkeit entscheiden und dabei die ministeriellen Erlasse vom 2. und 17. Oktober 1972 sowie 14. November 1972 beachten.
Die bis zur Bundestagswahl vom Hauptamt der Stadt Siegen vorgenommene Überprüfung ergab insgesamt 169 Zweitanmeldungen durch Berliner Bürger in der Zeit nach dem 22. September 1972. 89 Anmeldungen wurde nicht weiter nachgegangen, da keine Anhaltspunkte für eine Scheinanmeldung vorgelegen hätten. Die übrigen 80 Personen wurden teils durch persönliche Befragung, teils durch mündliche oder fernmündliche Erkundigung bei den Wohnungsgebern überprüft. Entsprechend der Rechtsansicht des Oberstadtdirektors wurde dabei die Erklärung der Wohnungsgeber, der Berliner sei zwar derzeit nicht anwesend, komme aber noch, für ausreichend gehalten, das Vorliegen einer bloßen Scheinanmeldung zu verneinen. Daher wurden im Wählerverzeichnis für den Stadtbezirk Siegen keine Streichungen vorgenommen.
Aus einer Reihe von Städten und Gemeinden des Wahlkreises 125 gingen beim Kreiswahlleiter neben einigen Fehlanzeigen Berichte ein, wonach etwa 110 Personen in den Wählerverzeichnissen gestrichen worden waren, weil die Überprüfung die Begründung bloßer Scheinwohnsitze ergeben hatte.
4. Im Wahlkreis 100 (Recklinghausen-Stadt) wurden auf Grund des Runderlasses vom 14. November 1972 insgesamt 165 Berliner Bürger, die nach dem 22. September 1972 einen Zweitwohnsitz angemeldet hatten, wegen bloßer Scheinanmeldung im Wählerverzeichnis gestrichen; die ausgestellten 157 Wahlscheine wurden für ungültig erklärt.
5. Die Staatsanwaltschaften in Osnabrück, Trier und Siegen leiteten verschiedene Ermittlungsverfahren gegen Berliner Bürger mit Zweitwohnsitz in einem Bundesland außerhalb Berlins wegen Verdachts der Wahlfälschung gemäß § 107a StGB ein.
Die Ermittlungen in Osnabrück ergaben, daß die vier beschuldigten Personen rechtzeitig im Wählerverzeichnis der Meldegemeinde gestrichen worden waren. Ebenso war in den sieben in Trier überprüften Fällen verfahren worden; die bereits eingegan

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genen Wahlbriefe waren nicht geöffnet, die Stimmen nicht gezählt worden.
Bei der Staatsanwaltschaft Siegen wurden bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 275 Berliner Bürger anhängig. Der Sachbearbeiter wandte sich mit Schreiben vom 15. November 1972 an alle Stadt- und Gemeindedirektoren des Wahlkreises 125 und bat jeweils um Übersendung einer Aufstellung aller Berliner, die seit dem 1. Januar 1972 einen Zweitwohnsitz angemeldet hatten, ferner um Auskunft, wo sie wohnten, ob sie ins Wählerverzeichnis eingetragen worden seien und Briefwahl beantragt hätten. Außerdem bat der Staatsanwalt um Feststellung bei den Einwohnermeldeämtern, ob die Berliner Bürger sich selbst angemeldet hätten oder durch Dritte angemeldet worden seien, und ob es zu Sammelanmeldungen gekommen sei. Die auf die entsprechenden Auskünfte gestützten Ermittlungen ergaben, daß etwa 110 von den insgesamt 275 Personen in den Wählerverzeichnissen der Städte und Gemeinden außerhalb der Stadt Siegen gestrichen worden waren (hierbei handelte es sich um den schon in den Berichten an den Kreiswahlleiter genannten Personenkreis). In fünf Fällen war zur Zeit der mündlichen Verhandlung noch nicht aufgeklärt, ob es sich um Scheinwohnsitze gehandelt hatte. 157 Verfahren richteten sich gegen Personen mit Zweitanmeldung in der Stadt Siegen; in acht Fällen lagen Anhaltspunkte für einen echten Zweitwohnsitz vor. In der mündlichen Verhandlung vor dem Wahlprüfungsausschuß betonte der Staatsanwalt ausdrücklich, es handele sich um vorläufige Erkenntnisse im Rahmen der noch nicht abgeschlossenen Ermittlungen; allerdings halte er das ihm von den örtlichen Behörden überlassene Material für vollständig.
6. Auf Aufforderung des Wahlprüfungsausschusses unterzog der Kreiswahlleiter des Wahlkreises 125 den Komplex der Scheinwohnsitze in der Stadt Siegen einer besonderen Prüfung. Sie ergab nach seinem Bericht vom 11. Juli 1973, daß von den insgesamt 250 Personen mit Nebenwohnsitz in Siegen und Hauptwohnung in Berlin 191 gewählt hatten, davon sieben im zustän

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digen Wahllokal, die übrigen per Briefwahl. Nach dem Bericht des Oberstadtdirektors in Siegen vom 25. Juni 1973 hatten insgesamt 83 Personen ihren Zweitwohnsitz schon vor dem 30. Juni 1972 angemeldet und waren daher keiner Überprüfung unterzogen worden. Bei 77 Personen mit späterer Anmeldung habe sich die Echtheit des Wohnsitzes durch persönliche Anwesenheit des Berliner Bürgers bzw. durch mündliche oder fernmündliche Auskunft des Wohnungsgebers ermitteln lassen. In den 80 restlichen Fällen sei eine Überprüfung in der Kürze der Zeit nicht mehr möglich oder mangels Anhaltspunkten für eine Scheinanmeldung nicht veranlaßt gewesen.
7. Der Landeswahlleiter des Landes Nordrhein-Westfalen bekundete in der mündlichen Verhandlung, aus den ihm übermittelten fernmündlichen Berichten der Gemeinden über die im Runderlaß vom 14. November 1972 angeordneten Ermittlungen habe er von höchstens 1000 überprüfungswürdigen Fällen im gesamten Bundesland erfahren. Bis auf den Bereich der Stadt Siegen seien sie praktisch alle auf der Grundlage der im Runderlaß vertretenen Auslegung des § 82 Bundeswahlordnung gelöst worden. Dies sei für ihn einer der Gründe gewesen, nach der Wahl keine Berichte der Kreiswahlleiter mehr anzufordern und von einem Wahleinspruch in amtlicher Eigenschaft abzusehen.
8. Nach Auskunft des Bundeswahlleiters erbrachten die im Wahlkreis 125 (Siegen-Wittgenstein) abgegebenen Erststimmen dem Kandidaten der SPD einen Vorsprung von 26 327 Stimmen vor dem nächst Unterlegenen.
Zu einer Verschiebung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag nach dem Zweitstimmenergebnis auf Bundesebene käme es nur unter folgenden Voraussetzungen:
a) Wenn - bei unveränderter Stimmenzahl für die anderen Parteien - die FDP 81 576 Zweitstimmen verlöre, ginge ein Sitz von ihr an die SPD.
b) Bei Abzug von 34 792 Stimmen am Zweitstimmenergebnis der SPD und im übrigen unveränderter Stimmenzahl fiele ein Sitz von der SPD an die FDP.


