BVerfGE 43, 34 - Quereinstieg


BVerfGE 43, 34 (34):

Studienbewerber, die für das angestrebte Studium anrechenbare Leistungen nachweisen und die Zuteilung eines freien Studienplatzes in dem entsprechenden höheren Semester begehren ("Quereinstieg"), dürfen nicht mit der Begründung abgewiesen werden, in dem betreffenden Semester bestehe keine "erhebliche Unterbesetzung".
 
Urteil
des Ersten Senats vom 13. Oktober 1976
auf die mündliche Verhandlung vom 5./6. Oktober 1976
- 1 BvR 135/75 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden der Studenten 1. D.... 2. Sch.... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Peter Brandenburg, Freiburg im Breisgau, Kaiser-Joseph-Straße 248 - gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 3. Februar 1975 - IX 1484/74 und IX 1486/6 -.


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Entscheidungsformel:
1. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 3. Februar 1975 - IX 1484/74 und IX 1486/6 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sachen werden an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen-
2. Das Land Baden-Württemberg hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.
 
Gründe
 
A.
Die beschwerdeführenden Studenten der Biologie und Physik beanstanden, ihnen sei trotz anrechenbarer Leistungen für das Medizinstudium die Zulassung zu diesem Studiengang versagt worden, obwohl noch Studienplätze für das dritte medizinische Semester frei gewesen seien.
I.
1. In Studiengängen mit bundesweiten Zulassungsbeschränkungen können infolge einer natürlichen "Schwundquote" (Aufgabe des Studiums, Wechsel des Fachs oder der Hochschule) Ausbildungsplätze in höheren Semestern frei werden, um deren Zuteilung sich vor allem sog Parkstudenten bemühen, denen die zuständige Behörde bescheinigt hat, daß ihr fachnahes Ausweichstudium mit einem oder mehreren Semestern auf das erstrebte Wunschstudium anrechenbar ist. Das derzeitige Zulassungsrecht sieht einen solchen "Quereinstieg" nicht vor. Es behandelt vielmehr alle diejenigen Bewerber, auch solche mit anrechenbaren Leistungen, als Studienanfänger, die für die Fachrichtung, in der sie die Zulassung beantragen, bisher noch nicht an einer Hochschule immatrikuliert waren. Der Staatsvertrag über die Vergabe von Studienplätzen bestimmt dazu in Art. 11 Abs. 5 Satz 2 (vgl. ferner §§ 2, 17 Abs. 1 und 18 Abs. 2 der bundeseinheitlichen Vergabeverordnung):


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    Studienanfänger sind Bewerber, die für die Fachrichtung, in der sie die Zulassung beantragen, bisher noch nicht an einer Hochschule immatrikuliert waren.
Auch wer ausbildungsrechtlich nicht mehr Studienanfänger ist, gilt also zulassungsrechtlich als solcher und muß sich wie alle anderen Studienanfänger um einen Platz für das erste Fachsemester bewerben. Seine Höherstufung unter Berücksichtigung anrechenbarer Leistungen erfolgt erst, nachdem er das "Nadelöhr" seiner Zulassung zum ersten Fachsemester durchlaufen hat; nach seiner Höherstufung teilt die Universität mit, ob dadurch wieder ein Studienplatz frei geworden ist. In ihrer späteren Fassung (BadWürtt. GBl 1974, S. 174) bestimmt dazu die Vergabeverordnung:
    § 21
    (1) ...
    (2) Hat ein Bewerber für einen Studiengang in seinem Zulassungsantrag geltendgemacht, daß er bei der zuständigen Stelle die Anrechnung von Studienleistungen und/oder Studienzeiten eines anderen Studienganges beantragt hat oder beantragen wird und weist ihm die Zentralstelle für den beantragten Studiengang einen Studienplatz zu, so prüft die im Zulassungsbescheid genannte Hochschule, ob der Bewerber einen Studienplatz in einem höheren Fachsemester erhalten kann.
    (3) Erhält der Bewerber einen Studienplatz in einem höheren Fachsemester, so teilt die Hochschule der Zentralstelle mit, ob dadurch ein von dieser vergebener Studienplatz wieder verfügbar geworden ist.
2. Diese Regelung schließt nicht aus, daß gleichwohl in höheren Fachsemestern Plätze unbesetzt bleiben; denn deren Besetzung im Wege der Höherstufung setzt voraus, daß unter den zugelassenen Studienanfängern auch tatsächlich solche mit anrechenbaren Semestern vorhanden sind. Die Regelung wird daher durch das Gebot ergänzt, bereits bei der Kapazitätsermittlung selbst Schwundquoten zu berücksichtigen. § 21 der Neufassung der bundeseinheitlichen Kapazitätsverordnung, die erstmals den Kapazitätsermittlungen für das Wintersemester

