BVerfGE 85, 69 - Eilversammlungen


BVerfGE 85, 69 (69):

1. § 14 VersG ist im Blick auf Art. 8 GG verfassungskonform dahin auszulegen, daß Eilversammlungen anzumelden sind, sobald die Möglichkeit dazu besteht.
2. § 26 Nr. 2 VersG genügt auch für Eilversammlungen den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG).
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 23. Oktober 1991
-- 1 BvR 850/88 --
in den Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn L... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Wolfgang Schreiner, Günter Urbanczyk und Peter Klein, Tattersallstraße 35, Mannheim 1 - gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 2. Mai 1988 - 3 Ss 163/87 -, b) das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 30. Juni 1987 - (15) 5 Ns 20/87 -, c) das Urteil des Amtsgerichts Mannheim vom 20. Oktober 1986 - 22 Ds 26/86 -.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
 
Gründe:
Der Beschwerdeführer ist wegen Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung unter freiem Himmel bestraft worden. Dagegen wendet sich seine Verfassungsbeschwerde.
 
A.
1. Der Beschwerdeführer war Unterzeichner eines Schreibens vom Mittwoch, dem 29. Januar 1986, das sich "An die Apartheidgegner - politische und kulturelle Organisationen in Mannheim" richtete und mit dem der "Mannheimer Arbeitskreis gegen Apartheid" zu einer Protestversammlung gegen eine am 3. Februar 1986 beginnende Reise deutscher Polizeibeamter nach Südafrika aufrief. Auf dem Schreiben war die private Telefonnummer des Beschwerdeführers angegeben, ferner die Telefonnummer der "Grünen im Rat", zu denen der Beschwerdeführer gehörte. Die Versammlung wurde nicht angemeldet. Am 3. Februar 1986 fanden sich um die Mittagszeit etwa 20 Personen, darunter der Beschwerdeführer, am

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Mannheimer Hauptbahnhof ein. Einige waren mit Trommeln, Trillerpfeifen und Transparenten ausgerüstet. Die Versammlung verlief friedlich und ohne Zwischenfälle. Nach Abfahrt der Polizeibeamten löste sich die Gruppe der Demonstranten auf.
2. Das Amtsgericht hat den Beschwerdeführer für schuldig befunden, als Veranstalter und Leiter eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel ohne Anmeldung durchgeführt zu haben (§ 26 Nr. 2, § 14 VersG), und ihn zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 35 DM verurteilt. In den Gründen hat es ausgeführt, daß der Beschwerdeführer zumindest Mitveranstalter der Versammlung gewesen sei und sie geleitet habe. Auf die Frage, ob die Versammlung unter Wahrung der Frist des § 14 Abs. 1 VersG hätte angemeldet werden können, komme es nicht an. Entscheidend sei allein, daß überhaupt keine Anmeldung stattgefunden habe.
Das Landgericht hat den Schuldspruch des Amtsgerichts insoweit aufgehoben, als dieses den Beschwerdeführer auch als Leiter der Versammlung verurteilt hatte, und die Höhe des Tagessatzes auf 25 DM herabgesetzt. Der Beschwerdeführer sei für den Aufruf verantwortlich und für die Anmeldung mitverantwortlich gewesen. Er habe zumindest damit gerechnet, daß die Versammlung auch von keinem anderen Mitglied des Arbeitskreises angemeldet worden sei. Er habe dies jedoch um der Protestaktion willen billigend in Kauf genommen. Die Strafvorschrift des § 26 Nr. 2 VersG hat das Landgericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 23, 59) für verfassungsmäßig erachtet.
Das Oberlandesgericht hat die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet verworfen.
3. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 8 und Art. 103 Abs. 2 GG durch die angegriffenen Entscheidungen. Er hält § 26 Abs. 2 VersG für verfassungswidrig. Zumindest hätten die Strafgerichte bei seiner Auslegung die Bedeutung von Art. 8 GG verkannt. Es sei allgemein anerkannt, daß ein uneingeschränktes Verbot von sogenannten Spontanversammlungen in den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit eingreife. § 14 VersG sei deshalb verfassungskonform dahingehend auszulegen, daß die Anmeldefrist von 48 Stunden nur dann eingehalten werden müsse,