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c) Dagegen würde die CDU schon dann einen Sitz an die FDP verlieren, wenn von ihrem Zweitstimmenergebnis 199 Stimmen abzuziehen wären und die Stimmenzahl für die anderen Parteien unverändert bliebe.
III.
Der Deutsche Bundestag hat den Einspruch in seiner 103. Sitzung am 22. Mai 1974 zurückgewiesen. Er hat an dem Grundsatz festgehalten, daß das Wahlprüfungsverfahren nur der Erzielung der gesetzmäßigen Zusammensetzung des Bundestages diene, und daß nur solche Wahlfehler beachtlich seien, die auf die Mandatsverteilung von Einfluß seien oder sein könnten. Die Prüfung anhand dieses Grundsatzes habe ergeben, daß der Einspruch unbegründet sei.
1. Zum Komplex der Scheinwohnsitze ist festgestellt worden, daß durch die verschiedene Auslegung des § 82 BWO in Verbindung mit § 15 BWO eine nicht nur subjektiv unklare Rechtslage entstanden sei, die unverzüglich durch Maßnahmen des Gesetzgebers oder auf dem Verordnungswege einer Klärung zugeführt werden müsse. Der Bundestag hat die Auffassung vertreten, daß einem Berliner Bürger die Wahlberechtigung in einem Bundesland außerhalb Berlins nach den genannten Vorschriften nur dann gewährt werden könne, wenn er zumindest nicht nur ganz vorübergehend Aufenthalt in der Bundesrepublik genommen habe; die bloße melderechtliche Anmeldung zum Zweck der Wahlteilnahme außerhalb Berlins genüge nicht zur Begründung des Wahlrechts. Die Eintragung solcher Berliner Bürger, die nur formell die melderechtlichen Vorschriften erfüllt hätten, in das Wählerverzeichnis sei daher unzulässig und ihre Teilnahme an der Wahl aufgrund dieser Eintragung fehlerhaft gewesen. Hiernach könne insbesondere auf der Grundlage der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nicht ausgeschlossen werden, daß im Wahlkreis 125 (Siegen-Wittgenstein) etwa 155 Berliner Bürger aufgrund Scheinwohnsitzes unberechtigt an der angefochtenen Bundestagswahl teilgenommen hätten. Diese möglicherweise 155 ungültigen Stimmen seien aber auf das Wahlergebnis sowohl be

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züglich der Erst- als auch der Zweitstimmen (beim hier maßgeblichen Bundesergebnis) ohne Einfluß gewesen. Hinsichtlich der Zweitstimmen gelte das vom rein Rechnerischen abgesehen um so mehr, als keinesfalls davon ausgegangen werden könne, daß eine Partei (CDU) die besonders "begünstigte" durch die ungültigen Stimmen gewesen wäre. Soweit in den Wahlkreisen 100 (Recklinghausen-Stadt) und 193 (Rastatt unter Einschluß des früheren Landkreises Bühl) möglicherweise Scheinwohnsitzanmeldungen vorgelegen hätten, sei es nicht zu einer unberechtigten Wahlteilnahme gekommen, weil die fraglichen Berliner Bürger im Wählerverzeichnis gestrichen worden seien.
Zu einer Ausdehnung der Wahlprüfung über die drei im Einspruch ausdrücklich bezeichneten Wahlkreise hinaus habe kein Anlaß bestanden. Durch § 2 WPrüfG sei an die Stelle des früheren Offizialprinzips und des Totalitätsprinzips das Anfechtungsprinzip getreten. Hiernach erfolge die Prüfung der Wahlen nur auf Einspruch und nur insoweit, als sie durch den Einspruch angefochten seien. Nur im Rahmen des vom Einspruchsführer bestimmten Streitgegenstands sei der Tatbestand von Amts wegen zu erforschen. Hier sei der Formulierung des Einspruchs im ganzen zu entnehmen, daß er durch die Benennung dreier Wahlkreise konkretisiert bzw. substantiiert worden sei. Wenn demgegenüber unterstellt werde, daß eine Nachprüfung der gesamten Bundestagswahl unter dem Gesichtspunkt unzulässiger Teilnahme Berliner Bürger beantragt worden sei, dann fehle dem Einspruch über die drei benannten Wahlkreise hinaus die nach dem Anfechtungsprinzip erforderliche Substantiierung. Es gehe nicht an, daß Bundestagswahlen mit nichtsubstantiierten Gründen generell angefochten würden. Die gebotene Nachprüfung aller von Amts wegen auftauchenden rechtserheblichen Tatsachen im durch den Einspruch abgesteckten Rahmen habe sich daher darauf beschränken können, bei den vom Generalstaatsanwalt in Berlin als ermittlungsführend benannten Staatsanwaltschaften Auskünfte über mögliche unzulässige Wahlteilnahme Berliner Bürger mit bloßen Scheinwohnsitzen einzuholen. Zu einer weiter

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gehenden Nachprüfung, etwa durch Nachfrage bei allen Kreiswahlleitern, habe schon im Hinblick auf das amtliche Einspruchsrecht der Landeswahlleiter gemäß § 2 Abs. 2 WPrüfG kein Anlaß bestanden. Dieses Recht begründe zugleich eine Verpflichtung. Es könne davon ausgegangen werden, daß die Landeswahlleiter dieser Pflicht zur Einlegung eines Einspruchs nachgekommen wären, wenn sie in größerem Maß von Wahlfehlern in ihren Bereichen Kenntnis erlangt hätten. Dem Begehren des Beschwerdeführers, eine Auskunft der Berliner Meldebehörden einzuholen, sei daher nicht zu folgen gewesen, und zwar um so weniger, als aus einer solchen Auskunft kein hinreichender Anhaltspunkt für eine unzulässige Teilnahme an der Wahl zu gewinnen sei.
Im übrigen könne die etwaige Feststellung von mehr als 199 ungültigen Stimmen ohnehin nicht schon eine Erheblichkeit des Wahlfehlers begründen. Bie der Verrechnung der Zweitstimmen könne nämlich nicht eine schematische, rein rechnerische Betrachtungsweise Platz greifen derart, daß von einer Erheblichkeit dann zu sprechen wäre, wenn alle ungültigen Stimmen dem Unterlegenen zuzurechnen und dem Gewinner abzuziehen wären. Vielmehr müsse die Möglichkeit oder gar Wahrscheinlichkeit bestehen, daß die ungültigen Stimmen ausschließlich oder überwiegend dem Unterlegenen bzw. einer Partei zugute gekommen seien.
2. Die Nichtentlassung der Parlamentarischen Staatssekretäre habe nicht zu einer amtlichen Wahlbeeinflussung im Sinne einer Beeinträchtigung der Wahlfreiheit und der Wahlgleichheit geführt. Der aktive Einsatz Parlamentarischer Staatssekretäre im Wahlkampf widerspreche nicht dem Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen der Parteien. Sei er aber an sich legitim, dann könne die Nichtentlassung nur für den Fall als Verstoß gegen wahlrechtliche Bestimmungen gewertet werden, daß durch den Einsatz der Parlamentarischen Staatssekretäre einschließlich der Inanspruchnahme aller mit diesem Amt verbundenen Vorteile der Grundsatz der Wahlgleichheit verletzt worden wäre. Die Entscheidung der Frage, ob die Parlamentarischen Staats

