BVerfGE 83, 24 - Polizeigewahrsam


BVerfGE 83, 24 (24):

1. Das gerichtliche Verfahren bei Entscheidungen über die Zulässigkeit oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG) muß darauf angelegt sein, dem Betroffenen vor dem Freiheitsentzug alle diejenigen rechtsstaatlichen Sicherungen zu gewähren, die mit einem justizförmigen Verfahren verbunden sind. Die Eilbedürftigkeit einer solchen Entscheidung kann eine Vereinfachung und Verkürzung des gerichtlichen Verfahrens rechtfertigen, darf aber die unabhängige, aufgrund der Justizförmigkeit des Verfahrens besonders verläßliche Entscheidungsfindung nicht gefährden.
2. Art. 103 Abs. 1 GG gewährt einen Anspruch auf Gehör gerade vor Gericht. Ein Dritter kann Gehör nur vermitteln, wenn er das Vertrauen des Berechtigten genießt oder einer besonderen rechtsstaatlichen Objektivitätspflicht unterworfen ist. Der Berechtigte muß außerdem von der stellvertretenden Entgegennahme von Informationen und der Abgabe von Erklärungen in seinem Namen wissen.
 
Beschluß
des Zweiten Senates vom 30. Oktober 1990
- 2 BvR 562/88 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn H ... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Michael Hofferbert und Ulrich Koch, Schumannstraße 10, Frankfurt am Main 1 - 1. unmittelbar gegen den Beschluß

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des Amtsgerichts Hanau vom 19. März 1988 - 20 XIII 64/88 L -, 2. mittelbar gegen § 47 Satz 2 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Fassung vom 26. Januar 1972 (GVBl. I S. 24).
Entscheidungsformel:
Der Beschluß des Amtsgerichts Hanau vom 19. März 1988 - 20 XIII 64/88 L - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 2 Satz 1 und aus Art. 103 Abs. 1 GG. Der Beschluß wird aufgehoben.
Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
 
Gründe
 
A.
 
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine richterliche Anordnung polizeilichen Gewahrsams.
I.
Die Zulässigkeit polizeilichen Gewahrsams bestimmte sich in Hessen zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt nach § 46 Abs. 1 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 26. Januar 1972 (GVBl. I S. 24) in der Fassung vom 4. September 1974 (GVBl. I S. 361) - HSOG -. Die Vorschrift lautete:
    (1) Die Vollzugspolizei kann jemanden in Verwahrung nehmen
    1. zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben, wenn er sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befindet oder
    2. wenn es unerläßlich ist, um ihn an der unmittelbar bevorstehenden Begehung einer rechtswidrigen Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 Strafgesetzbuch) zu hindern; dies gilt auch für mit Geldbuße bedrohte Handlungen, die eine erhebliche Gefahr oder eine erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung darstellen.
    (2) ...
§ 47 HSOG regelte die richterliche Zuständigkeit und das gerichtliche Verfahren über die Anordnung des Gewahrsams:


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    Über die Zulässigkeit der Verwahrung ist unverzüglich die Entscheidung des Amtsrichters herbeizuführen, in dessen Bezirk die Verwahrung vollzogen wird. Der Amtsrichter entscheidet endgültig. Die Entscheidung des Amtsrichters entfällt, sobald der Verwahrte entlassen ist.
II.
1. Am 19. März 1988 wurden zu einer Großdemonstration in Hanau 15.000 Teilnehmer erwartet. Aufgrund von Erfahrungen mit ähnlichen Demonstrationen richtete die Vollzugspolizei rund um Hanau Vorkontrollstellen ein, an denen sie anreisende Demonstrationsteilnehmer überprüfte. Dort kontrollierte die Polizei auch den Beschwerdeführer und stellte fest, daß gegen ihn in den Jahren 1983 bis 1985 vier Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von strafbaren Handlungen im Zusammenhang mit Demonstrationen anhängig gewesen waren. In drei Fällen war der Beschwerdeführer deshalb vorläufig festgenommen, in einem Fall war er in polizeilichen Gewahrsam genommen worden.
Aufgrund dieser - ihm nach seinen Angaben nicht mitgeteilten - Feststellungen wurde der Beschwerdeführer, der sich durch Bundespersonalausweis ausgewiesen hatte, um 11.40 Uhr in polizeilichen Gewahrsam genommen. Die "Niederschrift über die polizeiliche Verwahrung von Personen" nennt als Gewahrsamsgrund die "Personalienüberprüfung". Dem Beschwerdeführer sei rechtliches Gehör gewährt worden; er habe erklärt, nichts sagen zu wollen. In einem "Begleitschein für festgenommene Personen" ist als Grund für den Gewahrsam vermerkt: "Systembekannt wegen Landfriedensbruchs."
Der Beschwerdeführer wurde im Unterkunftsbereich der Hessischen Bereitschaftspolizei in Mülheim/Main in Gewahrsam gehalten. Die Polizei veranlaßte unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit des Gewahrsams.
2. In dem hierzu am selben Tag ergangenen Beschluß erklärte das Amtsgericht Hanau den Gewahrsam für zulässig. Zur Begründung führte es aus, daß nach dem Antrag der Vollzugspolizei der Beschwerdeführer bei der Anreise zu einer Demonstration festgehalten worden sei, da aufgrund der über ihn vorliegenden Erkennt

