BVerfGE 156, 340 - Befangenheitsantrag Wallrabenstein


BVerfGE 156, 340 (340):

Vollstreckungsanordnung PSPP -- Befangenheit BVRin Wallrabenstein
 
Beschluss
des Zweiten Senats vom 12. Januar 2021
-- 2 BvR 2006/15 --
in dem Verfahren über den Erlass einer Vollstreckungsanordnung des Herrn Dr. G..., -- Bevollmächtigter: ... -- mit den Anträgen, 1. der Bundestag und die Bundesregierung sind weiterhin verpflichtet, auf die Europäische Zentralbank (EZB) einzuwirken, damit der EZB-Rat umgehend eine den Anforderungen des Urteils vom 5. Mai 2020 -- 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16 -- entsprechende substantiierte und nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung beschließt und den Beschluss öffentlich kommuniziert, oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände zu sorgen, 2. die Bundesregierung hat in geeigneter Weise auf die Bundesbank einzuwirken, damit diese ihre sich aus dem Urteil vom 5. Mai 2020 ergebende Verpflichtung erfüllt, die weitere Beteiligung am Vollzug des PSPP zu unterlassen, 3. der Bundesbank ist es untersagt, an Umsetzung und Vollzug des Beschlusses (EU) 2015/774 sowie der hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702, (EU) 2017/100 und des Beschlusses vom 12. September 2019 mitzuwirken, indem sie bestandserweiternde Ankäufe von Anleihen tätigt oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens beteiligt. Außerdem ist sie verpflichtet, mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine im Rahmen des ESZB abgestimmte -- auch langfristig angelegte -- Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen
hier: Antrag auf Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit.
 


BVerfGE 156, 340 (341):

Entscheidungsformel:
Die Ablehnung von Richterin Wallrabenstein wegen Besorgnis der Befangenheit wird für begründet erklärt.
 
Gründe:
 
A.
Der Befangenheitsantrag richtet sich gegen die Mitwirkung von Richterin Prof. Dr. Wallrabenstein im Verfahren auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG.
I.
Mit Schriftsatz vom 7. August 2020 hat der Antragsteller den Erlass folgender Vollstreckungsanordnung beantragt:
II.
Mit demselben Schriftsatz vom 7. August 2020 hat der Antragsteller zugleich Richterin Wallrabenstein, die am 15. Mai 2020

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vom Bundesrat zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt und am 22. Juni 2020 vom Bundespräsidenten ernannt worden ist, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, sofern der Senat der Ansicht sein sollte, dass sie an der Entscheidung über die Vollstreckungsanordnung grundsätzlich mitwirken könne. Der Antragsteller habe dem am 5. August 2020 in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel "EZB-Anleihenkäufe -- Verhältnismäßig kompliziert", den er online am 7. August 2020 abgerufen habe, entnommen, dass Richterin Wallrabenstein entgegen seiner Rechtsauffassung an der beantragten Entscheidung über die Vollstreckungsanordnung möglicherweise mitwirken könnte. Für diesen Fall lehne er sie wegen Besorgnis der Befangenheit ab.
III.
Am 21. Juni 2020 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) ein von Konrad Schuller verfasster Artikel "New Kids in Karlsruhe", der teilweise auf ein Interview der F.A.S. mit der designierten Richterin des Bundesverfassungsgerichts gestützt war. In dem Artikel heißt es unter anderem:
Am selben Tag erschien in der Onlineausgabe der F.A.S. unter der Rubrik "Exklusiv" ein von Konrad Schuller verfasster Artikel "Wallrabenstein sieht Lösungen im Streit zwischen Karlsruhe und EZB", dem das vorstehend genannte Interview ebenfalls zugrunde lag. Der Artikel lautete -- auszugsweise --:
    "Es gebe Bemühungen in der Politik, aus der Karlsruher Rüge für das Anleihen-Kaufprogramm das Beste zu machen, sagt die designierte Verfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein. So könne eine weitere Eskalation vermieden werden.
    Die designierte Verfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein hat im Streit des Bundesverfassungsgerichts mit der Europäischen Zentralbank EZB und dem europäischen Gerichtshof EuGH in Luxemburg konkrete Lösungswege umrissen. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) sagte sie, es sei zu erkennen, 'dass in der Politik das Bemühen groß ist, zu sagen: Lass uns das Beste daraus machen.