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wenn dies nach den objektiven Umständen unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Versammlung möglich sei. Die Durchführung einer nicht angemeldeten Spontanversammlung könne deshalb nicht strafbar sein. Dagegen komme bei § 26 Nr. 2 VersG eine verfassungskonforme Interpretation nicht in Betracht, weil dessen Wortlaut eindeutig sei. Eine Auslegung gegen den Wortlaut dürfe nicht vorgenommen werden, so daß die Norm im ganzen nichtig sei. Im übrigen laufe sein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit leer, wenn man das ihm vorgeworfene Verhalten als strafwürdig ansehe. Es sei nicht nachgewiesen worden, daß er für die Verbreitung des Aufrufs gesorgt habe; es sei nicht einmal festgestellt, daß der Aufruf überhaupt verbreitet worden sei. Das ihm vorgeworfene Verhalten beschränke sich darauf, daß er auf eine entsprechende Anfrage eines Polizeibeamten die Verantwortung für die Versammlung nicht von sich gewiesen habe.
4. Der Bundesminister des Innern ist der Auffassung, daß sich die Frage der Anwendbarkeit von § 26 Nr. 2 VersG auf Spontanversammlungen im vorliegenden Fall nicht stelle, weil die Versammlung entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keine Spontanversammlung gewesen sei.
Das Justizministerium Baden-Württemberg hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig. Zwar rüge der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit des § 26 Nr. 2 VersG, weil diese Strafbestimmung auch Spontanversammlungen erfasse. Er habe jedoch keine konkreten Umstände dafür vorgetragen, daß es sich bei der Versammlung um eine Spontanversammlung gehandelt habe und daß ihm eine Anmeldung nicht möglich gewesen sei.
 
B. -- I.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Entgegen der Auffassung des Baden-Württembergischen Justizministeriums scheitert ihre Zulässigkeit nicht daran, daß die Protestaktion keine Spontanversammlung war. Wenn § 26 Nr. 2 VersG verfassungswidrig und nichtig ist, verletzt eine Bestrafung, die auf dieser Vorschrift beruht, den Beschwerdeführer zumindest in seinem Grundrecht aus Art. 2

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Abs. 1 GG, ohne daß es auf die Eigenart der Versammlung ankäme. Eine Verfassungswidrigkeit von § 26 Nr. 2 VersG liegt nicht von vornherein außerhalb des Möglichen.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist aber nicht begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten. § 26 Nr. 2 VersG, der seiner Verurteilung zugrunde liegt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Auslegung und Anwendung durch die Strafgerichte lassen sich verfassungsrechtlich nicht beanstanden.
1. § 26 Nr. 2 VersG genügt dem Bestimmtheitsgebot von Art. 103 Abs. 2 GG und ist nach seinem Regelungsgehalt bei verfassungskonformer Auslegung des § 14 VersG auch mit Art. 8 GG vereinbar.
Die Vorschriften lauten:
    "§ 26
    Wer als Veranstalter oder Leiter
    (1) ...
    (2) eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug ohne Anmeldung (§ 14) durchführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
    § 14
    (1) Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden.
    (2) In der Anmeldung ist anzugeben, welche Person für die Leitung der Versammlung oder des Aufzuges verantwortlich sein soll."
Nach Art. 103 Abs. 2 GG darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dabei erschöpft sich die Bedeutung dieses grundrechtsgleichen Rechts nicht in dem Erfordernis, daß zur Tatzeit überhaupt eine gesetzliche Strafbestimmung für die Tat vorhanden ist. Diese