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nisse sowie des Gesamteindrucks zu befürchten gewesen sei, daß er an unfriedlichen Aktionen teilnehme. Durch Ankreuzen einer vorgedruckten Alternative brachte es zum Ausdruck, daß die Verwahrung "erforderlich" sei, um den Beschwerdeführer an der unmittelbar bevorstehenden Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung zu hindern. Die bevorstehende Straftat kennzeichnete es durch den Zusatz "§ 125 StGB". In dem Formular wurde ferner angekreuzt, daß die "Anhörung (rechtliches Gehör) durch die verwahrende Dienststelle erfolgt" sei, der Beschwerdeführer aber nach Belehrung gemäß § 55 StPO keine Angaben gemacht habe. Der Beschluß ordnete die Entlassung des Beschwerdeführers um 18.00 Uhr desselben Tages an; dem wurde entsprochen.
III.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluß des Amtsgerichts und rügt eine Verletzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 72, Art. 74 Nr. 1, Art. 31 GG sowie Art. 8, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 1 GG. Zur Begründung trägt er vor:
1. Die Regelung in § 47 Satz 2 HSOG, wonach der Amtsrichter über die Zulässigkeit der Verwahrung endgültig entscheidet, verletze die grundgesetzlichen Vorschriften über die Gesetzgebungskompetenzen, sofern der Landesgesetzgeber durch diese Regelung keine eigene Verfahrensordnung habe schaffen wollen. Der Landesgesetzgeber hätte die im Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und der Strafprozeßordnung vorgesehenen Beschwerdemöglichkeiten nicht einschränken dürfen, da die bundesrechtlichen Regelungen insoweit abschließend seien.
Habe der Landesgesetzgeber hingegen mit der Vorschrift des § 47 HSOG ein eigenständiges Verfahren für den Gewahrsam nach § 46 HSOG schaffen wollen, so sei diese Regelung nicht hinreichend bestimmt. In einem die Freiheit der Person einschränkenden Gesetz seien zumindest die Grundzüge des Verfahrensablaufs, des Inhalts des Verfahrens sowie der Zuständigkeiten aufzunehmen.


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2. Der Amtsrichter hätte ihn anhören müssen. Die Gelegenheit zur Stellungnahme vor der Polizeibehörde und die Weiterleitung dieser Stellungnahme an das Amtsgericht genüge dem Anhörungserfordernis nicht. Allein die persönliche Anhörung durch den Richter selbst gewährleiste, daß dieser beurteilen. Dem Beschwerdeführer seien die Feststellungen der Polizei, die schließlich den amtsgerichtlichen Beschluß herbeigeführt hätten, nicht näher erläutert worden. Bei einer richterlichen Anhörung hätte er erklärt, nicht vorbestraft zu sein. Eventuell hätte er auch von einer Weiterfahrt zum Demonstrationsort Abstand genommen. Der Gewahrsam sei deshalb nicht unerläßlich gewesen.
3. Im übrigen verletze ihn der amtsgerichtliche Beschluß in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 8 GG. Die bloße Vermutung, jemand werde eine rechtswidrige Tat im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB begehen, werde den Anforderungen an eine zulässige Freiheitsbeschränkung nicht gerecht. Ebensowenig rechtfertige die Vermutung, ein Demonstrationsteilnehmer könne sich an rechtswidrigen Aktionen beteiligen, eine Beeinträchtigung seines Rechts auf Teilnahme an der Demonstration.
IV.
Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich die Hessische Landesregierung, das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof geäußert.
1. Die Hessische Landesregierung hält die Regelung des § 47 HSOG für verfassungsrechtlich unbedenklich, da es dem Landesgesetzgeber durch § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO gestattet gewesen sei, die Zuständigkeit des Amtsrichters zu begründen.
Verfassungsrechtlichen Bedenken begegne jedoch das konkrete Verfahren, das zu der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers geführt habe.
Der besondere Rang des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichte nicht zwingend zu einer mündlichen Anhörung. Es