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sekretäre mit der Auflösung des Bundestages ihr Amt verloren hätten, sei nicht Gegenstand der Wahlprüfung, die sich vielmehr auf die Prüfung zu beschränken habe, ob ihr Einsatz und der damit eventuell verbundene Vorsprung an Autorität und Mitteln geeignet gewesen sei, die Chancengleichheit der Parteien zu verletzen. Das sei im Ergebnis zu verneinen, weil der etwa gegebene Vorsprung durch die öffentlich geführte Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Verbleibens im Amt weitestgehend neutralisiert worden sei.
3. Ansprachen des Bundeskanzlers und einiger Minister der SPD vor Belegschaftsversammlungen aufgrund gemeinsamer Einladungen des Arbeitgebers und des Betriebsrats könnten den Einspruch gleichfalls nicht begründen. Auf die Auslegung des § 74 Abs. 2 BetrVerfG komme es nicht an. Unter dem Gesichtspunkt der Wahlprüfung sei lediglich relevant, ob durch derartige Versammlungen die Wahlfreiheit von Betriebsangehörigen oder die Chancengleichheit der Parteien verletzt worden seien. Es fehle aber - auch nach dem Vortrag des Beschwerdeführers - jeder Anhaltspunkt, daß auf Betriebsangehörige direkter oder indirekter Zwang zur Teilnahme an den Versammlungen ausgeübt oder daß den Vertretern anderer Parteien nicht die gleiche Chance zu solchen Ansprachen eingeräumt worden wäre.
4. Die verspätete Veröffentlichung des Jahresgutachtens des Sachverständigenrates könne nicht der Bundesregierung angelastet werden. Wenn sie überhaupt geeignet gewesen sei, Einfluß auf das Wahlergebnis auszuüben, könne dieser Einfluß nicht unbedingt zugunsten oder zuungunsten der einen oder anderen politischen Partei eingeordnet werden. Aus dem großen Interesse der Öffentlichkeit an dem Übergabetermin sei vielmehr zu folgern, daß jede politische Richtung in der Verzögerung der Vorlage ihre Auffassung bezüglich der politischen Entwicklung bestätigt gesehen habe; dies gelte in gleichem Umfang für die Wähler.
5. Durch die Erläuterung der Wahlunterlagen in der beanstandeten Form habe zwar eine öffentlich-rechtliche Anstalt in

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unzulässiger Weise in den Wahlkampf eingegriffen. Es widerspreche nämlich dem den Rundfunkanstalten auferlegten Grundsatz der Unparteilichkeit, wenn auch nur der Anschein erweckt werde, daß mit der technischen Erläuterung Wahlpropaganda für eine Partei betrieben werde. Indessen habe der Wahlfehler keinen derartigen Einfluß auf das Gesamtwahlergebnis gehabt oder haben können, daß dadurch die Sitzverteilung beeinflußt worden wäre. Denn während des Wahlkampfes sei von allen politischen Parteien und darüber hinaus von vielen politischen Gruppierungen auf die Bedeutung der Erst- und Zweitstimmen hingewiesen worden.
6. Die festgestellten einzelnen Wahlfehler seien auch in ihrer Gesamtheit einschließlich der übrigen vom Beschwerdeführer vorgetragenen Behauptungen nicht geeignet, dem Einspruch zum Erfolg zu verhelfen.
Die Anknüpfung der Wahlkampfkostenerstattung an die Zahl der Zweitstimmen könne nicht zu einer Überprüfung auf Verschiebung der reinen Stimmenergebnisse führen. Durch § 18 PartG sei der Umfang der Wahlprüfung nicht erweitert worden.
IV.
Gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 22. Mai 1974 hat der Beschwerdeführer mit einer am 20. Juni 1974 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Schrift Beschwerde erhoben. Die Beschwerde wird von 112 Wahlberechtigten unterstützt.
1. Zum Komplex der Scheinwohnsitze rügt der Beschwerdeführer, der Bundestag habe die erforderliche Aufklärung des Sachverhalts nicht vorgenommen. Der Einspruch habe sich auf diesen bundesweiten Wahlfehler schlechthin bezogen, nicht nur auf die drei exemplarisch aufgezählten Wahlkreise. Durch die bundesweit gefaßte Anfechtung sei als Streitgegenstand eine umfassende Überprüfung der Wahl unter dem Gesichtspunkt der Scheinwohnsitze vorgegeben gewesen. Die einengende Auslegung

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des Anfechtungsgegenstands durch den Bundestag sei ebensowenig vertretbar wie die - übrigens in den Beschlußgründen erstmals und im Gegensatz zu der mündlichen Verhandlung hervorgehobene - Auffassung, der Einspruch sei nicht hinreichend substantiiert. Über die Rüge einer Verfälschung des Wahlergebnisses durch die bundesweite Manipulation mit den Scheinwohnsitzen hinaus sei eine weitergehende Substantiierung nicht möglich gewesen und auch heute nicht möglich. Dies habe auch der Wahlprüfungsausschuß zunächst schlüssig anerkannt, indem er z. B. die nicht ausdrücklich benannten Wahlkreise Osnabrück und Trier in die Prüfung einbezogen und sich außerdem eines nicht angebotenen Beweismittels, nämlich einer Auskunft des Generalstaatsanwalts in Berlin, bedient habe. Dagegen habe er eine Prüfung in dem nachträglich bezeichneten Wahlkreis Duisburg unterlassen. Im übrigen sei es unzureichend, die Aufklärung des Sachverhalts so stark an die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu knüpfen, da die Strafverfolgungsbehörde auch die subjektive Tatseite zu beachten habe, während bei der Wahlprüfung nur der objektive Tatbestand möglicher Wahlfehler zu ermitteln sei. Doch selbst die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft seien in sich unzureichend ausgewertet worden. Der Bundestag habe nämlich für den Wahlkreis 125 jene Zahlen zugrunde gelegt, die der Staatsanwalt in der mündlichen Verhandlung fast sieben Monate vor dem Beschluß mit der ausdrücklichen Einschränkung benannt hätte, er könne noch nichts Endgültiges sagen; so sei nicht auszuschließen, daß im Bereich der Stadt Siegen noch weitere Fälle hinzukommen könnten und daß er vom Einwohnermeldeamt in Berlin noch weitere Auskünfte erhalten könnte, da seinen bisherigen Ermittlungen ausschließlich das ihm von den einzelnen Stadt- und Gemeindedirektoren überlassene Material zugrunde gelegen habe. Trotz dieser Vorbehalte habe der Bundestag vor Beschlußfassung eine Nachfrage nach dem neuesten Ermittlungsstand unterlassen und sich auf die früheren Zahlen gestützt. Das sei um so fragwürdiger, als das der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellte Material von solchen Behörden stamme, die im