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1976/77 zugrunde zu legen ist (BadWürtt. GBl 1976, S. 67), sieht dazu vor:
    Die Zahl der Studienanfänger soll erhöht werden, wenn das rechnerische Angebot an Lehrveranstaltungsstunden von Studenten höherer Fachsemester wegen der Aufgabe des Studiums oder des Fachwechsels oder des Hochschulwechsels nicht ausgeschöpft wird (Schwundquote). Unter Berücksichtigung vorhandener statistischer Daten und von Erfahrungswerten wird ein Schwundausgleich festgesetzt.
II.
1. Die beiden Beschwerdeführer studieren seit dem Wintersemester 1973/74 Biologie und Physik und haben in diesen Fächern nach ihrer Darstellung solche Leistungsnachweise erworben, die den Beginn des Medizinstudiums im dritten Fachsemester ermöglichen würden. Nach erfolgloser Bewerbung für das Medizinstudium haben sie mit der Behauptung, an der Universität F. seien noch unausgeschöpfte Kapazitätsreserven vorhanden, zum Wintersemester 1974/75 beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung zum Medizinstudium in F. zugelassen zu werden. Das Verwaltungsgericht hat diese Anträge abgewiesen, weil diejenigen Studienplätze, die infolge unzureichender Kapazitätsausnutzung noch frei seien, anderen Bewerbern zustünden, die ebenfalls das Verwaltungsgericht angerufen hätten.
2. Durch die angegriffenen Beschlüsse vom 3. Februar 1975 hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Beschwerden mit folgender Begründung zurückgewiesen:
Soweit sich die Anträge auf Zulassung zum ersten Fachsemester richteten, sei nicht glaubhaft gemacht, daß noch Studienplätze frei seien, nachdem das Verwaltungsgericht zahlreiche einstweilige Zulassungen ausgesprochen habe. Die Beschwerdeführer könnten nach den verfassungsrechtlich unbedenklichen Zulassungsvorschriften auch nicht wegen ihrer anrechnungsfähigen Leistungen im fachnahen Ausweichstudium anders als Studienanfänger behandelt werden. Einen unmittelbaren Zu