    BVerfGE 156, 340 (344):

    Jetzt versuchen wir mal, dem gerecht zu werden, was das Bundesverfassungsgericht erwartet.' (...)
    Wallrabenstein nahm in diesem Zusammenhang zu den Versuchen deutscher Politiker Stellung, EU-Institutionen als Mittler einzuschalten. Der F.A.S. sagte sie, ihrer Meinung nach sei es 'richtig,' dass etwa die Kommission und das Europaparlament versuchten, 'das Zepter mehr in die Hand zu nehmen'. Wenn dann die Reaktionen von Politik, Bundesbank und EZB 'in die richtige Richtung' gingen, 'könnte es im Interesse des Gerichts liegen zu sagen: Das ist schon in Ordnung; wir sehen, dass unsere Forderungen ernst genommen werden'. (...)
    Die designierte Verfassungsrichterin äußerte sich auch zu der Forderung des Verfassungsgerichts, die EZB müsse ausdrücklich in einem 'neuen Beschluss' ihres Rates darlegen, dass die Nebenwirkungen ihres Anleihenprogramms abgewogen worden sind. Diese Forderung an die Bank gilt wegen deren Unabhängigkeit als problematisch. Wallrabenstein sagte dazu, sie wisse nicht, 'ob es letztlich so wichtig ist, dass die verlangte Erklärung der EZB in einem neuen 'Beschluss' des Rates ergeht'. . Vielleicht habe das Bundesverfassungsgericht nur sicher gehen wollen, 'dass die EZB sich noch einmal ernsthaft damit befasst, und dass ein Minimum an formeller Eindeutigkeit und auch eine gewisse Vollständigkeit gewährleistet wird'. Dann müsse es nicht zwingend ein 'Beschluss' sein, weil es letztlich 'weniger auf die technische Form als auf den Zweck' ankomme.
    Zu der Frage, ob im äußersten Fall das Verfassungsgericht der Bundesbank nach Ablauf der gesetzten Frist am 5. August eine weitere Teilnahme am Programm verbieten könnte, sagte Wallrabenstein, sie könne sich vorstellen, dass es bei richtigen Reaktionen aus Politik, Bundesbank und EZB für Karlsruhe 'nicht nötig wird, von sich aus aktiv zu werden'. Sie hoffe jedenfalls, 'dass sich die Dinge so letztlich in eine richtige Richtung entwickeln, und am Ende alle über gewisse Verletzungen hinwegkommen'. Wie im richtigen Leben gehe es darum, 'wie man weitermacht, nachdem man aneinandergeraten ist'. Wenn man sich streite, sollte man auch irgendwann 'Entschuldigung' sagen, und 'Schwamm drüber, lasst uns nach vorne blicken'."
IV.
Der Antragsteller macht geltend, dass die Aussagen von Richterin Wallrabenstein im Interview an ihrer Unvoreingenommenheit zweifeln ließen. Zwar habe sie sich hiermit nicht exakt festgelegt, wie sie im Senat votieren werde; sie habe jedoch inhaltlich klare Präferenzen erkennen lassen. Entscheidend sei, dass sie in dieser