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Verdacht stünden, selbst in die Manipulationen verstrickt zu sein. Insbesondere bei der Stadtverwaltung Siegen könne ein rechtswidriges Verhalten nicht ausgeschlossen werden. Mit einer erheblichen Dunkelziffer sei auch deshalb zu rechnen, weil der Landeswahlleiter des Landes Nordrhein-Westfalen trotz nur unvollständiger und sporadischer Berichte der Kreiswahlleiter schon vor der Bundestagswahl von ca. 1000 Fällen der Manipulation gehört habe. Gleichwohl habe er nach der Wahl keinerlei weitere Untersuchungen vorgenommen.
Die nach dem Einspruch gebotene umfassende Überprüfung hätte möglicherweise zu der Feststellung geführt, daß 199 oder mehr Berliner Bürger unberechtigt an der Wahl teilgenommen hätten. Dann sei aber von einer möglichen Sitzverschiebung und damit von der Erheblichkeit des Einspruchs auszugehen. Die Gründe, aus denen der Bundestag insoweit eine rein rechnerische Betrachtungsweise ablehne, seien widersprüchlich.
Das Einspruchsrecht des Landeswahlleiters dürfe nicht dazu herangezogen werden, das Einspruchsrecht des Bürgers und die Nachprüfungspflicht des Bundestages einengend zu interpretieren. Ihm komme nur subsidiärer Charakter zu. Demgemäß habe der Landeswahlleiter des Landes Nordrhein-Westfalen gerade mit Rücksicht auf die von Bürgern bereits eingeleiteten Wahlanfechtungsverfahren einen eigenen Einspruch gar nicht in Erwägung gezogen.
Der Beschwerdeführer beantragt, den Sachverhalt wegen der Scheinwohnsitze bundesweit weiter aufzuklären, und zwar durch Einholung einer Auskunft bei der Meldebehörde in Berlin über die Begründung von Zweitwohnsitzen im Zeitraum vom 22. September bis 19. November 1972 und bei den Staatsanwaltschaften über die zur Zeit noch anhängigen oder inzwischen erledigten Verfahren.
2. Der Beschwerdeführer rügt weiter, daß der Bundestag es aus unverständlichen Gründen abgelehnt habe, die Frage der Rechtmäßigkeit der Nichtentlassung der Parlamentarischen Staatssekretäre zu überprüfen.


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3. Die Annahme der erkennbar rechtswidrigen, weil gegen § 74 BetrVerfG verstoßenden Einladungen zu Ansprachen vor Belegschaftsversammlungen durch Regierungsmitglieder müsse weiterhin als amtliche Wahlbeeinflussung angesehen werden.
4. Der Bundestag habe keine Begründung für seine Auffassung gegeben, daß die verspätete Veröffentlichung des Jahresberichts des Sachverständigenrates der Bundesregierung nicht anzulasten sei.
5. Ebenso fehle eine genauere Begründung der Ansicht, daß die grundsätzlich als Wahlfehler anerkannte einseitige Erläuterung der Briefwahlunterlagen keinen Einfluß auf das Wahlergebnis gehabt habe.
6. Im übrigen dürfe bei der Wahlprüfung nicht allein auf eine mögliche Verschiebung der Sitzverteilung abgestellt werden. Jedenfalls nach Einführung der Wahlkampfkostenerstattung sei es vielmehr unumgänglich, sie auch auf die Richtigkeit des amtlich festgestellten endgültigen Stimmenergebnisses zu erstrecken. Sonst bestehe die mit dem Grundgedanken der Wahlprüfung kaum vereinbare Gefahr, daß bei der Prüfung der nachfolgenden Wahl die Richtigkeit des Stimmenergebnisses der vorhergehenden Wahl überprüft werden müsse.
V.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Deutschen Bundestag, der Präsidentin des Deutschen Bundestages, dem Bundesminister des Innern, dem Bundeswahlleiter und dem Landeswahlleiter des Landes Nordrhein-Westfalen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Bundesminister des Innern hat von einer Äußerung in der Sache abgesehen, aber angekündigt, daß die Regelung des formellen Wahlrechts in § 82 BWO zur Wahl zum 8. Deutschen Bundestag eine Klarstellung erfahren werde. Der Landeswahlleiter des Landes Nordrhein-Westfalen hat mitgeteilt, daß ihm neue Erkenntnisse zum Anfechtungspunkt der Scheinwohnsitze nicht vorlägen; gleiches gelte nach ihren Berichten für die Kreiswahlleiter der Wahlkreise 100 und 125. Die übrigen

BVerfGE 40, 11 (29):

Verfahrensbeteiligten haben von einer Stellungnahme abgesehen.
Die Staatsanwaltschaft Siegen hat auf Anfrage mitgeteilt, daß sich hinsichtlich der in der mündlichen Verhandlung vor dem Wahlprüfungsausschuß vom Sachbearbeiter genannten Zahlen im weiteren Verlauf der Ermittlungen keine neuen Erkenntnisse ergeben hätten.
 
B.
Die Beschwerde ist offensichtlich unbegründet.
I.
Das Wahlprüfungsverfahren und damit auch das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 41 Abs. 2 GG in Verbindung mit § 48 BVerfGG ist ausschließlich dazu bestimmt, die richtige Zusammensetzung des Bundestages zu gewährleisten. Daher sind nur solche Wahlfehler beachtlich, die auf die Mandatsverteilung von Einfluß sind oder sein können. Dagegen vermögen Wahlfehler, welche die Ermittlung des Wahlergebnisses betreffen, die Beschwerde dann nicht zu rechtfertigen, wenn sie angesichts des Stimmenverhältnisses keinen Einfluß auf die Mandatsverteilung haben konnten (BVerfGE 4,370 [372 f.]; 21, 196 [199]; 22, 277 [280 f.]; 34, 201 [203]; 35, 300 [301 f.]).
Die Regelung der Wahlkampfkostenerstattung in § 18 PartG gibt keinen Anlaß, von dieser ständigen Rechtsprechung abzuweichen und die Wahlprüfung auf mögliche Verschiebungen des Zweitstimmenergebnisses zu erstrecken, obwohl eine Änderung der Mandatsverteilung auszuschließen ist. Gegenstand der Wahlprüfung ist die Gültigkeit einer Wahl (BVerfGE 1, 208 [238]). Die Gültigkeit einer abgelaufenen Wahl kann aber nicht dadurch berührt werden, daß aufgrund einer fehlerhaften Feststellung des Stimmenergebnisses den Parteien bei der nachträglichen Erstattung der Wahlkampfkosten zu hohe oder zu niedrige Beträge zufließen.