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lassungsanspruch gegen die Universität könne ein Studienbewerber mit anrechnungsfähigen Studienzeiten nur dann mit Erfolg geltend machen, wenn seine Behandlung als Studienanfänger ausnahmsweise mit dem Zugangsrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar wäre. Ein schutzwürdiges Bedürfnis für eine Zulassung außerhalb der Eingangsquote bestehe aber erst dann, wenn in der "Kohorte" des entsprechenden höheren Semesters eine erhebliche Unterbesetzung der Studienplätze zu verzeichnen sei. Dabei müsse eine gewisse Toleranzgrenze überschritten sein. Denn ein Zulassungsanspruch in höheren Semestern könne nicht allein durch die Tatsache ausgelöst werden, daß einzelne unbesetzte Studienplätze vorhanden seien. Es liege im Prognosecharakter und Wertungscharakter der Kapazitätsberechnungen begründet, daß sie zu keiner völligen Übereinstimmung mit der Ausbildungswirklichkeit führen könnten.
Nach den glaubhaften Angaben der Universität F. bestehe bei ihr im zweiten und dritten vorklinischen Semester lediglich eine rechnerische Unterbelegung von je 10 Plätzen, also von 4,4%, wenn dabei mit dem Verwaltungsgericht angenommen werde, daß über die Höchstzahlfestsetzung hinaus eine Semesterquote von insgesamt 230 Studienplätzen vorhanden sei. Diese Annahme bedürfe keiner Überprüfung. Denn das rechnerische Defizit bleibe innerhalb der hinzunehmenden Toleranzgrenze.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer vor allem eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Sie machen geltend, das verfassungsrechtliche Gebot vollständiger Kapazitätsausschöpfung umfasse die Verpflichtung, nachgewiesene freie Studienplätze in höheren Fachsemestern ohne Toleranzgrenzen an bereite und qualifizierte Bewerber zu vergeben. Bei der Besetzung solcher Plätze dürften die Beschwerdeführer nicht als Studienanfänger behandelt werden. Rechtmäßig sei es allenfalls, dabei denjenigen Bewerbern den Vorrang einzuräumen, die einen Höhergruppierungsanspruch gemäß § 21 VergabeVO

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geltend machen könnten. Das dürfe aber nicht dazu führen, daß in Ermangelung entsprechender Bewerber als frei nachgewiesene Plätze in höheren Semestern ganz unbesetzt blieben. Daß in F. solche Plätze über die vom Beschwerdegericht angenommene Toleranzgrenze hinaus und außerhalb der üblichen Schwundquote vorhanden sein müßten, ergebe sich schon daraus, daß mehrere Medizinstudenten, die schon früher im Wege der einstweiligen Anordnung zugelassen worden seien, inzwischen anderwärts Studienplätze zugeteilt erhalten und deshalb ihre Plätze im höheren Semester in F. geräumt hätten.
III.
1. Der nordrhein-westfälische Minister für Wissenschaft und Forschung und ebenso der Direktor der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen halten die Verfassungsbeschwerden für unbegründet.
Nach ihrer Meinung ist es aus Gründen der Chancengleichheit unerläßlich, Bewerber mit anrechenbaren Leistungen wie Studienanfänger zu behandeln. Diese Regelung solle eine Umgehung des zentralen Auswahlverfahrens durch Parkstudenten und ein ungerechtfertigtes Überholen der Mitbewerber mit besseren Rangplätzen verhindern. Ohne eine solche Regelung bestehe ein zusätzlicher Anreiz zum Parkstudium, das Bewerber aus sozial stärkeren Schichten begünstige und das nicht auch noch mit zulassungsrechtlichen Vorteilen honoriert werden dürfe. Durch die Neufassung der Vergabeordnung sei inzwischen sichergestellt, daß zugelassene Studienanfänger mit anrechenbaren Leistungen alsbald höhergestuft und ihren Platz für nachrückende Bewerber freimachen würden. Das Problem, daß trotz dieser Höherstufungsregelung oder anderer "Auffüllmechanismen" in höheren Semestern Plätze frei blieben, werde künftig weitgehend durch die novellierte Fassung der Kapazitätsverordnung gegenstandslos.
2. Die Nachteile des Parkstudiums hebt auch die im Ausgangsverfahren in Anspruch genommene Universität Freiburg hervor.