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muß vielmehr auch die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret umschreiben, daß der Einzelne die Möglichkeit hat, das durch die Strafnorm ausgesprochene Verbot eines bestimmten Verhaltens zu erkennen und die staatliche Sanktion im Fall der Übertretung vorherzusehen. Art. 103 Abs. 2 GG will damit zum einen sicherstellen, daß jedermann sein Verhalten auf die Rechtslage einrichten kann und keine willkürlichen staatlichen Reaktionen befürchten muß. Zum anderen soll gewährleistet werden, daß über die Strafbarkeit eines Verhaltens der Gesetzgeber und nicht der Richter entscheidet (vgl. BVerfGE 25, 269 [285]; 47, 109 [120]).
Dadurch wird allerdings nicht die Verwendung auslegungsfähiger Begriffe ausgeschlossen. Es genügt vielmehr, wenn sich deren Sinn im Regelfall mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden ermitteln läßt und in Grenzfällen dem Adressaten zumindest das Risiko der Bestrafung erkennbar wird. Dabei zieht der Wortlaut der Norm der Auslegung die äußerste Grenze. Führt erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Interpretation zu dem Ergebnis der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens, so kann dies nicht zu Lasten des Bürgers gehen (vgl. BVerfGE 45, 363 [371 f.]; 47, 109 [121]; 71, 108 [114]). Damit wird jede Auslegung einer Strafbestimmung ausgeschlossen, die den Inhalt der gesetzlichen Sanktionsnorm erweitert und damit Verhaltensweisen in die Strafbarkeit einbezieht, die die Tatbestandsmerkmale der Norm nach deren möglichem Wortsinn nicht erfüllen. Dagegen sind restriktive Interpretationen unter Bestimmtheitsgesichtspunkten unbedenklich, wenn gewährleistet ist, daß für die Normadressaten erkennbar bleibt, welches Verhalten eine Bestrafung nach sich ziehen kann und welches nicht.
Gemessen an diesen Grundsätzen läßt sich § 26 Nr. 2 VersG verfassungsrechtlich nicht beanstanden. Die Vorschrift gehört zum Nebenstrafrecht. Sie weicht allerdings von typischen Normen des Nebenstrafrechts insofern ab, als sie nicht schon einen Verstoß gegen die Anmeldepflicht des § 14 VersG, sondern erst die Durchführung einer unangemeldeten Versammlung unter Strafe stellt. Diese Abweichung hat ihren Grund aber darin, daß die Unterlassung der Anmeldung nur dann Bedeutung erlangt, wenn die Ver

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sammlung tatsächlich stattfindet. Der Bezug zu der Anmeldepflicht selbst, den die Vorschrift durch den eingeklammerten Hinweis auf § 14 VersG herstellt, wird dadurch nicht aufgehoben. Insofern läßt sich die Strafvorschrift nicht ohne die verwaltungsrechtliche Bestimmung verstehen. Die Verfassungsmäßigkeit von § 26 Nr. 2 VersG kann daher nur unter Einbeziehung von § 14 VersG beurteilt werden.
§ 14 VersG ist seinerseits bei verfassungskonformer Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat, verstößt die Rechtspflicht, Versammlungen unter freiem Himmel vor ihrer Bekanntgabe anzumelden, grundsätzlich nicht gegen Art. 8 GG. Die Vorschrift hat den Sinn, den Behörden diejenigen Informationen zu vermitteln, die sie benötigen, um Vorkehrungen zum störungsfreien Verlauf der Veranstaltung und zum Schutz von Interessen Dritter oder der Gesamtheit treffen zu können (vgl. BVerfGE 69, 315 [350]). Sie soll überdies auf eine Verständigung zwischen Veranstaltern und Ordnungsbehörden hinwirken, die eine kooperative Festlegung von Veranstaltungsplan und Ordnungsvorkehrungen begünstigt, und damit dem störungsfreien Verlauf der Versammlung dienen. Insofern behält die Anmeldepflicht auch bei Versammlungen ihren Sinn, die den Ordnungsbehörden bereits aus anderen Quellen bekannt geworden sind (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 358 f.).
Auch die in § 14 VersG vorgesehene Anmeldefrist von 48 Stunden vor Bekanntgabe der Versammlung läßt sich für den Regelfall verfassungsrechtlich nicht beanstanden. Sie gibt der Verwaltung die Möglichkeit, erforderlichenfalls Auflagen zu Ort und Zeit der Versammlung anzuordnen, die dann bereits bei der Bekanntgabe berücksichtigt werden können. Sehen sich die Ordnungsbehörden zu einem Verbot der Versammlung gezwungen, so kann dieses ausgesprochen werden, bevor noch öffentlich für die Teilnahme an der Versammlung geworben worden ist. Das rechtfertigt die Frist unter dem Gesichtspunkt von Art. 8 GG.
Allerdings bedarf § 14 VersG der Einschränkung. Die Anmeldepflicht erstreckt sich nach seinem Wortlaut unterschiedslos auf sämtliche Versammlungen unter freiem Himmel. Das kann jedoch,