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öffentlichen Äußerung deutlich habe erkennen lassen, dass sie hinsichtlich des Vollzugs des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 andere Maßstäbe anlegen wolle, als es der Senat im Urteil getan habe. Insbesondere spiele sie die im Urteil formulierten Kriterien herunter. Dass die EZB eine substantielle und nachvollziehbare Abwägung durchführen müsse, mache den Kern der Senatsentscheidung aus. Gäbe sich das Bundesverfassungsgericht damit zufrieden, dass der EZB-Rat "sich ernsthaft mit den Folgen des PSPP befasst" und ein "Minimum an formeller Eindeutigkeit" erkennen lasse, könnte jede substanzlose Erklärung der EZB ausreichen. Wenn die Richterin gesagt habe, es könne "im Interesse des Gerichts" liegen, zu sagen, es sei schon in Ordnung, wenn Politik, Bundesbank und EZB "in die richtige Richtung" gingen, rede sie wie eine Politikerin. Ein Gericht habe aber keine eigenen "Interessen", sondern Zuständigkeiten, und es habe allein die Aufgabe, im Rahmen dieser Zuständigkeiten das Recht anzuwenden und durchzusetzen.
V.
Richterin Wallrabenstein hat am 13. Oktober 2020 zum Befangenheitsantrag eine dienstliche Stellungnahme abgegeben, in der sie erklärt hat, sie sei weder für die Interpretation des Urteils, zu dem eine Anordnung gemäß § 35 BVerfGG beantragt worden sei, noch für die Beurteilung des Verhaltens der im Urteil adressierten oder in Folge des Urteils handelnden Akteure festgelegt gewesen oder festgelegt. In dem vom Antragsteller zitierten Interview habe sie mögliche Interpretationen des veröffentlichten Urteils beschrieben. Ebenso habe sie es für möglich gehalten, dass der damals noch in der Zukunft liegende Ausgang des Reaktionsprozesses auf das Urteil den Anforderungen des Urteils genügen könnte. Der Antragsteller, der Bundestag und die Bundesregierung hatten Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen.
VI.
Mit Schriftsatz vom 3. November 2020 hat der Antragsteller auf die dienstliche Stellungnahme erwidert, dass diese die Zwei

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fel an der Unvoreingenommenheit von Richterin Wallrabenstein noch verstärke. Denn sie habe sich in dieser Stellungnahme dahingehend festgelegt, dass das Urteil in der von ihr im Interview vorgenommenen Weise lege artis interpretiert werden könne; dies sei aufgrund des Wortlauts und des Argumentationszusammenhangs des Urteils jedoch nicht der Fall.
 
B.
Der Antrag auf Ablehnung von Richterin Wallrabenstein wegen Besorgnis der Befangenheit ist zulässig. Die Richterin ist von der Mitwirkung an der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung nicht ausgeschlossen (I.), das Befangenheitsgesuch ist hinreichend begründet (II.) und auch rechtzeitig gestellt worden (III.).
I.
Richterin Wallrabenstein ist nicht gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG von der Mitwirkung an der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung ausgeschlossen.
Nach dieser Vorschrift können nach Beginn der Beratung einer Sache weitere Richter nicht hinzutreten. Das Tatbestandsmerkmal "eine Sache" bezieht sich nicht auf das gesamte Verfahren, sondern -- korrespondierend mit § 23 Abs. 1 Satz 1 GOBVerfG -- auf die Beratung einer konkreten Entscheidung in einem anhängigen Verfahren (vgl. BVerfGE 142, 5 [8 Rn. 8]; Mellinghoff, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 15 Rn. 47 [Juli 2002]; Diehm, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 15 Rn. 19; Lechner/Zuck, in: dies., BVerfGG, 8. Aufl. 2019, § 15 Rn. 11). Insoweit sind Entscheidungen über den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Verhältnis zur Hauptsache ebenso eine (eigene) Sache (vgl. BVerfGE 142, 5 [8 Rn. 8]; 144, 18 [19 f. Rn. 3 f.]; 147, 251 [252 Rn. 2]; 148, 11 [18 f. Rn. 25]) wie eine isolierte Kostenentscheidung (vgl. BVerfGE 142, 5 [8 Rn. 8]; Mellinghoff, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 15 Rn. 55 [Juli 2002]; Grünewald, in: Walter/ders., BeckOK BVerfGG, § 15 Rn. 32.1 [1. Januar 2020]) oder die Fortsetzung