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Sie hält die Verfassungsbeschwerden ebenfalls für unbegründet. Das Beschwerdegericht habe nicht verkannt, daß das Gebot der vollständigen Kapazitätsausnutzung Vorrang vor dem normalen Auswahlmodus haben könne, und demgemäß schon früher den Quereinstieg ua dann zugelassen, wenn der Bewerber die engpaßbestimmenden Veranstaltungen bereits im Ausweichstudium absolviert habe. Demgemäß sei im Ausgangsverfahren auch nur strittig gewesen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen eines Ausnahmefalles vorlägen. Dies habe das Gericht in verfassungsrechtlich nicht nachprüfbarer Weise verneint. Im übrigen bestätigten statistische Erhebungen aus sechs Semestern, daß zwar die "Kohortenstärke" während des vorklinischen Studienabschnittes bis zu 5% nach oben und unten in den verschiedenen Semestern schwanke, daß sie aber im Gesamtdurchschnitt unverändert bleibe und daß daher im Ergebnis von einer Schwundquote keine Rede sein könne. Deshalb sei es auch nicht entscheidend, daß im Wintersemester 1974/75 im zweiten und dritten Fachsemester jeweils 10 Studenten weniger als im Anfangssemester immatrikuliert gewesen seien. In F. erfolgten keine Höherstufungen in das zweite und dritte Semester, weil die engpaßbestimmenden Veranstaltungen am Ende des vorklinischen Studienabschnitts lägen.
3. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hält die Behandlung von Bewerbern mit anrechenbaren Leistungen als fingierte Studienanfänger für verfassungswidrig; denn diese Erschwerung der Studienzulassung, die undifferenziert nicht nur Parkstudenten, sondern in unzulässiger Weise jeden Studienfachwechsel treffe, sei weder unbedingt erforderlich noch gewährleiste sie eine erschöpfende Kapazitätsausnutzung. Das Begehren der Beschwerdeführer entspreche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Besetzung ungenutzter Studienplätze. Eine großzügige Anwendung der dort entwickelten Grundsätze erscheine um so mehr geboten, als erfahrungsgemäß mit steigender Semesterzahl die Kapazitätsauslastung der Hochschulen nicht nur wegen der Schwundquote, sondern auch

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deshalb abnehme, weil die Eingangskapazitäten zumeist nach bestimmten Engpässen im ersten Studienabschnitt berechnet würden. Das verfassungsrechtliche Gebot erschöpfender Kapazitätsausnutzung dürfe auch nicht dadurch unterlaufen werden, daß wegen des angeblichen Prognosecharakters und Wertungscharakters der Kapazitätsfeststellung Toleranzwerte anerkannt würden, die den kapazitätsermittelnden Stellen einen nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraum einräumten und zusammen mit überhöhten Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Verwaltungsprozeß eine effektive Durchsetzung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Zulassungsanspruchs gefährdeten.
 
B.
Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig (vgl. BVerfGE 39, 276 [290 f.]) und begründet.
I.
1. Der Verwaltungsgerichtshof geht in den angefochtenen Entscheidungen und ebenso in einem späteren Normenkontrollbeschluß vom 8. April 1976 - IX 54/76 - davon aus, es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß das geltende Zulassungsrecht Bewerber mit anrechenbaren Leistungen wie Studienanfänger behandelt und demgemäß erst nach ihrer Zulassung ein Aufrücken in höhere Semester vorsieht. Gegen diesen Ausgangspunkt bestehen keine Bedenken. Ob sich die Regelung - wie gelegentlich geltend gemacht wird - schon als Maßnahme gegen ein unerwünschtes Parkstudium rechtfertigen ließe, erscheint allerdings zweifelhaft. Denn da das geltende Recht ein solches Parkstudium als Möglichkeit zu sinnvoller Gestaltung der Wartezeit zugelassen hat, könnten die Gesichtspunkte rationeller Kapazitätsausnutzung und des Vertrauensschutzes eher dafür sprechen, einen "Quereinstieg" zumindest als Übergangsmaßnahme während der Umstellung auf das neue Zulassungsrecht des Hochschulrahmengesetzes zu erleichtern. In einer Mangelsituation am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehm