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wie das Bundesverfassungsgericht schon früher festgestellt hat, nicht für Spontanversammlungen gelten. Darunter sind Versammlungen zu verstehen, die sich aus einem momentanen Anlaß ungeplant und ohne Veranstalter entwickeln. Eine Anmeldung ist hier aus tatsächlichen Gründen unmöglich. Ein Beharren auf der Anmeldepflicht des § 14 VersG müßte folglich zur generellen Unzulässigkeit von Spontanversammlungen führen. Das wäre mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht vereinbar (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 350 f.).
Dagegen ist bisher nicht entschieden worden, wie es sich mit sogenannten Eilversammlungen verhält. Darunter werden Versammlungen verstanden, die im Unterschied zu Spontanversammlungen zwar geplant sind und einen Veranstalter haben, aber ohne Gefährdung des Demonstrationszwecks nicht unter Einhaltung der Frist des § 14 VersG angemeldet werden können. Würde gleichwohl auf der in § 14 VersG vorgeschriebenen Frist beharrt, so hätte das zur Folge, daß auch Eilversammlungen von vornherein unzulässig wären. Dieses Ergebnis wäre aber gleichfalls mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit unvereinbar.
Anders als bei Spontanversammlungen ist bei Eilversammlungen allerdings nicht die Anmeldung überhaupt, sondern lediglich die Fristwahrung unmöglich. Daher bedarf es hier keines Verzichts auf die Anmeldung, sondern nur einer der Eigenart der Versammlung Rechnung tragenden Verkürzung der Anmeldefrist. Eilversammlungen sind bei verfassungskonformer Interpretation von § 14 VersG folglich anzumelden, sobald die Möglichkeit dazu besteht. Regelmäßig wird das etwa zeitgleich mit dem Entschluß, eine Versammlung zu veranstalten, spätestens mit dessen Bekanntgabe der Fall sein.
Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit droht durch diese Auslegung keine Schmälerung. Die Gefahr, daß sich bei einer verfassungskonformen Interpretation von § 14 VersG, die am Wortlaut der Vorschrift nichts ändert, potentielle Veranstalter aus Furcht vor strafrechtlichen Sanktionen von der Organisation einer Eilversammlung abschrecken lassen, ist gering zu veranschlagen. Sie zwingt nicht dazu, auf die verfassungskonforme Interpretation zu