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sei zu berücksichtigen, daß eine gemäß § 47 HSOG getroffene Freiheitsentziehung nur bis zum Ende des auf den Beginn des Gewahrsams folgenden Tages dauern dürfe (§ 48 Abs. 1 HSOG). Die Freiheitsentziehungsgesetze des Bundes und der Länder sähen eine persönliche Anhörung nur für Freiheitsentziehungen mit erheblich längerer Dauer vor.
Aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG ergebe sich jedoch die Verpflichtung des Richters, mit Rücksicht auf das Gewicht des Freiheitsrechts seine Entscheidung auf eine ihrer Bedeutung entsprechende Tatsachengrundlage zu stützen. Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG fordere nicht allein eine formale Legitimation der Freiheitsentziehung, sondern erzwinge eine unabhängige und umfassende Prüfung ihrer Voraussetzungen durch den Richter. Der Sachverhalt bedürfe um so genauerer Feststellung, je schwerer die mit der Entscheidung verbundenen Eingriffe wögen. Der Umfang der Aufklärungspflicht bemesse sich auch nach der Eilbedürftigkeit sowie nach Umfang und Überzeugungskraft des bereits vorliegenden Sachverhaltsmaterials. Diesen Anforderungen genüge die angegriffene Entscheidung nicht.
2. Das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof halten die hier einschlägigen Vorschriften des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung ebenfalls für verfassungsgemäß.
 
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Das Rechtsschutzbedürfnis an einer Entscheidung über die anhängige Verfassungsbeschwerde ist nicht dadurch entfallen, daß der Beschwerdeführer noch am Abend des 19. März 1988 und damit vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde aus dem Gewahrsam entlassen worden ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis auch dann anerkannt, wenn gegen einen die Freiheit entziehenden Hoheitsakt verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz anders nicht erreichbar ist (BVerfGE 10, 302 [308]; 74, 102 [115]; 76, 363 [381]). Die Freiheit der Person wird durch die

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Garantie ihrer Unverletzlichkeit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und durch den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG besonders geschützt. Diesen materiellen und formellen Gewährleistungen wäre nicht genügt, wenn das Recht auf verfassungsgerichtliche Kontrolle einer behaupteten Freiheitsverletzung wegen deren Art und Dauer tatsächlich nicht in Anspruch genommen werden könnte.
 
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung stützt sich zwar auf verfassungsgemäße Vorschriften über das gerichtliche Verfahren bei der Anordnung eines polizeilichen Gewahrsams, genügt jedoch bei deren Anwendung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG.
I.
1. Die Zuweisung der Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer des Gewahrsams an das Amtsgericht gemäß § 47 Satz 1 HSOG sowie die Regelung in § 47 Satz 2 HSOG, nach der die Entscheidung des Amtsrichters endgültig ist, verstoßen nicht gegen Art. 74 Nr. 1, Art. 72 Abs. 1 GG.
Der Bund hat von der ihm in Art. 74 Nr. 1 GG übertragenen konkurrierenden Kompetenz, Organisation und Verfahren der Verwaltungsgerichte zu regeln, abschließend und erschöpfend Gebrauch gemacht (BVerfGE 20, 238 [248]; 29, 125 [137]; 37, 191 [198]). Auch bei erschöpfender Regelung eines Gegenstandes der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz durch den Bund sind landesrechtliche Regelungen jedoch insoweit zulässig, als das Bundesrecht Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung enthält (BVerfGE 20, 238 [251]; 29, 125 [137]). § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO eröffnet dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit, öffentlich- rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art auf dem Gebiet des Landesrechts einem anderen Gericht zuzuweisen. § 47 Satz 1 HSOG betrifft einen solchen Fall.