BVerfGE 40, 11 (30):

II.
Eine Änderung der Mandatsverteilung infolge unberechtigter Teilnahme Berliner Bürger an der Wahl ist nach dem Ergebnis der Wahlprüfung auszuschließen.
1. Der Deutsche Bundestag hat die Prüfung zu Recht auf die Wahlkreise 100 (Recklinghausen-Stadt), 125 (Siegen-Wittgenstein) und 193 (Rastatt) beschränkt. Nach § 2 Abs. 1 und 3 WPrüfG erfolgt die Wahlprüfung nur auf Einspruch, der zu begründen ist. Die Begründung muß mindestens den Tatbestand, auf den die Anfechtung gestützt wird, erkennen lassen und genügend substantiierte Tatsachen enthalten (Seifert, Bundeswahlgesetz, 2. Auflage, S. 324). Die Wahlprüfung findet also weder von Amts wegen statt (Offizialprinzip), noch erfolgt sie stets in Gestalt einer Durchprüfung der gesamten Wahl (Totalitätsprinzip). Vielmehr richtet sich ihr Umfang nach dem Einspruch, durch den der Einspruchsführer den Anfechtungsgegenstand bestimmt. Der Prüfungsgegenstand ist nach dem erklärten, verständig zu würdigenden Willen des Einspruchsführers unter Berücksichtigung des gesamten Einspruchsvorbringens sinngemäß abzugrenzen (Seifert a.a.O., S. 321 f.). Aus der Begründungspflicht folgt, daß diese Abgrenzung auch danach vorzunehmen ist, wieweit der Einspruchsführer den Einspruch substantiiert hat. Nur im Rahmen des so bestimmten Anfechtungsgegenstandes haben die Wahlprüfungsorgane dann den Tatbestand, auf den die Anfechtung gestützt wird von Amts wegen zu erforschen und alle auftauchenden rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen.
2. In Anwendung dieser Grundsätze war die Wahlprüfung unter dem Gesichtspunkt der Scheinwohnsitze auf die drei im Einspruch benannten Wahlkreise zu begrenzen. Die Annahme, daß der Beschwerdeführer die Prüfung der gesamten Bundestagswahl erstrebt und die drei Wahlkreise nur beispielhaft erwähnt habe, findet lediglich darin eine Stütze, daß er die drei Kreise in Klammern gesetzt und - innerhalb der Klammern - die Worte "unter anderem" sowie "und anderswo" verwendet hat. Dem

BVerfGE 40, 11 (31):

gegenüber muß dem Zusammenhang des Einspruchs bei verständiger Würdigung die Beschränkung des Anfechtungsgegenstandes auf die drei konkret genannten Wahlkreise entnommen werden. Denn sonst wären der ohne Klammerzusatz erfolgte Hinweis auf die Verfälschung des Stimmenergebnisses "in einigen Wahlkreisen Nordrhein-Westfalens und Baden-Württembergs" und die Berufung auf die "betreffenden" Kreiswahlleiter ohne Sinn.
Jedenfalls aber genügt die Einspruchsbegründung nur bezüglich der drei benannten Wahlkreise der durch § 2 Abs. 3 WPrüfG geforderten Substantiierung. Diese kann nicht durch die Worte "und anderswo" für sämtliche andere Wahlkreise des Bundesgebiets ersetzt werden. Der Anfechtungstatbestand, nämlich die ungerechtfertigte Wahlteilnahme Berliner Bürger aufgrund bloßen Scheinwohnsitzes, ist zwar einheitlich, und derartige Wahlfehler könnten im ganzen Bundesgebiet vorgekommen sein. In der Andeutung einer solchen Möglichkeit liegt aber nicht die erforderliche Angabe genügend substantiierter Tatsachen, wie sie für die drei bezeichneten Wahlkreise (auch) in der Bezugnahme auf entsprechende Presseberichte enthalten ist. Vielmehr handelt es sich nur um die Äußerung einer nicht weiter belegten Vermutung, die nach dem Anfechtungsprinzip des § 2 WPrüfG als Grundlage einer weiterreichenden Prüfung nicht genügt. Eine Durchprüfung der Wahl auf Bundesebene wäre beispielsweise auch nicht veranlaßt, wenn ein auf falsche Stimmenauszählung in einem oder mehreren bestimmten Wahlkreisen gestützter Einspruch mit dem Hinweis verbunden wäre, Versehen bei der Auszählung seien ganz allgemein als Fehlerquellen nicht unwahrscheinlich. Den dargelegten Anforderungen des Substantiierungsgebots läßt sich nicht - als sinnwidrige Folge - entnehmen, ein Einspruchsführer könne eine räumlich unbeschränkte Wahlprüfung jedenfalls, andererseits aber auch nur dadurch herbeiführen, daß er in der Einspruchsbegründung sämtliche Wahlkreise des Bundesgebiets schematisch aufzähle. Ein derartiger Einspruch wäre bei Fehlen näherer tatsächlicher Angaben ebenfalls unsubstantiiert, es sei denn, daß nach der Natur des behaupteten

BVerfGE 40, 11 (32):

Wahlfehlers dessen mögliche Auswirkung im gesamten Wahlgebiet auf der Hand läge.
3. Die Substantiierungspflicht ist dem gemäß § 2 Abs. 2 WPrüfG einspruchsberechtigten einzelnen Bürger nicht deshalb nachzulassen, weil ihre Erfüllung im Einzelfall Schwierigkeiten insbesondere im tatsächlichen Bereich begegnen mag. Der für den einzelnen Wahlberechtigten etwa bestehenden Unmöglichkeit, sich hinreichend umfassenden Einblick in die als fehlerhaft empfundenen Wahlvorgänge zu verschaffen, steht ausgleichend das amtliche Einspruchsrecht der in § 2 Abs. 2 WPrüfG genannten, über größere Informations- und Ermittlungsmöglichkeiten verfügenden Personen gegenüber. Es bietet für das Erreichen des alleinigen Zieles der Wahlprüfung, nämlich den Schutz des objektiven Wahlrechts, jedenfalls soweit Gewähr, daß die Aufdeckung erheblicher Wahlfehler nicht an der Unkenntnis einzelner Bürger oder daran scheitert, daß diese zu substantiierter Anfechtung nicht in der Lage sind. Durch das Einspruchsrecht der Amtspersonen wird jenes des einzelnen Wahlberechtigten nicht eingeengt. Es ginge nicht an, bei substantiiertem Einspruch eines Bürgers die Wahlprüfung nur in begrenztem, hinter dem Anfechtungsgegenstand zurückbleibenden Umfang vorzunehmen, weil das Einspruchsrecht der Amtspersonen bestehe. Das ist hier aber auch nicht geschehen. Die Beschränkung der Prüfung auf die drei vom Beschwerdeführer benannten Wahlkreise ist allein dadurch veranlaßt, daß der Einspruch nur insoweit substantiiert ist. Nicht das Einspruchsrecht Dritter, sondern das Substantiierungsgebot setzt dem Initiativrecht des einzelnen Wahlberechtigten eine Grenze.
4. Die Wahlprüfung unter dem Gesichtspunkt der Scheinwohnsitze war demnach nicht auf das gesamte Bundesgebiet zu erstrecken, aber auch nicht auf den im Schreiben des Beschwerdeführers vom 22. Oktober 1973 erstmals genannten Wahlkreis Duisburg. Denn bei dieser Benennung eines neuen konkreten Wahlkreises handelt es sich nicht um einen ohne Fristbindung zulässigen ergänzenden Vortrag im Rahmen des durch frist

