BVerfGE 122, 304 - Wahlprüfungsbeschwerde nach Bundestagsauflösung


BVerfGE 122, 304 (304):

Im Wahlprüfungsverfahren kann auch nach Ablauf einer Wahlperiode ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsgemäßheit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat.
 
Beschluss
des Zweiten Senats vom 15. Januar 2009
-- 2 BvC 4/04 --
in dem Verfahren über die Wahlprüfungsbeschwerde des Herrn S. . .
gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 6. November 2003 -- WP 206/02 --, BTDrucks 15/1850, S. 57 ff. [Anlage 11]; Stenografischer Bericht vom 6. November 2003, S. 6188 B ff.
Entscheidungsformel:
Die Wahlprüfungsbeschwerde hat sich erledigt.
 
Gründe:
 
I.
1. Der Beschwerdeführer erhob mit Schreiben vom 22. November 2002 und ergänzenden Schreiben vom 22. Mai 2003, 29. Mai 2003 und 25. Juni 2003 beim Deutschen Bundestag Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag am 22. September 2002.
Zur Begründung machte er geltend, das gesamte Wahlrecht sei verfassungswidrig, weil es nicht in der Verfassung selbst normiert sei. Die in Art. 38 Abs. 2 Halbsatz 1 GG geregelte Altersgrenze für das aktive Wahlrecht verletze die Wahlrechtsgrundsätze. Gleiches gelte für die Fünf-Prozent-Sperrklausel (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG), die Zuteilung von Überhangmandaten (§ 6 Abs. 5 BWG), die Aufstellung "starrer" Landeslisten (§ 27 Abs. 1 BWG) und die Verbindung von Verhältnis- und Personenwahl. Die auf der Grundlage von § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG vorgenommene Berücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern, die in zwei Berliner Wahlkreisen mit ihrer Erststimme der jeweiligen Wahlkreiskandidatin der Partei

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des Demokratischen Sozialismus (PDS) zu einem Mandat verholfen, mit ihrer Zweitstimme jedoch für eine andere Landesliste gestimmt haben (sogenannte Berliner Zweitstimmen), verstoße gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Darüber hinaus sei es im Vorfeld der Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag durch ein Täuschungsverhalten von Regierungsmitgliedern zu erheblichen Einflussnahmen auf die Wähler gekommen. Die Bundesregierung habe ferner durch Veröffentlichungen vor der Wahl ihre Pflicht zur Wahrung parteipolitischer Neutralität verletzt. Auch der Einfluss auf die Willensbildung der Wähler durch Meinungsumfragen unmittelbar vor der Wahl sei verfassungswidrig. Zudem sei die aufgrund einer Verletzung von Rechenschaftspflichten unzulässige Finanzierung von Wahlwerbung durch die Freie Demokratische Partei (FDP) für den Wahlausgang maßgeblich gewesen. Schließlich stelle eine rechtswidrige Datennutzung seitens der Christlich Demokratischen Union (CDU) für Wahlkampfzwecke einen Wahlfehler dar.
2. Der Deutsche Bundestag wies den Wahleinspruch in seiner 72. Sitzung vom 6. November 2003 als offensichtlich unbegründet zurück (vgl. Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 23. Oktober 2003, BTDrucks 15/1850, S. 57 ff. [Anlage 11]; Stenografischer Bericht vom 6. November 2003, S. 6188 B ff.).
3. Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 5. Januar 2004 erhobene Beschwerde. Sie wird von mehr als einhundert Wahlberechtigten unterstützt. Der Beschwerdeführer wiederholt seine Rügen aus dem Einspruchsverfahren.
4. Am 21. Juli 2005 hat der Bundespräsident den 15. Deutschen Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 GG aufgelöst (BGBl. I S. 2169). Am 18. September 2005 hat die Wahl zum 16. Deutschen Bundestag stattgefunden und der 16. Deutsche Bundestag hat sich konstituiert.
Der Beschwerdeführer verfolgt seine Beschwerde weiter.
II.
Die Wahlprüfungsbeschwerde hat sich erledigt.
1. Das Wahlprüfungsverfahren soll die gesetzmäßige Zusam