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verzichten und § 14 VersG stattdessen für teilweise unvereinbar mit Art. 8 GG zu erklären.
Daß § 14 VersG einer verfassungskonformen Auslegung bedarf, nimmt der Strafvorschrift des § 26 Nr. 2 VersG, die sich auf ihn bezieht, nicht die erforderliche Bestimmtheit. Die verfassungskonforme Interpretation von § 14 VersG zieht den Kreis strafbaren Verhaltens nicht weiter, sondern enger. Für Spontanversammlungen entfällt die Anmeldepflicht. Für Eilversammlungen verkürzt sich die Anmeldefrist. In diesem Fall kann eine Bestrafung folglich nicht auf die Versäumung der gesetzlichen Frist gestützt werden. Strafrechtlich relevant ist die versäumte Anmeldung vielmehr nur noch, soweit die Möglichkeit der Anmeldung bestand. Damit wird der Vorschrift kein neues Tatbestandsmerkmal hinzugefügt, sondern nur ein vorhandenes, die Fristbestimmung, gemildert. Die Norm bringt aber gleichwohl hinreichend zum Ausdruck, daß Versammlungen, bei denen sich die Frist des § 14 VersG nicht einhalten läßt, deswegen nicht von der Anmeldepflicht überhaupt befreit sind. Für den Normadressaten ist damit das Risiko der Strafbarkeit bei Nichtanmeldung mit der von Art. 103 Abs. 2 GG geforderten Klarheit erkennbar.
2. Auslegung und Anwendung des Versammlungsgesetzes durch die Strafgerichte begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Die Anwendung der Strafnorm des § 26 Nr. 2 VersG auf den Beschwerdeführer ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Bei der Versammlung, zu der der Beschwerdeführer aufgerufen hat, handelte es sich nicht um eine Spontanversammlung, sondern um eine geplante Versammlung mit einem Veranstalter, wie sich aus seinem Aufruf ergibt. Selbst wenn die Protestaktion als Eilversammlung anzusehen wäre, weil die Wahrung der Frist des § 14 VersG wegen des zwischen der Bekanntgabe und dem Aktionstag liegenden Wochenendes das Demonstrationsziel gefährdet hätte, wären der Beschwerdeführer oder der Arbeitskreis, in dessen Namen er auftrat, doch nicht daran gehindert gewesen, die Versammlung überhaupt anzumelden.
Anhaltspunkte dafür, daß die Gerichte bei der Auslegung von

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§ 26 Nr. 2 VersG das Recht aus Art. 8 GG grundsätzlich verkannt hätten, sind nicht ersichtlich. Im übrigen unterliegen ihre tatsächlichen Feststellungen und die daraus gezogenen rechtlichen Schlüsse nicht der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 18, 85 [92]).
Herzog, Henschel, Seidl, Grimm, Söllner, Dieterich, Kühling, Seibert
 
Abweichende Meinung der Richterin Seibert und des Richters Henschel zu der Senatsentscheidung vom 23. Oktober 1991 - 1 BvR 850/88 -
Mit der Senatsmehrheit sind wir der Auffassung, daß die in § 14 VersG vorgesehene 48-Stunden-Frist im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG für Eilversammlungen nicht gilt. Die von der Mehrheit in die Vorschrift hineininterpretierte Verkürzung der Anmeldefrist überschreitet aber die Grenzen verfassungskonformer Auslegung und trägt vor allem dem wegen der Strafbewehrung durch § 26 Nr. 2 VersG zu beachtenden Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht Rechnung.
1. § 14 VersG verpflichtet jeden, der die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, dies "spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe" der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes anzumelden. Eine Ausnahme für Eilversammlungen ist nicht vorgesehen. Der Wortlaut der Vorschrift gibt auch keinerlei Ansatz dafür, Eilversammlungen aus ihrem Anwendungsbereich auszunehmen oder die Anmeldefrist für sie zu verkürzen. Während aus dem Begriff "veranstalten" geschlossen werden kann, daß Spontanversammlungen von der Vorschrift nicht erfaßt werden, weil sie keinen Veranstalter haben, sind bei Eilversammlungen alle gesetzlichen Tatbestandsmerkmale erfüllt, so daß sich die fristgebundene Anmeldepflicht auch auf sie erstreckt.