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des Verfahrens nach einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. BVerfGE 142, 123 [170 f. Rn. 71 ff.]).
Auch das Verfahren nach § 35 BVerfGG bildet einen neuen und selbständigen Verfahrensabschnitt, nachdem der vorangegangene Verfahrensabschnitt mit der Verkündung des Urteils oder der Zustellung des Beschlusses geendet hat. Letztere stellen eine Zäsur dar (vgl. Mellinghoff, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 15 Rn. 48 [Juli 2002]).
Die vorliegend in Rede stehende Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung hat damit eine selbständige Sache im Sinne von § 15 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG zum Gegenstand.
II.
Der Ablehnungsantrag genügt den Begründungsanforderungen des § 19 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.
Das Gesuch muss die Zweifel an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters mit Bezug auf das konkrete Verfahren hinreichend substantiiert darlegen (vgl. Sauer, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 19 Rn. 11 [1. Juli 2020]). Hierfür sind der Ablehnungsgrund zu benennen und der dazugehörige Sachverhalt darzustellen (vgl. Heusch, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 19 Rn. 33; Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 19 Rn. 8). Dabei genügt es, wenn Tatsachen vorgetragen werden, die die Ablehnung der Richterin oder des Richters nach Ansicht des Ablehnenden zumindest als möglich erscheinen lassen (vgl. Lenz/Hansel, in: dies., BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 19 Rn. 17; Sauer, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 19 Rn. 12 [1. Juli 2020]). Behauptungen "ins Blaue hinein", die durch keine tatsächlichen Umstände unterlegt sind, sondern auf reinen Vermutungen beruhen, begründen die Besorgnis der Befangenheit dagegen nicht (vgl. BVerfGE 142, 9 [17 Rn. 25]; 142, 18 [24 Rn. 23]).
Gemessen hieran erfüllen die Ausführungen im Schriftsatz vom 7. August 2020 die Begründungsanforderungen.


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III.
Das Ablehnungsgesuch ist auch rechtzeitig gestellt worden.
1. Die Ablehnung ist unbeachtlich, sofern sie nicht spätestens zu Beginn der mündlichen Verhandlung erklärt wird (§ 19 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG). Entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung, muss der Ablehnungsantrag jedenfalls bis zur abschließenden Entscheidung in der Sache gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 22. August 2018 -- 2 BvC 1/18 --, Rn. 3; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2001 -- 1 BvR 2216/96 u. a. --, Rn. 9; Lechner/Zuck, in: dies., BVerfGG, 8. Aufl. 2019, § 19 Rn. 9).
2. Nach diesen Maßstäben ist das Ablehnungsgesuch vom 7. August 2020 auch mit Blick auf das Interview vom 21. Juni 2020 rechtzeitig angebracht worden, da es gleichzeitig mit dem Antrag auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung eingereicht worden ist.
 
C.
Der Ablehnungsantrag ist auch begründet. Unter Zugrundelegung von Wortlaut und Zweck der Befangenheitsregelungen (I.) begründen die Aussagen von Richterin Wallrabenstein in dem Interview mit der F.A.S. vom 21. Juni 2020 Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung (II.).
I.
1. Die Ablehnung eines Richters oder einer Richterin des Bundesverfassungsgerichts nach § 19 BVerfGG setzt voraus, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters beziehungsweise Misstrauen hieran zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 82, 30 [37]; 98, 134 [137]; 101, 46 [50 f.]; 102, 122 [125]; 108, 122 [126]; 142, 9 [14 Rn. 14]; 142, 18 [21 Rn. 11]; 142, 302 [307 Rn. 18]; 148, 1 [6 Rn. 17]; 154, 312 [316 Rn. 13]). Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich parteilich oder befangen ist oder ob er sich selbst für befangen hält (vgl. BVerfGE 20, 1 [5]; 35, 246 [253]; 73, 330 [335]; 82, 30 [38]; 88, 17 [23]; 102, 192 [195]; 142, 9 [14 Rn. 14]; 142, 18 [21 Rn. 11];