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Die Ermächtigung des § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO an den Landesgesetzgeber, die dort genannten Streitigkeiten einem anderen Gericht zuzuweisen, begründet auch die Kompetenz, über die fachgerichtlichen Zuständigkeiten für diese Streitigkeiten abschließend zu entscheiden. Im Rahmen dieser Kompetenz darf der Landesgesetzgeber auch eine alleinige und endgültige Zuständigkeit des Amtsgerichts vorsehen. § 47 Satz 2 HSOG verstößt demnach nicht gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes.
2. Der Ausschluß eines Rechtsmittels gegen die richterliche Entscheidung nach § 47 Satz 2 HSOG ist mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar. Diese Garantie eines Gerichtsschutzes gewährleistet keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 11, 232 [233]; st. Rspr.; zuletzt BVerfGE 78, 88 [99]).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich auch aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip kein Anspruch auf eine zweite richterliche Instanz herleiten (BVerfGE 4, 74 [94 f.]). Ebenso beläßt die freiheitssichernde Funktion des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dem Gesetzgeber einen Spielraum bei der Gestaltung des Verfahrens und verpflichtet ihn nicht, ein mehrstufiges gerichtliches Verfahren bei Freiheitsentziehungen bereitzustellen. Stellt er nur eine Instanz zur Verfügung, verstärkt dies allerdings die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gesetzliche Ausgestaltung des Verfahrens im Blick auf die Wahrheitserforschung.
3. § 47 Satz 2 HSOG begegnet im Blick auf Art. 104 GG auch nicht deshalb verfassungsrechtlichen Bedenken, weil er das Verfahren, in dem der Richter über die Zulässigkeit des Gewahrsams entscheidet, nicht näher regelt und daher insoweit - wie es gefestigter Auffassung von Rechtsprechung und Literatur entspricht (vgl. BVerwGE 1, 229 [233]; BGHZ 5, 46 [51]; VG Freiburg, Beschluß vom 22. Dezember 1950, DVBl. 1951, S. 313 [315 f.]; Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand: 1958, Art. 104 Rdnr. 31; H. J. Wolff, Das Verfahren bei Freiheitsentziehungen, DÖV 1951, S. 313 [315]) - die Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend anzuwenden sind. Anders als bei der analogen Heranziehung materiell-rechtlicher

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Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen steht Art. 104 GG der analogen Anwendung von Verfahrensvorschriften nicht entgegen. Im Anwendungsbereich des Art. 104 Abs. 1 GG verfolgt das Analogieverbot den Zweck, den Betroffenen gegen nicht voraussehbare Freiheitsentziehungen zu sichern. Zweck des Art. 104 Abs. 2 GG hingegen ist die Gewährleistung richterlicher Kontrolle. Diese Gewähr wird in hinreichender Weise auch durch analoge Heranziehung von Bestimmungen über das richterliche Verfahren erreicht, sofern damit dem Schutzzweck des Art. 104 GG genügt wird (vgl. BVerfGE 10, 302 [329]; 29, 183 [197]).
Das gerichtliche Verfahren bei Entscheidungen über die Zulässigkeit oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG) muß darauf angelegt sein, dem Betroffenen vor dem Freiheitsentzug alle diejenigen rechtsstaatlichen Sicherungen zu gewähren, die mit einem justizförmigen Verfahren verbunden sind. Die Eilbedürftigkeit einer solchen Entscheidung kann eine Vereinfachung und Verkürzung des gerichtlichen Verfahrens rechtfertigen, darf aber die unabhängige, aufgrund der Justizförmigkeit des Verfahrens besonders verläßliche Entscheidungsfindung nicht gefährden. Dementsprechend hat der Gesetzgeber nach dem Gesetzgebungsauftrag des Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG ein Verfahren zu regeln, das auf den jeweils zur Entscheidung stehenden Freiheitsentzug abgestimmt ist.
Die analoge Anwendung des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit hat zur Folge, daß für die richterliche Entscheidung nach § 47 HSOG vor allem der in § 12 FGG niedergelegte Grundsatz der Amtsermittlung gilt. Damit ist dem Verfassungsgebot der förmlichen Regelung des gerichtlichen Verfahrens bei den hier in Rede stehenden rechtlichen und sachlichen Gegebenheiten genügt. Für die kurzfristig zu treffende richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit eines polizeilichen Gewahrsams in zeitlich eng begrenzter Dauer von höchstens 48 Stunden (vgl. § 48 Abs. 1 HSOG) ist ein eingehender normiertes Verfahren von der Verfassung nicht gefordert. Das gerichtliche Verfahren im Rahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr muß hinreichend flexibel ausgestaltet sein, um den Anforderungen verschiedener Gefahren