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mensetzung des Deutschen Bundestages gewährleisten (vgl. BVerfGE 1, 430 [433]; 103, 111 [134]; stRspr). Da der 15. Deutsche Bundestag aufgelöst worden ist und sich ein neuer Bundestag konstituiert hat, kann eine Entscheidung über die Wahlprüfungsbeschwerde keine Auswirkungen mehr auf die ordnungsgemäße Zusammensetzung des 15. Deutschen Bundestages haben. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist insoweit gegenstandslos geworden (vgl. BVerfGE 22, 277 [280 f.]; 34, 201 [203]).
2. Das Bundesverfassungsgericht bleibt grundsätzlich auch nach der Auflösung eines Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode befugt, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde erhobenen Rügen der Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen und wichtige wahlrechtliche Zweifelsfragen zu prüfen.
a) Ob eine Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt wird, obliegt der freien Entscheidung jedes Beschwerdeberechtigten. Das Bundesverfassungsgericht kann nicht von Amts wegen tätig werden. Die Wahlprüfungsbeschwerde hat demgemäß eine Anstoßfunktion. Über den weiteren Verlauf des überwiegend objektiven Verfahrens (vgl. BVerfGE 34, 81 [97]) entscheidet jedoch das Bundesverfassungsgericht. Insoweit kommt es auf das öffentliche Interesse an (vgl. BVerfGE 89, 291 [299]).
b) Nach Ablauf einer Wahlperiode kann ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsgemäßheit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat.
aa) Die strikte rechtliche Regelung der Vorbereitung und Durchführung der Wahl und eine Kontrolle der Anwendung dieser Vorschriften entsprechen der Bedeutung der Wahl zum Deutschen Bundestag als Ausgangspunkt aller demokratischen Legitimation wie auch der Gewährleistung des aktiven und passiven Wahlrechts durch Art. 38 GG (vgl. BVerfGE 89, 243 [250 f.]). In der durch das Grundgesetz verfassten freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20

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Abs. 2 Satz 1 GG). Das Volk übt sie in Wahlen und Abstimmungen aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Im demokratisch verfassten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen (vgl. BVerfGE 97, 317 [323]); die Wahlen zur Volksvertretung sind der Grundakt demokratischer Legitimation (vgl. BVerfGE 44, 125 [142]). Die Ausübung des Wahlrechts stellt sich essentiell als Teilhabe an der Staatsgewalt, als ein Stück Ausübung von Staatsgewalt im status activus dar (vgl. BVerfGE 8, 104 [115]; 83, 60 [71]).
bb) Das Bundesverfassungsgericht prüft im Wahlprüfungsverfahren nicht nur den angegriffenen Beschluss des Deutschen Bundestages in formeller Hinsicht und darauf, ob Vorschriften des materiellen Rechts zutreffend angewandt worden sind (vgl. BVerfGE 97, 317 [322]), sondern darüber hinaus, ob das angewandte Wahlgesetz mit der Verfassung in Einklang steht (vgl. BVerfGE 16, 130 [136]; 21, 200 [204]; 34, 81 [95]). Als letzte und in der Regel einzige Instanz hat das Bundesverfassungsgericht im Wahlprüfungsverfahren eine mittelbare Normenkontrolle angewandter Wahlrechtsnormen durchzuführen. Der Deutsche Bundestag prüft in ständiger Übung im Einspruchsverfahren nicht abschließend die Verfassungsmäßigkeit der angewandten Wahlrechtsnormen (vgl. nur BTDrucks 15/1150, S. 1; 16/1800, S. 229). Ihm fehlt insoweit die Verwerfungskompetenz. Eine Pflicht des Deutschen Bundestages zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen im Wahleinspruchsverfahren besteht dementsprechend nicht (vgl. BVerfGE 121, 266 [290 f.]).
cc) Wahlrechtsvorschriften entfalten über die jeweilige Wahlperiode hinaus solange Wirkung, bis sie vom Gesetzgeber geändert oder vom Bundesverfassungsgericht für nichtig oder für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt werden. Die Fortsetzung einer durch die Wahlprüfungsbeschwerde veranlassten mittelbaren verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle liegt daher grundsätzlich auch nach Ablauf der Wahlperiode im öffentlichen Interesse. Gleiches gilt für sonstige wahlrechtliche Zweifelsfragen, die über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung haben.