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142, 302 [307 Rn. 18]; 148, 1 [6 Rn. 17]; Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ders./Bethge, BVerfGG, § 19 Rn. 2 [März 1998]). Es geht vielmehr darum, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit zu vermeiden (vgl. BVerfGE 46, 34 [41]; 108, 122 [129]; 148, 1 [6 Rn. 17]; 152, 332 [342 Rn. 25, 343 Rn. 26]; Lenz/Hansel, in: dies., BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 19 Rn. 7).
2. Entscheidend ist, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände (objektiv) Anlass dazu hat, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfGE 20, 1 [5]; 73, 330 [335]; 82, 30 [38 f.]; 88, 17 [23]; 98, 134 [137]; 102, 122 [125]; 108, 122 [126]; 109, 130 [132]; 135, 248 [257 Rn. 23]; 142, 9 [14 Rn. 14]; 142, 18 [21 Rn. 11]; 142, 302 [307 Rn. 18]; 148, 1 [6 Rn. 17]). Dies ist zu bejahen, wenn sein Verhalten den Schluss darauf zulässt, dass der Richter einer seiner eigenen widersprechenden Rechtsauffassung nicht mehr frei und unvoreingenommen gegenübersteht, sondern festgelegt ist (vgl. BVerfGE 35, 246 [254]; 142, 9 [15 Rn. 18]).
a) Das Grundgesetz und das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht setzen voraus, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts politische Auffassungen haben und vertreten, ihr Amt gleichwohl unvoreingenommen und im Bemühen um Objektivität wahrnehmen. Die Äußerung des freien Wortes zu politischen Vorgängen allein führt deshalb noch nicht dazu, dass ein Verfahrensbeteiligter hierin vernünftigerweise die Festlegung auf eine bestimmte Rechtsauffassung sehen kann. Grundsätzlich ist also von der inneren Unabhängigkeit des Richters auszugehen, zu welcher ihn sein Amt verpflichtet (BVerfGE 73, 330 [337]). Auch öffentliche und politische Äußerungen von Verfassungsrichtern begründen nicht ohne Weiteres die Besorgnis der Befangenheit. Im Einzelfall kann sich -- bei Hinzutreten besonderer Umstände (vgl. BVerfGE 35, 171 [174 f.]; 35, 246 [253]; 73, 330 [337]; Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 19 Rn. 38) -- jedoch aufdrängen, dass ein (innerer) Zusammenhang zwischen einer öffentlichen Äußerung und der Rechtsauffassung eines Verfassungsrichters besteht (vgl. BVerfGE 35, 246 [254 f.]; 73, 330 [337];


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142, 9 [15 Rn. 18]; 142, 18 [22 Rn. 15]; 148, 1 [7 Rn. 19]). Das gilt aus der maßgeblichen Sicht der Verfahrensbeteiligten umso mehr, je enger der zeitliche Zusammenhang zwischen der Meinungskundgabe und dem anhängigen Verfahren ist (vgl. BVerfGE 73, 330 [337]; 142, 9 [15 Rn. 18]; 142, 18 [22 Rn. 15]; Heusch, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 19 Rn. 18). Das Zeitmoment ist allerdings für die Beurteilung im Rahmen von § 19 BVerfGG nicht allein maßgeblich (vgl. BVerfGE 142, 9 [15 Rn. 18]; 142, 18 [22 Rn. 15]).
Die Annahme einer Besorgnis der Befangenheit erfordert stets eine Gesamtwürdigung von Inhalt, Form und Rahmen (Ort, Adressatenkreis) der jeweiligen Äußerung sowie des sachlichen und zeitlichen Bezugs zum in Rede stehenden Verfahren (vgl. BVerfGE 142, 9 [15 Rn. 18]; 142, 18 [22 Rn. 15]; Lenz/Hansel, in: dies., BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 19 Rn. 11). Selbst wenn ein Richter eine Rechtsauffassung ständig vertritt, ist er in einem auf Änderung dieser Rechtsauffassung gerichteten Verfahren nicht ausgeschlossen (vgl. BVerfGE 78, 331 [337]; 131, 239 [253]; 155, 357 [371 Rn. 29]). Die Besorgnis der Befangenheit erfordert ein zusätzliches besorgniserregendes Moment in der Person oder im Verhalten des Richters, das sich nur aus den Umständen des Einzelfalls ergeben kann und bei lebensnaher Betrachtung die Sorge verständlich erscheinen lässt, dass er die streitige Rechtsfrage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen wird (vgl. BVerfGE 98, 134 [137 f.]; Sauer, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 19 Rn. 9 [1. Juli 2020]).
b) In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts ihre neue Rolle erst mit Antritt des Richteramts unabhängig von früheren parteipolitischen Auseinandersetzungen wahrnehmen müssen beziehungsweise können (vgl. BVerfGE 99, 51 [56 f.]; 142, 9 [14 Rn. 17]; 142, 18 [21 f. Rn. 14]; 148, 1 [7 Rn. 18]; 152, 332 [341 f. Rn. 25]). Erst ab diesem Zeitpunkt müssen sie den besonderen Anforderungen des Richteramts in ihrem Verhalten Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 142, 302 [312 Rn. 32]; 148, 1 [7 Rn. 18]). Das gilt auch für die Äußerung rechtlicher Auffassungen (vgl. BVerfGE 35, 246