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baren läßt sich die Regelung auch nicht allein damit verteidigen, für die Zulassung zu höheren Semestern sei es ein wesentlicher Unterschied, ob die Bewerber vorher für ein fachspezifisches oder für ein nur fachnahes Studium immatrikuliert gewesen seien. Denn beide Bewerbergruppen belasten in dem bereits zurückgelegten Ausbildungsabschnitt die Kapazität nicht mehr; solange der Staat als Inhaber des Ausbildungsmonopols nicht genügend Studienplätze anzubieten vermag, kann es zudem nicht wesentlich sein, wo sich der Bewerber die erforderliche Qualifikation verschafft hat. Ihren vernünftigen und verfassungsrechtlich zu billigenden Sinn findet die Regelung vielmehr in der weiteren, auch für den Verwaltungsgerichtshof maßgeblichen Erwägung, daß sie einer sachgerechten und zumutbaren Auswahl zwischen den konkurrierenden Bewerbern dienen soll, indem sie bei der Besetzung freier Stellen in höheren Semestern denjenigen den Vorrang sichert, die im Unterschied zu Parkstudenten mit anrechenbaren Leistungen die Auswahlkriterien für den fraglichen Studiengang erfüllt haben und wegen ihrer besseren Leistungen, ihrer längeren Wartezeiten oder aus sonstigen Gründen im zentralen Vergabeverfahren vor ihren Mitbewerbern zugelassen worden sind.
Dieses Ziel läßt sich teilweise durch das Aufrückverfahren gemäß § 21 VergabeVO und ferner dadurch erreichen, daß das Freiwerden von Studienplätzen in höheren Semestern durch Schwundquoten bereits prognostisch bei der Bemessung der Anfängerkapazitäten durch entsprechende Zuschläge berücksichtigt wird. Der Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen hat in seiner Stellungnahme auf eine weitere Möglichkeit hingewiesen, wie sie in der nordrhein-westfälischen Verordnung über die Festsetzung von Höchstzahlen für höhere Fachsemester vom 25. Juli 1975 (GVBl S. 510) vorgesehen ist; danach werden freie Plätze in höheren Semestern zunächst von der Hochschule unter entsprechender Anwendung der bundeseinheitlichen Zulassungskriterien und die dann noch verbleibenden Plätze von der Zentralstelle aufgrund

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ihrer Nachrücklisten vergeben. Maßnahmen dieser Art sollen in verfassungskonformer Weise bewirken, daß einerseits in höheren Semestern möglichst kein Studienplatz ungenutzt bleibt und daß andererseits bevorzugt rangbessere Bewerber zum Zuge kommen (vgl BVerfGE 39, 276 [295]).
Werden Maßnahmen dieser Art nicht ergriffen, dann ist in der Regel zu erwarten, daß nach den Anfangssemestern einige Studienplätze ungenutzt bleiben. Im vorliegenden Fall sind für das Bewerbungssemester der Beschwerdeführer (Wintersemester 1974/75) keine Feststellungen über entsprechende Maßnahmen an der Universität F. getroffen worden. Die später für Baden-Württemberg ergangene Höchstzahlenverordnung vom 10. Juni 1975 (GBl S. 485) sieht - abgesehen vom reinen Studienplatzaustausch und der Höherstufung - keinerlei Aufnahmen in höhere medizinische Semester vor (zu Bedenken gegen eine uneingeschränkte Anwendung dieser Verordnung im Einzelfall vgl VGH Baden-Württemberg in einem weiteren Normenkontrollbeschluß vom 8. April 1976 - IX 1813/75 -). Höherstufungen erfolgen an der Universität F. nach ihrer eigenen Darstellung in den ersten Semestern überhaupt nicht. Es ist auch nicht dargetan, daß eine etwaige, bis zum Wintersemester 1974/75 entstandene Schwundquote schon bei den früheren Kapazitätsfestsetzungen in Gestalt eines Zuschlages berücksichtigt worden wäre.
2. Der zuvor genannte Sinn einer Gleichstellung der Studienanfänger und der Bewerber mit anrechenbaren Leistungen bestimmt zugleich die Grenzen, in denen die Regelung verfassungsrechtlich unbedenklich anwendbar ist. Sie steht dem "Quereinstieg" eines Bewerbers mit anrechenbaren Leistungen dann nicht entgegen, wenn im höheren Semester eines Fachs mit bundesweiten Zulassungsbeschränkungen freie Studienplätze vorhanden sind, die nicht an andere rangbessere Bewerber vergeben werden. Insoweit ist die Rechtslage nicht anders zu beurteilen als bei der Vergabe von Studienanfängerplätzen, die infolge unzureichender Kapazitätsausnutzung freigeblieben