BVerfGE 40, 11 (33):

gerechte und substantiierte Einspruchsbegründung in seinem Umfang abgesteckten Anfechtungsgegenstandes, sondern um dessen Erstreckung auf einen neuen Sachverhalt. Eine Erweiterung des Prüfungsgegenstandes ist aber nach Ablauf der auch für die Einspruchsbegründung geltenden Frist des § 2 Abs. 4 WPrüfG nicht zulässig.
5. Nach dem Ergebnis der Wahlprüfung in den drei zu untersuchenden Wahlkreisen läßt sich nur für den Wahlkreis 125 (Siegen-Wittgenstein) nicht ausschließen, daß Berliner Bürger in das Wählerverzeichnis eingetragen worden sind und an der Wahl teilgenommen haben, obwohl die Voraussetzungen der Wahlberechtigung nach § 82 BWO in Verbindung mit § 15 BWO nicht vorlagen. Grundlage der Eintragung in das Wählerverzeichnis ist nach diesen Bestimmungen der Tatbestand einer Anmeldung nach den melderechtlichen Vorschriften. Anzumelden hat sich nach den Meldegesetzen der Länder, wer eine Wohnung bezieht. Wer "beim Beziehen einer Wohnung" eine andere Wohnung beibehält, hat zu erklären, welche Wohnung seine Hauptwohnung ist (§ 1 Abs. 1, 2 MeldeG für das Land Nordrhein- Westfalen vom 25. Mai 1960 - GVBl. NW S. 81 -; § 1 Abs. 1, 2 MeldeG Baden-Württemberg vom 7. März 1960 - GBl. S. 57 -). Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig für eine Wohnung anmeldet, in der er nicht wohnt, begeht eine Ordnungswidrigkeit (§ 19 Abs. 1 Nr. 3 MeldeG Nordrhein-Westfalen, § 18 Abs. 1 Nr. 3 MeldeG Baden-Württemberg). Wohnung im Sinne dieser Gesetze ist jeder Raum, der zum Wohnen oder Schlafen benutzt wird (jeweils § 1 Abs. 4). Daraus folgt für die Auslegung des § 82 BWO, daß die Anmeldung eines Berliner Bürgers mit Zweitwohnung in der Bundesrepublik keinesfalls zur Begründung des Wahlrechts genügen kann, wenn die Zweitwohnung überhaupt nicht bezogen wird. Eine solche Anmeldung für sich allein ist keine formelle "Erfüllung" der melderechtlichen Vorschriften, sondern ein ordnungswidriger Verstoß gegen diese. Folglich haben jedenfalls alle diejenigen Berliner Bürger, die zu keiner Zeit die angemeldete Zweitwohnung bezogen, sich aber an

BVerfGE 40, 11 (34):

der Bundestagswahl beteiligt haben, ohne Wahlberechtigung gewählt.
Darüber hinaus kann nach der Systematik der Meldegesetze vom "Beziehen einer Wohnung" nur bei einem nicht ganz kurzfristigen Aufenthalt am Ort der Anmeldung gesprochen werden. Das ergibt sich aus der (jeweils in § 6 enthaltenen) Ausnahmeregelung, daß bei Besuchsaufenthalt von weniger als zwei Monaten Dauer die Meldepflicht entfällt, obwohl der Besucher die von den gastgebenden Verwandten und Bekannten zur Verfügung gestellten Räume zweifellos "zum Wohnen oder Schlafen benutzt". Daher ist dem Deutschen Bundestag in der Auslegung des § 82 BWO darin zuzustimmen, daß die Vorschrift Berliner Bürgern das Wahlrecht zu Bundestagswahlen nur bei Begründung einer Wohnung oder eines nicht ganz kurzfristigen Aufenthalts in einem Bundesland außerhalb Berlins und bei Anmeldung nach den melderechtlichen Vorschriften gewährt.
6. In den Wahlkreisen 100 und 193 kann eine unberechtigte Wahlteilnahme Berliner Bürger nicht unterstellt werden. In beiden Wahlkreisen war auf Anordnung der Landeswahlleiter, die über die Kreiswahlleiter an alle örtlichen Behörden weitergeleitet worden war, schon vor der Wahl eine Prüfung vorgenommen worden und hatte zur Streichung von 165 und 12 Berlinern mit Zweitanmeldung aus den Wählerverzeichnissen geführt. Der Prüfung hatte die im Vorabschnitt dargelegte, bloße Scheinanmeldungen eliminierende Auslegung des § 82 BWO zugrunde gelegen. In beiden Wahlkreisen haben die im Wahlprüfungsverfahren angestellten Nachermittlungen nach den Berichten der Kreiswahlleiter keine neuen Erkenntnisse gebracht. Es gibt keine Anhaltspunkte, daß weitere Fälle von Scheinanmeldungen vorgelegen hätten.
7. Auch in allen Städten und Gemeinden des Wahlkreises 125 mit Ausnahme der Stadt Siegen läßt sich bis auf fünf Fälle ausschließen, daß Berliner Bürger mit nur scheinbarem Zweitwohnsitz an der Wahl teilgenommen haben. Die aufgrund des Runderlasses vom 14. November 1972 vorgenommene, an der dort

BVerfGE 40, 11 (35):

vertretenen richtigen Auslegung des § 82 BWO orientierte Prüfung schon vor der Wahl hatte zu etwa 110 Streichungen in den Wählerverzeichnissen geführt. Dies war dem Kreiswahlleiter alsbald mitgeteilt worden. Die entsprechenden Berichte waren zwar insofern "sporadisch und unvollständig", als sie nach der Weisung des Kreiswahlleiters nur "bei der Feststellung von Unregelmäßigkeiten" erstattet werden mußten, ausdrückliche Fehlanzeigen - wie sie gleichwohl vereinzelt eingingen - also nicht erforderlich waren. Dennoch kann zugrunde gelegt werden, daß die Fälle mutmaßlicher Scheinwohnsitze vollständig erfaßt worden sind. Denn die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Siegen erbrachten, abgesehen von fünf im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Wahlprüfungsausschuß noch nicht geklärten Fällen, die gleiche Zahl, an der sich nach der vom Bundesverfassungsgericht eingeholten Auskunft seitdem auch nichts geändert hat. Diese Ermittlungen gingen aber nach dem an alle Gemeinden des Wahlkreises gerichteten Schreiben des Sachbearbeiters vom 15. November 1972 zunächst einmal dahin, ohne Rücksicht auf die subjektive Tatseite sämtliche Berliner mit Zweitanmeldung seit dem 1. Januar 1972 überhaupt zu erfassen; erst zusätzliche Fragen bezogen sich dann auf Vorbereitungen zur Wahlteilnahme und auf Anhaltspunkte für bloße Scheinanmeldung. Aus den von den Gemeinden dem Staatsanwalt erteilten Auskünften ergab sich, daß über die etwa 110 durch Streichung im Wählerverzeichnis wahlrechtlich abgeschlossenen Fälle hinaus nur noch bei fünf Personen der Verdacht eines Scheinwohnsitzes bestand. Diese sehr geringe Differenz zwischen den bis zum 17. November 1972 dem Kreiswahlleiter einerseits und nach dem 15. November 1972 dem Staatsanwalt andererseits übermittelten Zahlen deutet darauf hin, daß die von den örtlichen Wahlorganen auf den Runderlaß vom 14. November 1972 hin unternommenen Prüfungen im wesentlichen bereits mit der vom Staatsanwalt erbetenen Vollständigkeit erfolgt waren und daß von einer erheblichen Dunkelziffer keine Rede sein kann. Der Staatsanwalt hält die ihm auf sein amtliches Ersuchen erteilten