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[253]). Daher rechtfertigt die Äußerung politischer Meinungen zu einer Zeit, bevor eine Richterin oder ein Richter Mitglied des Bundesverfassungsgerichts wurde, grundsätzlich nicht die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit.
Für den Amtsantritt ist allerdings weniger auf den Zeitpunkt der (formalen) Ernennung durch den Bundespräsidenten abzustellen, denn auf den Zeitpunkt der Wahl durch den Deutschen Bundestag oder den Bundesrat (vgl. Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 19 Rn. 17, 22 f.; ders., in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 19 Rn. 10; Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 19 Rn. 39). Ab diesem Zeitpunkt müssen Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts den besonderen Anforderungen ihres Amtes auch in ihrem Verhalten Rechnung tragen.
II.
Gemessen an diesen Maßstäben ist für das hier streitgegenständliche Verfahren auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung die Besorgnis der Befangenheit von Richterin Wallrabenstein begründet.
Der vom Antragsteller vorgetragene Sachverhalt bietet bei vernünftiger Würdigung Anlass, an der Unvoreingenommenheit der Richterin Wallrabenstein zu zweifeln. Die Besorgnis des Antragstellers, sie werde bei der Entscheidung über den Erlass der Vollstreckungsanordnung möglicherweise nicht mehr in jeder Hinsicht offen und unbefangen urteilen können (vgl. BVerfGE 72, 296 [298]; 95, 189 [192]; 135, 248 [259 Rn. 27]; 148, 1 [10 f. Rn. 26]), erscheint jedenfalls nachvollziehbar. Dabei müssen die beanstandeten Äußerungen im Zusammenhang betrachtet und unter Berücksichtigung des Zeitpunkts ihrer Abgabe bewertet werden.
1. Demgemäß ist insbesondere zu beachten, dass das vom Antragsteller beanstandete Interview mit Richterin Wallrabenstein in ihrer Eigenschaft als designierte Richterin des Bundesverfassungsgerichts geführt worden ist. Das Interview hat nach ihrer Wahl am 15. Mai 2020 und unmittelbar vor ihrer Ernennung

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durch den Bundespräsidenten am 22. Juni 2020 stattgefunden. Dass sie dabei ausdrücklich in ihrer "designierten" Rolle angesprochen war, wird dadurch unterstrichen, dass in den über das Interview berichtenden Artikeln deutlich zwischen Aussagen zu Verfahrensgegenständen und ihrem "Bekenntnis zur europäischen Integration" als Bürgerin unterschieden wird.
Die Artikel können zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit allerdings nur insoweit herangezogen werden, als sie Äußerungen aus dem Interview wiedergeben. Im Übrigen behauptet der Antragsteller nicht, dass Richterin Wallrabenstein auf die Gestaltung der Artikel Einfluss genommen oder die Artikel vor Veröffentlichung gebilligt hätte.
2. Im Interview hat sich die Richterin Wallrabenstein auch in ihrer Funktion als designierte Richterin des Bundesverfassungsgerichts zu noch nicht endgültig abgeschlossenen beziehungsweise konkret zu erwartenden Verfahren -- die Möglichkeit eines Antrags auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung seitens der erfolgreichen Beschwerdeführer stand evident im Raum -- öffentlich geäußert. Diesen noch vor Stellung eines Antrags nach § 35 BVerfGG getätigten Äußerungen durfte der Antragsteller bei einer Gesamtbetrachtung zumindest eine gewisse Tendenz im Hinblick auf die Beurteilung eines solchen Antrags entnehmen, die geeignet ist, Zweifel an ihrer Unparteilichkeit beziehungsweise Misstrauen hieran zu rechtfertigen.
a) Das gilt insbesondere für die -- vom Wortlaut des PSPP-Urteils abweichende -- Äußerung zu der Frage, ob die EZB ausdrücklich in einem "neuen Beschluss" ihres Rates darlegen müsse, dass sie die Wirkungen ihres Anleihekaufprogramms abgewogen habe:
Im Interview hat die Richterin Wallrabenstein unter anderem erklärt, dass "sie nicht wisse, ob es letztlich so wichtig ist, dass die verlangte Erklärung der EZB in einem neuen 'Beschluss' des Rates ergeht". Insofern hat sie zwar -- wie sie auch in ihrer dienstlichen Stellungnahme ausführt -- keine eindeutige Festlegung erkennen lassen, sondern eine gewisse Offenheit ihrer Ansicht zum Ausdruck gebracht. Die weiteren Äußerungen, wonach das Bundesverfassungsgericht vielleicht nur habe sichergehen wollen,