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c) Ein öffentliches Interesse an einer Sachentscheidung nach Ablauf der Wahlperiode besteht nicht, soweit eine Wahlprüfungsbeschwerde von Anfang an unzulässig ist. Insoweit wäre auch vor Ablauf der Wahlperiode keine Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen.
Das öffentliche Interesse an einer Sachentscheidung kann ferner insbesondere dann entfallen, wenn das Bundesverfassungsgericht bereits in anderem Zusammenhang die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschrift oder vom Beschwerdeführer aufgeworfene wahlrechtliche Zweifelsfragen geklärt und der Beschwerdeführer keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, die Anlass zu einer abweichenden Beurteilung geben könnten. Gleiches gilt, wenn der gerügte Mangel durch Änderung der Vorschrift zwischenzeitlich behoben wurde oder die Vorschrift in einem engen sachlichen Zusammenhang mit Normen steht, deren Verfassungswidrigkeit das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt hat. Ein öffentliches Sachentscheidungsinteresse kann auch entfallen, wenn der Deutsche Bundestag einen vom Beschwerdeführer gerügten Verstoß gegen eine Wahlrechtsnorm bereits im Einspruchsverfahren festgestellt hat.
3. Danach hat sich die Wahlprüfungsbeschwerde des Beschwerdeführers erledigt. Das öffentliche Interesse steht einer Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung zur Sache nicht entgegen.
a) Zum Teil sind die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen unzulässig, weil sie den Begründungsanforderungen nicht genügen.
Nach § 23 Abs. 1 BVerfGG sind Anträge, die ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einleiten, zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben. § 23 Abs. 1 BVerfGG gilt als allgemeine Verfahrensvorschrift auch für Wahlprüfungsbeschwerden (vgl. BVerfGE 21, 359 [361]; 24, 252 [258]). Eine ordnungsgemäße Begründung verlangt eine hinreichend substantiierte und aus sich heraus verständliche Darlegung eines Sachverhalts, aus dem erkennbar ist, worin ein Wahlfehler liegen soll, der Einfluss auf die Mandatsverteilung haben kann (vgl. BVerfGE 58, 175