BVerfGE 40, 11 (36):

Auskünfte für vollständig. Dies zu bezweifeln besteht nicht deshalb Anlaß, weil die Auskünfte von Behörden herrührten, deren Bedienstete vereinzelt selbst im Verdacht der Beteiligung an den Manipulationen stünden. Denn für den hier erörterten Teilbereich des Wahlkreises 125 bleiben keine Anhaltspunkte für einen solchen Verdacht. Unter diesen Umständen konnten die Wahlprüfungsorgane bei der Sachverhaltsaufklärung unter Verzicht auf zusätzliche Nachforschungen um so eher an die Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen anknüpfen, als diese zunächst ohne Einschränkung unter dem Gesichtspunkt der subjektiven Tatseite auf vollständige Erfassung aller Berliner Personen mit Zweitanmeldung gerichtet waren.
8. Für den Bereich der Stadt Siegen innerhalb des Wahlkreises 125 ist dagegen nicht auszuschließen, daß 155 bis 160 Berliner Bürger mit nur scheinbarem Zweitwohnsitz in Siegen, daher also unberechtigt, an der angefochtenen Wahl teilgenommen haben. Soweit nämlich die mit Runderlaß vom 14. November 1972 angeordnete Überprüfung überhaupt stattfand, war sie an der unzutreffenden Auslegung des § 82 BWO durch den Oberstadtdirektor ausgerichtet und führte auch dann nicht zur Streichung im Wählerverzeichnis, wenn nur vage Anhaltspunkte für die Annahme bestanden, die angemeldete Person werde sich einmal - und sei es ganz kurzfristig - am Ort des angeblichen Zweitwohnsitzes aufhalten. Der Wahlfehler ist jedoch weder für sich allein noch in Verbindung mit den fünf aus dem übrigen Bereich des Wahlkreises ermittelten Fällen möglicherweise unzulässiger Wahlteilnahme von Einfluß auf die Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag. Im Wahlzeitpunkt waren insgesamt 250 Berliner Bürger mit Zweitwohnsitz in der Stadt Siegen gemeldet. Von ihnen haben nach Feststellung des Kreiswahlleiters aber nur 191 gewählt. Selbst wenn unterstellt wird, daß alle diese 191 Wähler nur Scheinwohnsitze begründet hatten, und wenn die fünf fraglichen Fälle aus dem übrigen Bereich des Wahlkreises 125 hinzugezählt werden, so erreichte die Summe der demnach 196 zu Unrecht abgegebenen Stimmen nicht die nach dem

BVerfGE 40, 11 (37):

Zweitstimmenergebnis auf Bundesebene für eine mögliche Mandatsverschiebung erforderliche Mindestzahl von 199 ungültigen (Zweit-) Stimmen. Bleibt die Gesamtzahl der vom amtlichen Wahlergebnis als ungültig abzuziehenden Zweitstimmen unter 199, kann sich schlechterdings keine Änderung der Sitzverteilung ergeben.
Die Unterstellung, alle 191 Berliner Bürger, die aufgrund ihrer Eintragung im Wählerverzeichnis der Stadt Siegen an der Wahl teilnahmen, hätten dies zu Unrecht getan, ist indessen nicht einmal gerechtfertigt. Von den insgesamt 250 Zweitanmeldungen waren nämlich 83 schon vor dem 30. Juni 1972 erfolgt. In diesen Fällen wäre die Annahme, es habe sich um Scheinanmeldungen gehandelt, erkennbar unbegründet. Ein Teil der 191 von Berlinern unter Registrierung in den Wahlunterlagen der Stadt Siegen abgegebenen Stimmen entfällt aber auf jenen Personenkreis mit echtem Zweitwohnsitz und damit zweifelsfrei gegebener Wahlberechtigung. Dadurch ermäßigt sich die Zahl der möglicherweise ungültigen Zweitstimmen auf die von der Staatsanwaltschaft ermittelte Größenordnung von etwa 155 und unter Einbeziehung der fünf Fälle außerhalb der Stadt Siegen auf etwa 160. Da kein Anhaltspunkt besteht, daß die zugrunde liegenden Zahlen (250 Zweitanmeldungen insgesamt, davon 83 vor dem 30. Juni 1972; 191 Stimmabgaben) unrichtig ermittelt oder mitgeteilt worden seien, kann also ein Einfluß des im Wahlkreis 125 unterlaufenen Wahlfehlers auf die Sitzverteilung im Bundestag nach dem Zweitstimmenergebnis um so sicherer ausgeschlossen werden.
Daß die Abgabe von 155 bis 160 möglicherweise ungültigen Erststimmen im Wahlkreis 125 keine Änderung der Mandatsverteilung bewirken kann, liegt angesichts der Erststimmenverteilung in diesem Wahlkreis auf der Hand.
9. Da bei weniger als 199 ungültigen Zweitstimmen auf Bundesebene eine Mandatsverschiebung im Bundestag jedenfalls unmöglich ist, erübrigt sich eine Erörterung, ob bei Feststellung von mindestens 199 ungültigen Stimmen ohne weiteres von der

BVerfGE 40, 11 (38):

Erheblichkeit des Wahleinspruchs auszugehen wäre, oder ob Wahrscheinlichkeitsbeurteilungen und Hochrechnungen vorzunehmen wären.
10. Zur Einholung einer Auskunft der Berliner Meldebehörden über die Begründung von Zweitwohnsitzen Berliner Bürger in den Wahlkreisen 100, 125 und 193 in der Zeit vom 22. September bis 19. November 1972 bestand kein Anlaß. Eine solche Auskunft könnte zur weiteren Klärung des - nach den vorstehenden Ausführungen ohnedies hinreichend ermittelten - Sachverhalts nichts beitragen. Die Erfassung sämtlicher Zweitanmeldungen und die daran anschließende Überprüfung, welche Personen aus diesem Kreis überhaupt an der angefochtenen Wahl teilgenommen haben, ergäben noch nichts für die entscheidende Frage, ob es sich um Scheinanmeldungen gehandelt hat, und zwar auch bei Wahlteilnahme per Briefwahl, die insoweit nicht einmal ein Beweisanzeichen von einigem Gewicht sein könnte. Klarheit ließe sich letztlich nur durch Befragung der Berliner, die gewählt haben, oder ihrer Wohnungsgeber in der Bundesrepublik gewinnen. Diese Personen könnten aber gerade in den Fällen, in denen nur Scheinwohnsitze vorlagen, mit Rücksicht auf die dann drohende Gefahr der Strafverfolgung (§§ 107a, 107b StGB) die Auskunft verweigern, ohne daß eine solche Weigerung für sich allein den Schluß auf eine bloße Scheinanmeldung rechtfertigte.
III.
Die Möglichkeit einer Mandatsverschiebung wegen des Wahlkampfeinsatzes der zwölf Parlamentarischen Staatssekretäre ist vom Deutschen Bundestag zu Recht verneint worden. Die aktive Wahlkampfteilnahme Parlamentarischer Staatssekretäre, die nach § 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre vom 6. April 1967 (ParlStG; BGBl. I S. 396) den zuständigen Mitgliedern der Bundesregierung zur Unterstützung beigegeben sind, verletzt für sich allein nicht den Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen der Parteien. Eine unzulässige amtliche Wahlbeeinflussung in Gestalt einer Verlet