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lagen, z.B. der Rettung einer willenlosen Person oder dem Schutz einer Großdemonstration gerecht zu werden. Aus der Verfassung selbst (Art. 104 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG) folgt die Eilbedürftigkeit des Verfahrens, weil jede richterliche Sachaufklärung zeitlich durch das Erfordernis der unverzüglichen Entscheidung beschränkt und einer Entscheidung mit dem Ende des dem Ergreifen folgenden Tages eine äußerste Grenze gesetzt ist. Die Prognose über eine die Freiheitsentziehung rechtfertigende Gefahr kann sich also nur auf die Tatsachenfeststellungen stützen, die innerhalb kurzer Zeit getroffen werden können. Den dargelegten Anforderungen genügt der Amtsermittlungsgrundsatz des § 12 FGG, wenn er dem Schutzzweck des Art. 104 GG entsprechend ausgelegt wird. Nach diesen Erwägungen braucht im Falle des § 47 HSOG von Verfassungs wegen auch nicht ausdrücklich geregelt zu werden, unter welchen Voraussetzungen eine persönliche Anhörung des Betroffenen erforderlich ist.
II.
1. Den Anforderungen des Art. 104 GG ist auch in Eilfällen nicht genügt, wenn sich der Richter in Anwendung des § 12 FGG bei seiner Ermittlungstätigkeit lediglich auf die Prüfung beschränkt, ob die von der Polizei vorgetragenen Gründe für eine Freiheitsentziehung plausibel erscheinen. Der Richter hat nach Art. 104 Abs. 2 GG über die Zulässigkeit der Freiheitsentziehung selbst zu entscheiden und die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß der Gewahrsam unerläßlich ist, um den Betroffenen an der unmittelbar bevorstehenden Begehung einer rechtswidrigen Tat zu hindern (§ 46 Abs. 1 Nr. 2 HSOG, vgl. dazu BVerwGE 45, 51 [56]). Die richterliche Entscheidung wirkt konstitutiv und enthält nicht nur eine Genehmigung oder Bestätigung einer vorgängigen Verwaltungsentscheidung (E. Grabitz, Freiheit der Person, HStR VI, § 130 Rdnr. 25; Dürig, a.a.O., Art. 104 GG Rdnr. 25). Der Richter muß deshalb selbst die Tatsachen feststellen, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen. Die Schwere des Grundrechtseingriffs gebietet insbesondere eine eingehende Prüfung der Erforderlichkeit der freiheitsent

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ziehenden Maßnahme. Als Mittel eigener richterlicher Sachaufklärung stehen bei eilbedürftigen Entscheidungen insbesondere die Akten, die sichergestellten Sachen, die Aussagen der beteiligten Beamten und die persönliche Anhörung des Betroffenen zur Verfügung.
2. Die angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts genügt diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
a) Der Beschluß begründet die Anordnung des Gewahrsams mit der Feststellung, der Gewahrsam sei erforderlich, um den Beschwerdeführer an der unmittelbar bevorstehenden Begehung eines Landfriedensbruchs (§ 125 StGB) zu hindern. Diese Begründung würde den Tatbestandsvoraussetzungen des § 46 Abs. 1 Nr. 2 HSOG und den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für eine Freiheitsentziehung gemäß Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG genügen. Ein unmittelbar bevorstehender Landfriedensbruch würde die geplante Teilnahme des Beschwerdeführers an der Versammlung zu einer unfriedlichen machen, ihn also vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ausnehmen (vgl. BVerfGE 69, 315 [359 f.]; 73, 206 [248]). Die tatsächlichen Feststellungen stützen diese Prognose eines Landfriedensbruchs jedoch nicht.
b) Das Amtsgericht nimmt zur Begründung seiner Entscheidung lediglich auf den Antrag der Polizei Bezug, wonach diese den Beschwerdeführer bei der Anreise zur Demonstration festgehalten habe, da aufgrund der über ihn vorliegenden Erkenntnisse sowie des Gesamteindrucks eine Teilnahme an unfriedlichen Aktionen zu befürchten sei. Eigene Feststellungen des Gerichts über eine frühere unfriedliche oder gesetzwidrige Teilnahme des Beschwerdeführers an Versammlungen liegen seinem Beschluß nicht zugrunde. Die Erwähnung möglicher Quellen für tatsächliche Erkenntnisse deutet weder gerichtsbekannte Tatsachen an noch nimmt sie konkrete polizeiliche Feststellungen beurteilend und wertend auf. Das Gericht hat sich auch keinen Gesamteindruck vom Beschwerdeführer und seinem Vorhaben verschafft, weil es ihn nicht persönlich angehört hat. Es hat also auf jede eigene Tatsachenermittlung verzichtet. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 GG folgende Aufklärungs