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[175 f.]). Die bloße Andeutung der Möglichkeit von Wahlfehlern oder die Äußerung einer dahingehenden, nicht belegten Vermutung genügen nicht (vgl. BVerfGE 40, 11 [31 f.]; 66, 369 [378 f.]; 89, 291 [304 f., 308 f.]). Der Grundsatz der Amtsermittlung befreit den Beschwerdeführer nicht davon, die Gründe der Wahlprüfungsbeschwerde in substantiierter Weise darzulegen (vgl. BVerfGE 40, 11 <30>), mag dies im Einzelfall auch mit Schwierigkeiten insbesondere im tatsächlichen Bereich verbunden sein (vgl. BVerfGE 40, 11 [32]; 59, 119 [124]; 66, 369 [379]).
aa) Soweit der Beschwerdeführer die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht als verfassungswidrig rügt, genügt sein pauschales Vorbringen den genannten Mindestanforderungen nicht. Diese Altersgrenze ist an den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 GG nicht zu messen, weil sie in Art. 38 Abs. 2 Halbsatz 1 GG auf gleicher Rangebene wie diese geregelt ist (vgl. BVerfGE 3, 225 [231 f.]).
bb) Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers ergibt sich auch nicht die Möglichkeit eines Wahlfehlers aufgrund von Zeitungs- und Magazinbeilagen, die von der Bundesregierung vor der Wahl veranlasst worden waren. Der Beschwerdeführer hat die betreffenden Veröffentlichungen weder vorgelegt noch ihrem wesentlichen Inhalt nach wiedergegeben. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, Handlungen im Umfeld von Wahlen umfassend aufzuklären und auf einen möglichen Verstoß gegen wahlrechtliche Vorschriften zu prüfen. Der Vortrag des Beschwerdeführers allein lässt nicht auf eine Überschreitung der Grenze zur unzulässigen Wahlwerbung (vgl. dazu BVerfGE 44, 125 [138 ff., 154]) schließen.
cc) Soweit der Beschwerdeführer Meinungsumfragen vor der Wahl als verfassungswidrig beanstandet, genügt sein Vorbringen ebenfalls nicht den Begründungsanforderungen. Es erschöpft sich in der Vermutung, dass viele Bürger ihr Wahlverhalten nach den Darstellungen in den Medien ausrichteten und viele Meinungsforschungsinstitute mit Parteien verwoben seien und daher Umfrageergebnisse fälschten. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Wahlfehlers lässt sich dieser nicht weiter belegten Vermutung nicht entnehmen.


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dd) Schließlich hat der Beschwerdeführer auch einen Wahlfehler aufgrund einer wegen Verstoßes gegen die Rechenschaftspflicht unzulässig finanzierten Wahlwerbung durch die FDP nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Der Beschwerdeführer verweist zur Begründung auf einen nicht beigefügten Zeitschriftenartikel, dessen Inhalt er nicht wiedergibt. Darüber hinaus nimmt er Bezug auf seine Einspruchsschreiben an den Deutschen Bundestag. Derartige Bezugnahmen reichen zur Begründung einer Wahlprüfungsbeschwerde jedoch nicht aus (vgl. BVerfGE 21, 359 [361]).
b) Soweit der Beschwerdeführer rügt, dass die Entstehung von Überhangmandaten und die Berücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern, die in zwei Berliner Wahlkreisen mit ihrer Erststimme der jeweiligen Wahlkreiskandidatin der PDS zu einem Mandat verholfen haben, mit ihrer Zweitstimme jedoch für eine andere Landesliste gestimmt haben (sogenannte Berliner Zweitstimmen), die Gleichheit der Wahl verletzen, besteht aufgrund der Entscheidung des Senats vom 3. Juli 2008 (BVerfGE 121, 266) kein öffentliches Interesse an der Weiterführung des Wahlprüfungsverfahrens.
aa) Es muss nicht entschieden werden, ob § 6 Abs. 5 Satz 2 und § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 5 Satz 2 BWG insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verstoßen, als sie die Zuteilung von Überhangmandaten ohne Verrechnung oder Ausgleich zulassen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat die vom Beschwerdeführer beanstandeten Regelungen aus einem anderen Grund für verfassungswidrig erklärt. In seinem Urteil zum sogenannten negativen Stimmgewicht (vgl. BVerfGE 121, 266) hat es festgestellt, dass § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 11. März 2005 (BGBl. I S. 674) den Grundsatz der Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann (vgl. BVerfGE 121, 266 [310 f.]). Zugleich hat es einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlich ver