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"dass die EZB sich noch einmal ernsthaft damit befasst, und dass ein Minimum an formeller Eindeutigkeit und auch eine gewisse Vollständigkeit gewährleistet wird" und dass es dann nicht zwingend ein "Beschluss" sein müsse, weil es letztlich "weniger auf die technische Form als den Zweck" ankomme, legen allerdings ein Verständnis der Entscheidung vom 5. Mai 2020 durch die Richterin nahe, das jedenfalls dem Wortlaut des Urteils keine entscheidende Bedeutung beimisst.
b) Hinzu kommt die Äußerung der Richterin Wallrabenstein, wenn die Reaktionen von Politik, Bundesbank und EZB "in die richtige Richtung" gingen, "könnte es im Interesse des Gerichts liegen zu sagen: Das ist schon in Ordnung; wir sehen, dass unsere Forderungen ernst genommen werden". Diese Äußerung kann aus der Sicht des Antragstellers jedenfalls so verstanden werden, als könnte das (politische oder institutionelle) "Interesse des Gerichts" über die korrekte Rechtsanwendung gestellt werden.
Eine Besorgnis der Befangenheit kann auch die Äußerung der Richterin Wallrabenstein auslösen, nach einem Streit solle man auch irgendwann "Entschuldigung" sagen und "Schwamm drüber, lasst uns nach vorne blicken". Denn diese Aussage kann aus Sicht des Antragstellers bei objektiver Betrachtung dahin gedeutet werden, dass die Richterin Wallrabenstein das Urteil vom 5. Mai 2020 für falsch halte und eine vollständige Umsetzung -- gerade auch im Wege des Erlasses einer Vollstreckungsanordnung -- deshalb von vornherein ablehne.
c) In ihrer Gesamtheit rechtfertigen die vorgenannten Äußerungen die Schlussfolgerung des Antragstellers, Richterin Wallrabenstein habe in dem in Rede stehenden Interview den Eindruck erweckt, dass sie an die Umsetzung des Urteils vom 5. Mai 2020 andere Maßstäbe anlegen wolle, als es der Senat getan hat. Es ist zumindest plausibel, wenn der Antragsteller angesichts der von der Richterin Wallrabenstein vorgenommenen Interpretation des Urteils vom 5. Mai 2020 -- auch wenn sie diese in ihrer dienstlichen Stellungnahme zutreffend nur als eine von ihr für möglich gehaltene Deutung dargestellt hat -- die Besorgnis hegt, dass sie in einem wichtigen Punkt bereits festgelegt sei. Hinzu kommt, dass

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die anderen Äußerungen den Eindruck erwecken können, als handele es sich bei der Umsetzung des Urteils und dem möglichen Erlass einer Vollstreckungsanordnung um eine im Grunde politische Frage.
3. An der Besorgnis der Befangenheit von Richterin Wallrabenstein ändert sich nicht deshalb etwas, weil sie die Äußerungen zu einem Zeitpunkt getätigt hat, als die Umsetzungsfrist des Urteils vom 5. Mai 2020 noch nicht abgelaufen war. Aufgrund des bisherigen Prozessverhaltens des Antragstellers und seiner nach Urteilserlass öffentlich abgegebenen Erklärungen beziehungsweise Stellungnahmen war ernsthaft zu erwarten, dass er nach Ablauf des 5. August 2020 einen Antrag auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung stellen werde. Richterin Wallrabenstein hat sich zu diesem konkreten Verfahren, namentlich der Durchsetzung des Urteils vom 5. Mai 2020, geäußert. Bei aktuellen Tagesfragen, die Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens sind oder mit großer Wahrscheinlichkeit werden können und in dem der betreffende Richter zur Entscheidung berufen ist, bedarf es jedoch besonderer Zurückhaltung (vgl. BVerfGE 20, 9 [15 f.]; 73, 330 [337, 339]; 99, 51 [57]).
III.
Die Entscheidung ist mit Gegenstimmen ergangen.
König Huber Hermanns Müller Kessal-Wulf Maidowski Langenfeld