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pflicht hätte das Gericht zumindest veranlassen müssen, die polizeilichen Feststellungen über früheres, polizeirechtlich erhebliches Handeln des Beschwerdeführers selbst zur Kenntnis zu nehmen und sich von der Polizei jedenfalls die Tatsachen darlegen und erläutern zu lassen, die eine Gefahrenprognose und Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne des § 46 HSOG ermöglichen.
Auch das vom Gericht verwendete Beschlußformular genügt nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen an die richterliche Anordnung einer Freiheitsentziehung. Das Formular schwächt die tatbestandliche Voraussetzung des Unerläßlichen in § 46 Abs. 1 Nr. 2 HSOG zum bloßen Maßstab des Erforderlichen ab und mindert damit deutlich die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Außerdem wird nach dem Formular der Gewahrsam "gemäß § 47 HSOG richterlich genehmigt". Die Entscheidung über die Freiheitsentziehung ist jedoch konstitutiv und von rechtserheblichen Vorentscheidungen der Polizeibehörde unabhängig. Grundsätzlich liegt nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG bereits die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung in der Verantwortlichkeit des Richters.
III.
Der Beschluß des Amtsgerichts verletzt zugleich den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör.
1. Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Beteiligten ein Recht zur Äußerung über Tatsachen, Beweisergebnisse und die Rechtslage (vgl. BVerfGE 60, 175 [210]; 64, 135 [143]) und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 60, 247 [249]; 70, 288 [293]). Das rechtliche Gehör soll dem Betroffenen Gelegenheit geben, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluß zu nehmen. Deshalb ist in der Regel nur eine vorherige Anhörung sinnvoll (BVerfGE 9, 89 [96]). Eine Ausnahme gilt nur, wenn eine vorherige Anhörung den Zweck der Maßnahme vereitelte (vgl. BVerfGE 9, 89 [98];

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57, 346 [358 f.]) oder wenn die Entscheidung nach vorheriger Anhörung zu spät käme (vgl. BVerfGE 65, 227 [233 f.]).
Art. 103 Abs. 1 GG gewährt einen Anspruch auf Gehör gerade vor Gericht. Ein Dritter kann Gehör nur vermitteln, wenn er das Vertrauen des Berechtigten genießt oder einer besonderen rechtsstaatlichen Objektivitätspflicht unterworfen ist. Der Berechtigte muß außerdem von der stellvertretenden Entgegennahme von Informationen und der Abgabe von Erklärungen in seinem Namen wissen. Im Regelfall eines nicht eilbedürftigen Gerichtsverfahrens kann das rechtliche Gehör nicht durch die Behörde vermittelt werden, deren Maßnahme in dem Gerichtsverfahren überprüft werden soll. Eine Aussage vor der Polizei entspricht daher selbst in Eilverfahren nur dann den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG, wenn der Betroffene weiß, daß seine Äußerung für das Gericht bestimmt ist.
2. Den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG wäre hier nach allem nur genügt worden, wenn der Beschwerdeführer erkennbar seine Erklärung für das Gericht bestimmt hätte und ihm dabei bewußt gewesen wäre, daß er mit seinen Aussagen auf die ihn betreffende richterliche Entscheidung gestaltend einwirken konnte. Der angegriffene Beschluß bestätigt jedoch - formularmäßig - lediglich, daß der Beschwerdeführer durch die Polizei angehört worden ist. Ob er dort zu Wort gekommen ist, um Einfluß auf das gerichtliche Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können, ist nicht ersichtlich.
IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Böckenförde Klein Graßhof Kruis Franßen Kirchhof Winter