BVerfGE 122, 304 (311):

bürgte Unmittelbarkeit der Wahl festgestellt, weil der Wähler unter Geltung dieser Vorschriften nicht erkennen kann, ob sich seine Stimme stets für die zu wählende Partei und deren Wahlbewerber positiv auswirkt oder ob er durch seine Stimme den Misserfolg eines Kandidaten seiner eigenen Partei verursacht (vgl. BVerfGE 121, 266 [307 f.]).
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, den Regelungskomplex, der zum Auftreten des sogenannten negativen Stimmgewichts führen kann, bis spätestens zum 30. Juni 2011 zu ändern, damit der Deutsche Bundestag in Zukunft aufgrund eines in Einklang mit der Verfassung stehenden Gesetzes gewählt werden kann. Im Hinblick darauf, dass der genannte Effekt untrennbar mit den Überhangmandaten und der Möglichkeit von Listenverbindungen zusammenhängt, kann eine Neuregelung beim Entstehen der Überhangmandate oder bei der Verrechnung von Direktmandaten mit den Zweitstimmenmandaten oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbindungen ansetzen (vgl. BVerfGE 121, 266 [314 ff.]). Der Gesetzgeber ist aufgerufen, das für den Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen (vgl. BVerfGE 121, 266 [314 ff.]).
Die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage der Verfassungswidrigkeit von Überhangmandaten wird sich nach einer Neuregelung nicht mehr in der gleichen Weise stellen. Ob und inwieweit die Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag mit der Verfassung vereinbar ist, lässt sich nur unter Würdigung des Zusammenspiels der verschiedenen Wahlrechtsnormen und mit Blick auf das vom Gesetzgeber gewählte Wahlsystem beurteilen. Im Rahmen des dem Gesetzgeber nach Art. 38 Abs. 3 GG zustehenden Gestaltungsspielraums wäre bei einer Neuregelung zum Beispiel eine Berücksichtigung von Überhangmandaten bei der Oberverteilung, der Verzicht auf Listenverbindungen nach § 7 BWG oder eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältniswahlprinzip (Grabensystem) denkbar (vgl. BVerfGE 121, 266 [296]). Je nachdem für

BVerfGE 122, 304 (312):

welche Lösung sich der Gesetzgeber entscheidet, ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Mandatsverteilung dann auf der Grundlage des neuen Regelungskomplexes zu beurteilen.
bb) Die Rüge, die gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG erfolgte Berücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern, die in zwei Berliner Wahlkreisen mit ihrer Erststimme der jeweiligen Wahlkreiskandidatin der PDS zu einem Mandat verholfen haben, mit ihrer Zweitstimme jedoch für eine andere Landesliste gestimmt haben (sogenannte Berliner Zweitstimmen), verstoße gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, steht in einem sachlichen Zusammenhang mit den vom Bundesverfassungsgericht im Urteil zum sogenannten negativen Stimmgewicht für verfassungswidrig erachteten Vorschriften. Die Frage, ob durch das "Splitten" von Erst- und Zweitstimme ein doppelter Stimmerfolg erzielt werden kann, wenn die für politische Parteien abgegebenen Zweitstimmen diesen zu Listenplätzen verhelfen, obwohl die Erststimmen der Wähler schon zur Zuteilung eines Bundestagssitzes geführt haben, der nicht im Wege des Verhältnisausgleichs verrechnet werden kann, hängt ebenfalls von der künftigen Ausgestaltung der Wahlrechtsbestimmungen ab, die der Gesetzgeber im Hinblick auf das Urteil des Senats zum sogenannten negativen Stimmgewicht zu überprüfen hat. In Anbetracht der angeordneten Neuregelung des Vorschriftenkomplexes, der auch zum Phänomen der "Berliner Zweitstimmen" geführt hat, bedarf es hierzu keiner Sachentscheidung mehr.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen bereits darauf hingewiesen, dass das Bundeswahlgesetz in seiner jetzigen Form keine ausdrückliche Regelung für den Fall enthält, dass Kandidaten einer Partei, die gemäß § 6 Abs. 6 BWG bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nicht zu berücksichtigen sind, ein oder zwei Wahlkreismandate erhalten haben, und der Gesetzgeber mit Blick auf die im Wahlrecht in besonderem Maße gebotene Rechtsklarheit eine entsprechende Ergänzung von § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG zu erwägen haben wird (vgl. BVerfGE 79, 161 [168]).
c) Soweit der Beschwerdeführer eine rechtswidrige Datennutzung seitens der CDU für Wahlkampfzwecke rügt, besteht kein