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sind. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht schon in früheren, kurz nach Erlaß der angegriffenen Beschlüsse ergangenen Entscheidungen (BVerfGE 39, 258 [269 ff.]; 276 [293]) dargelegt, die Anwendung von Notmaßnahmen zur "Verwaltung eines Mangels" dürfe - auch im Bestreben nach einer möglichst gerechten Bewerberauswahl im Lichte des Gleichheitssatzes - keinesfalls dazu führen, vorhandene Studienplätze überhaupt ungenutzt zu lassen und damit den Mangel zu vergrößern. Die Zulassung eines hochschulreifen Bewerbers dürfe nur mit der Begründung abgelehnt werden, daß die vorhandenen Ausbildungsplätze unter Erschöpfung der Kapazitäten sämtlich ordnungsgemäß besetzt seien, nicht hingegen damit, daß ungenutzte Plätze an andere rangbessere Bewerber hätten vergeben werden müssen. Bestehe im Verwaltungsprozeß die Alternative darin, einen freien Studienplatz entweder dem jeweiligen Kläger zuzusprechen oder aber ihn unter Heranziehung von Auswahlvorschriften ungenutzt zu lassen, dann gebühre dem Teilhaberecht aus Art. 12 Abs. 1 GG der Vorrang vor den aus der Not des Mangels entstandenen Verteilungsmaßstäben.
Diese verfassungsrechtliche Beurteilung liegt auch den angegriffenen Beschlüssen zugrunde. In dem bereits erwähnten Normenkontrollbeschluß vom 8. April 1976 wird sie ausdrücklich bestätigt und daraus zutreffend gefolgert, daß sich auch Bewerber mit nur anrechenbaren Leistungen bei jeder Hochschule um freie Studienplätze in höheren Semestern eines Studiengangs mit bundesweiten Zulassungsbeschränkungen bewerben können; die Hochschule habe dafür zu sorgen, daß derartige Bewerber zum Zuge kämen, wenn die verfügbaren Studienplätze nicht mit rangbesseren oder ranggleichen Bewerbern, die ihnen vorgingen, besetzt würden und daher durch Zeitablauf verloren gingen. In ähnlicher Weise haben ebenfalls andere Oberverwaltungsgerichte die Behandlung von Bewerbern mit anrechenbaren Leistungen als Studienanfänger eingeschränkt und einen "Quereinstieg" zugelassen (vgl. Hess VGH, ESVGH 25, 155, ferner Beschluß vom 18. Juli 1974 - VI Q 30/74 - und Urteil vom

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23. September 1974 - VI OE 13/74 -; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, DÖV 1974, S. 747, sowie Beschluß vom 17. April 1974 - XV B 61/74 - insoweit nicht in DVBl 1974, S. 946 veröffentlicht; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. September 1975 - 2 A 83/75 -).
II.
Der sonach rechtlich mögliche "Quereinstieg" von Bewerbern mit anrechenbaren Leistungen in höhere Semester kommt nach Meinung des Verwaltungsgerichtshofs nicht schon dann in Betracht, wenn in dem entsprechenden Semester infolge einer nicht eingeplanten Schwundquote oder durch nicht vorhersehbare Abweichungen im Studienverhalten einzelne unbesetzte Studienplätze vorhanden sind und nicht anderwärts durch Höherstufung rangbesserer Bewerber genutzt werden. Vielmehr soll Voraussetzung für einen Quereinstieg eine "erhebliche Unterbesetzung" sein, wobei ein rechnerisches Defizit von 4,4% im Vergleich zur Eingangsquote nicht ausreiche. Dieser Auffassung kann nicht zugestimmt werden, da sie das gemäß Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Zulassungsrecht ungerechtfertigt einschränkt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind an Einschränkungen dieses Zulassungsrechts strenge Anforderungen zu stellen. Sie sind nur zum Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes - der Funktionsfähigkeit der Universität als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Studienbetriebs - und nur in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten statthaft (vgl BVerfGE 33, 303 [337 ff.]). Angesichts dieser strengen Maßstäbe läßt sich das Erfordernis einer erheblichen Unterbelegung nicht schon mit dem Prognosecharakter und Wertungscharakter von Kapazitätsberechnungen und damit begründen, solche Berechnungen könnten ohnehin nicht zu einer völligen Übereinstimmung mit der Ausbildungswirklichkeit führen. Dabei kann dahingestellt bleiben,