BVerfGE 40, 11 (39):

zung des Grundsatzes der Wahlgleichheit käme daher hier nur in Betracht, wenn die Parlamentarischen Staatssekretäre entgegen § 6 Satz 3 ParlStG zu Unrecht im Amt geblieben wären. Die Bundesregierung hat das nach ihrer Auslegung der Vorschrift verneint. Ob diese Auslegung zutreffend ist, bedarf hier entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers keiner Überprüfung und Entscheidung. Selbst wenn dem Verbleiben im Amt nach der Auflösung des Bundestages die Rechtsgrundlage gefehlt hätte, läßt sich die Erheblichkeit des dann gegebenen Wahlfehlers ausschließen. Der Wahlkampfeinsatz der Parlamentarischen Staatssekretäre unter Nutzung der mit ihrem Amt verbundenen Vorteile an Autorität und Mitteln mag zwar den Regierungsparteien einen Vorsprung eingeräumt haben. Die Frage der Recht- oder Unrechtmäßigkeit ihrer Nichtentlassung ist aber im Wahlkampf Gegenstand öffentlich geführter Erörterungen und Auseinandersetzungen gewesen. Diese Diskussion hat, wie im angefochtenen Beschluß zu Recht angenommen wird, den etwa gegebenen Vorsprung so weitgehend wieder aufgehoben, daß von einem möglichen Einfluß auf die Sitzverteilung nicht gesprochen werden kann.
IV.
Die Ansprachen von Regierungsmitgliedern vor Belegschaftsversammlungen sind nicht als Wahlfehler von Erheblichkeit dargetan. Ob Arbeitgeber und Betriebsräte durch die einverständlichen Einladungen gegen das in § 74 Abs. 2 Betr VerfG normierte Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb verstoßen haben, kann als wahlprüfungsrechtlich irrelevant dahinstehen. Für die Wahlprüfung ist allein entscheidend, ob durch die Ansprachen die Grundsätze der Wahlfreiheit und Wahlgleichheit verletzt worden sind, denn nur dann läge eine unzulässige Wahlbeeinflussung vor. Hierzu hat der Beschwerdeführer aber gar nichts vorgetragen. Seinem Einspruch, der sich in Rechtsausführungen zu nach seiner Ansicht gebotenen weiteren Folgerungen aus § 74 Abs. 2 BetrVerfG erschöpft, fehlt insoweit die gemäß § 2 WPrüfG erforderliche Substantiierung. Im übrigen sind keine An

BVerfGE 40, 11 (40):

haltspunkte dafür hervorgetreten, daß in Einzelfällen unmittelbar oder mittelbar Druck auf Betriebsangehörige zur Teilnahme an den Versammlungen ausgeübt worden sei (Beeinträchtigung der Wahlfreiheit) oder daß unter Verletzung der Chancengleichheit andere Parteien bei den Einladungen ausgeklammert worden seien.
V.
Die verspätete Vorlage des Jahresgutachtens durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt keine unzulässige Wahlbeeinflussung durch einen Träger öffentlicher Gewalt dar. Der Rat, dessen Mitglieder nach § 1 des Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 14. August 1963 (BGBl. I S. 685) weder der Regierung noch einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes angehören dürfen, der nach § 3 des Gesetzes in seiner Tätigkeit unabhängig ist und dessen Aufgabe in der Erstellung des Jahresgutachtens und eventuell angeforderter weiterer Gutachten besteht, kann nicht dergestalt der Exekutive zugerechnet werden, daß von amtlicher Wahlbeeinflussung zu sprechen wäre. Die verspätete Vorlage des Jahresgutachtens ist aber auch nicht der Bundesregierung als Wahlfehler anzulasten. Daß sie ein entgegen § 6 Abs. 1 des Gesetzes in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 8. November 1966 (BGBl. I S. 633) ihr nicht fristgerecht bis zum 15. November 1972 zugeleitetes Gutachten auch nicht den gesetzgebenden Körperschaften vorlegen konnte, liegt auf der Hand. Das Gesetz räumt ihr aber auch keine Möglichkeit ein, die fristgerechte Fertigstellung und Zuleitung des Jahresgutachtens zu erzwingen. Für eine Zurechnung eines Versäumnisses des Sachverständigenrates an die Bundesregierung ist daher kein Raum.
Im übrigen ist nichts dafür ersichtlich, daß die verspätete Vorlage des Gutachtens verfälschenden Einfluß auf das Wahlergebnis durch eine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien

BVerfGE 40, 11 (41):

gehabt haben könnte. An dem infolge der Verzögerung allen Parteien gleichermaßen unbekannt gebliebenen Inhalt des Gutachtens bestand allgemein in der Öffentlichkeit und bei jeder politischen Richtung großes Interesse. Es läßt sich nicht feststellen, daß die Verspätung der einen oder anderen Partei mehr genutzt oder geschadet haben könne.
VI.
Es kann auch ausgeschlossen werden, daß die Erläuterung der Briefwahlunterlagen in einer Fernsehsendung am 3. November 1972 von Einfluß auf das Wahlergebnis gewesen ist. Dabei kann dahinstehen, ob in der Art und Weise, wie die Erläuterungspfeile angebracht waren, mit dem Deutschen Bundestag überhaupt der Tatbestand einer amtlichen Wahlbeeinflussung durch eine zur Unparteilichkeit verpflichtete Anstalt des öffentlichen Rechts zu erblicken ist, oder ob sich die bildliche Darstellung, die ohnehin nicht völlig losgelöst von dem etwa damit verbundenen - hier freilich nicht mitgeteilten - gesprochenen Text bewertet werden könnte, nicht doch noch im Rahmen eines zulässigen technischen Hinweises gehalten hat (BVerfGE 4, 370 [373]). Denn selbst wenn eine Wahlbeeinflussung anzunehmen ist, so war sie jedenfalls nicht geeignet, die Entscheidungsfreiheit des Wählers ernstlich zu beeinträchtigen, und zwar um so weniger, als technische Erläuterungen zum Wahlvorgang von allen politischen Parteien wiederholt und auf ganz verschiedene Weise in Wort, Bild und Schrift gegeben worden waren. Die Annahme, ein noch unschlüssiger Wahlberechtigter werde sich gerade aufgrund eines Fernsehbildes der beanstandeten Art zur Wahl einer bestimmten Partei entscheiden oder auch nur unterschwellig beeinflussen lassen, erscheint lebensfremd.
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