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öffentliches Sachentscheidungsinteresse, weil der Deutsche Bundestag bereits im Einspruchsverfahren festgestellt hat, dass die Übermittlung der Daten aller Wahlberechtigten der betreffenden Wahlkreise seitens der Stadt Köln an die CDU rechtswidrig war. Der nordrhein-westfälische Landesgesetzgeber hat dies inzwischen auch durch eine Gesetzesänderung klargestellt.
Nach § 35 Abs. 1 des Meldegesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (MG NW) in der seinerzeit maßgeblichen Bekanntmachung der Neufassung vom 16. September 1997 (GVBl. NW S. 332) durfte die Meldebehörde Parteien, Wählergruppen und anderen Trägern von Wahlvorschlägen im Zusammenhang mit Parlaments- und Kommunalwahlen in den sechs der Wahl vorangehenden Monaten Auskunft aus dem Melderegister über die in § 34 Abs. 1 Satz 1 MG NW bezeichneten Daten (Vor- und Familienname, Doktorgrad und Anschrift) von Gruppen von Wahlberechtigten erteilen, für deren Zusammensetzung das Lebensalter der Betroffenen bestimmend war, sofern keine Übermittlungssperre bestand (§ 35 Abs. 5 MG NW) und die Betroffenen nicht widersprochen hatten (§ 35 Abs. 6 MG NW). Die Vorschrift wurde in Ziff. 15.3.3 der Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Meldegesetzes NW (Runderlass des Ministeriums für Inneres und Justiz vom 2. Oktober 1998 -- I A 6/41.12 --, MBl. NW S. 1149) in dem Sinne verstanden, dass eine Auskunft über alle Wahlberechtigten unzulässig war; Auskünfte durften nur über Wahlberechtigte einzelner oder mehrerer Altersjahrgänge, soweit beantragt, erteilt werden. Da der in mehrere Gruppenauskunftsersuchen geteilte Antrag des Kreisverbands der CDU vom 2. Juli 2002 insgesamt auf die Übermittlung der Daten aller Wahlberechtigten der betreffenden Wahlkreise gerichtet war, hat der Deutsche Bundestag in Übereinstimmung mit der Landeswahlleiterin und dem Datenschutzbeauftragen des Landes Nordrhein-Westfalen sowie der Landesregierung Nordrhein-Westfalen festgestellt, dass gegen § 35 Abs. 1 MG NW verstoßen wurde (vgl. BTDrucks 15/1850 S. 61; Stenografischer Bericht vom 6. November 2003, S. 6188 B ff.). Der Landesgesetzgeber hat § 35 Abs. 1 MG NW durch Gesetz vom 5. April 2005 (GVBl. NW S. 263) dahingehend ergänzt, dass die Auskunft auf zwei

BVerfGE 122, 304 (314):