BVerfGE 43, 34 (46):

ob und inwieweit die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von normativen Höchstzahlfestsetzungen durch deren von Wertungen abhängigen Charakter begrenzt wird (vgl dazu den gemäß § 93a Abs. 3 BVerfGG ergangenen Nichtannahmebeschluß BVerfGE 40, 352). Es braucht im vorliegenden Zusammenhang auch nicht darauf eingegangen zu werden, wie weit der Normgeber bei der Festlegung wertungsabhängiger Eingabegrößen nach der Kapazitätsverordnung und bei der Berechnung von Schwundquoten nach Erfahrungswerten generalisieren und typisieren darf. Soweit nämlich bei normativen Kapazitätsfestsetzungen gewisse Spielräume in Betracht kommen sollten, sind diese bereits vom Normgeber bei der Festlegung der Eingabegrößen und bei deren Anwendung zur konkreten Höchstzahlfestsetzung genutzt worden. Um so weniger besteht dann aber Anlaß, erneut einen Toleranzspielraum anzuerkennen, wenn die tatsächlichen Semesterquoten von diesen Festsetzungen abweichen. Liegen solche Abweichungen vor, dann ist es vielmehr Sache der in Anspruch genommenen Universität, im Einzelfall näher darzulegen, inwiefern im Interesse der Funktionsfähigkeit eine Unterbelegung in höheren Semestern unerläßlich ist. Bei der durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebotenen Abwägung der vorgebrachten Gründe mit den Belangen der Studienbewerber darf dabei nicht außer acht bleiben, daß die Versagung einer Studienzulassung für die Lebensgestaltung jedes einzelnen Betroffenen von folgenschwerer Bedeutung ist. Sofern Bewerber mit anrechenbaren Leistungen kapazitätsbestimmende Engpaßveranstaltungen bereits absolviert haben, sind normalerweise keine gewichtigen Gründe dafür ersichtlich, ihnen freie Studienplätze vorzuenthalten. Liegen die Engpässe erst nach dem Semester, für das die Zulassung begehrt wird, kommt in der Regel das gleiche in Betracht, wenn die Zulassungsquote von diesen Engpässen bestimmt worden ist und die jeweilige Stärke des höheren Semesterjahrgangs darunter bleibt.
Die angegriffenen Beschlüsse unterstellen, daß im zweiten und dritten Fachsemester je 10 freie Studienplätze vorhanden waren

BVerfGE 43, 34 (47):

und durch die beiden Beschwerdeführer hätten besetzt werden können. Diese Plätze durften auch im Rahmen einer summarischen Prüfung nicht ohne näheres Eingehen auf die Gründe für eine derart offensichtliche Unterbesetzung als tolerabel vernachlässigt werden. Die Beschwerdeführer werden vielmehr in ihren Grundrechten verletzt, wenn ihr Antrag auf Zulassung zu einem höheren Semester mit dieser Begründung abgelehnt wird.
Benda Haager Rupp-v. Brünneck Böhmer Simon Faller Hesse Katzenstein