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Da dies zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung der Versammlungsfreiheit führen würde, ist die Vorschrift verfassungswidrig, soweit sie für Eilversammlungen keine Ausnahme vorsieht oder abweichende Regelungen enthält. Einer verfassungskonformen Auslegung steht der klare Wortlaut entgegen (vgl. BVerfGE 72, 278 [295] m.w.N.).
2. Unabhängig davon muß die verfassungskonforme Auslegung jedenfalls dort ihre Grenzen finden, wo sie der Sache nach auf eine richterrechtliche Ergänzung des Straftatbestandes hinausläuft.
Auch wenn man nicht der Auffassung folgt, daß § 14 Abs. 1 VersG teilweise verfassungswidrig ist, entsteht bei Beachtung der Versammlungsfreiheit eine Regelungslücke. Eine besondere Fristbestimmung für Eilversammlungen enthält § 14 Abs. 1 VersG nicht. Die Annahme, daß die Anmeldung in diesen Fällen so früh wie möglich, spätestens gleichzeitig mit der Bekanntgabe zu erfolgen habe, läßt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht herleiten. Der Sache nach handelt es sich bei der Verkürzung der Anmeldefrist um eine richterrechtliche Ergänzung der Tatbestandsvoraussetzungen, die zwar dem Gesetzeszweck und dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entsprechen mag, sich aber nicht mehr im Rahmen des Wortlautes hält.
Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet nicht nur den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich des Straftatbestandes erkennbar sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen, sondern setzt auch der Auslegung Grenzen. Für die Bestimmtheit einer Strafnorm ist in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes maßgebend. Das Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit schließt eine Strafbegründung durch Analogie oder aufgrund Gewohnheitsrecht aus. Der Begriff "Analogie" ist dabei nicht im engeren, technischen Sinne zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede "Rechts-Anwendung", die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht (BVerfGE 71, 108 [115] m.w.N.).
Die von der Senatsmehrheit vorgenommene Auslegung überschreitet diese Grenzen. Sie läßt sich auch nicht mit der Begründung

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rechtfertigen, daß sie den Kreis strafbaren Verhaltens nicht weiter, sondern enger fasse. Die im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG gebotene Erleichterung der Voraussetzungen für Eilversammlungen führt zwar zwangsläufig zu einer Reduzierung möglicher Verstöße, nicht aber zu einer hinreichenden Bestimmtheit des Straftatbestandes für Eilversammlungen.
Zwar schließt Art. 103 Abs. 2 GG die Verwendung auslegungsbedürftiger Begriffe in Strafnormen und deren richterrechtliche Konkretisierung nicht aus. Hier geht es jedoch nicht darum, daß der Gesetzgeber auslegungsbedürftige Begriffe verwendet hat. Die Strafnorm des § 26 Nr. 2 in Verbindung mit § 14 VersG ist vielmehr in ihrer Tragweite für Eilversammlungen deshalb unklar, weil der Gesetzgeber bei der Formulierung des - insoweit eindeutigen - Gesetzestextes der Versammlungsfreiheit nicht ausreichend Rechnung getragen hat und die verfassungsrechtlich gebotene Korrektur zu einer Regelungslücke führt.
Diese vom Gesetzgeber verschuldete Unklarheit darf nicht zu Lasten des Normadressaten gehen. Seinem rechtsstaatlichen Schutz dient der strenge Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG. Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten strafbar ist (vgl. BVerfGE 71, 108 [114]). Wer eine Eilversammlung plant, kann aber dem Wortlaut der §§ 26 Nr. 2 und 14 Abs. 1 VersG nicht entnehmen, wann er sich strafbar macht. Nimmt er den Gesetzestext "beim Wort", kann er die Versammlung überhaupt nicht durchführen, da ihm die Einhaltung der vorgeschriebenen Anmeldefrist nicht möglich ist. Läßt er sich durch den Wortlaut der Vorschrift nicht abschrecken, weil er die Verfassungswidrigkeit einer so weitgehenden Regelung erkennt, kann er im Gesetz keine Aussage darüber finden, ob und gegebenenfalls wann er die Eilversammlung anmelden muß. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die erforderliche Klarheit zu schaffen.
Seibert, Henschel