Gruppen zu beschränken ist, die ihrerseits nicht mehr als zehn Geburtsjahrgänge umfassen dürfen. Spätestens seit dieser Gesetzesänderung steht fest, dass eine Übermittlung der Daten aller Wahlberechtigten der jeweiligen Wahlkreise seitens der Meldebehörde an Parteien im Vorfeld von Wahlen in Nordrhein-Westfalen unzulässig ist. Ob und inwieweit die Übermittlung der Daten aller Wahlberechtigten in der Vergangenheit einen erheblichen Wahlfehler begründen konnte, bedarf daher keiner Entscheidung mehr.
d) Die verbleibenden Rügen des Beschwerdeführers betreffen Wahlrechtsnormen, deren Verfassungsmäßigkeit das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt, und wahlrechtliche Zweifelsfragen, die das Bundesverfassungsgericht schon entschieden hat. Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich keine Gesichtspunkte vorgetragen, die Anlass zu einer anderweitigen Beurteilung geben könnten.
aa) Die vom Beschwerdeführer beanstandete Verbindung von Verhältnis- und Personenwahl hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich gebilligt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsprechung im Urteil vom 3. Juli 2008 (BVerfGE 121, 266 [296]) nochmals bekräftigt. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen auch nicht, soweit die Verhältniswahl nach "starren" Listen erfolgt (vgl. BVerfGE 3, 45 [50 f.]; 7, 63 [67 ff.]; 21, 355 [355 f.]; 47, 253 [283]).
bb) Der Einwand des Beschwerdeführers, das gesamte Wahlrecht sei verfassungswidrig, weil es nicht in der Verfassung selbst geregelt sei, greift nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls nicht durch. Das Grundgesetz schreibt kein bestimmtes Wahlrecht vor (vgl. BVerfGE 6, 104 [111]). Der Verfassungsgeber hat bewusst darauf verzichtet, ein Wahlsystem und dessen Durchführung verfassungsrechtlich vorzuschreiben. Er hat damit ein Stück materiellen Verfassungsrechts offen gelassen, das vom Wahlgesetzgeber auszufüllen ist (vgl. BVerfGE 95, 335 [349]; BVerfGE 121, 266 [296]).
cc) Das Bundesverfassungsgericht hat auch das als verfassungswidrig gerügte, in § 6 Abs. 6 Satz 1 Alternative 1 BWG vorgesehene Quorum von 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen

BVerfGE 122, 304 (315):

gültigen Zweitstimmen, das eine Partei erreichen muss, um bei der Verteilung der Bundestagssitze auf die Landeslisten berücksichtigt zu werden, wiederholt als verfassungskonform beurteilt (vgl. BVerfGE 1, 208 [247 ff.]; 4, 31 [39 ff.]; 6, 84 [92 ff.]; 51, 222 [235 ff.]; 82, 322 [337 ff.]; 95, 335 [366]; 95, 408 [417 ff.]; BVerfGE 120, 82 [109 ff.]).
dd) Soweit der Beschwerdeführer eine unzulässige Wahlbeeinflussung durch ein Täuschungsverhalten der Bundesregierung rügt, sind die verfassungsrechtlichen Maßstäbe in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls geklärt. Eine unzulässige Wahlbeeinflussung liegt vor, wenn staatliche Stellen im Vorfeld der Wahl in mehr als nur unerheblichem Maße parteiergreifend auf die Bildung des Wählerwillens eingewirkt haben, wenn private Dritte, einschließlich der Parteien und einzelner Kandidaten, mit Mitteln des Zwangs oder Drucks die Wahlentscheidung beeinflusst haben oder wenn in ähnlich schwerwiegender Art und Weise auf die Wählerwillensbildung eingewirkt worden ist, ohne dass eine hinreichende Möglichkeit der Abwehr, zum Beispiel mit Hilfe der Gerichte oder der Polizei, oder des Ausgleichs, etwa mit Mitteln des Wahlwettbewerbs, bestanden hätte (vgl. BVerfGE 103, 111 [132 f.]). Einer Bewertung der vom Beschwerdeführer beschriebenen Wahlkampfäußerungen von Regierungsmitgliedern zur seinerzeitigen Haushaltslage des Bundes, zur Einhaltung der Defizitgrenze der Europäischen Union, zur finanziellen Situation der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherungen, zu Steuererhöhungen, zur Beteiligung am Irakkrieg und zur Abschaltung eines Atomkraftwerks anhand der aufgezeigten Maßstäbe bedarf es nach Ablauf der Wahlperiode nicht mehr, da es sich um in der Vergangenheit liegende, situationsbezogene Aussagen handelt.
III.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Voßkuhle, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt, Landau