BGE 12 I 93 - Heilsarmee
 
12. Urtheil
vom 20. Februar 1886 in Sachen Schaaff und Konsorten.
 


BGE 12 I 93 (93):

Sachverhalt:
 
A.
Am 4. Juli 1885 erließ das Statthalteramt Zürich (Abtheilung Verwaltung) eine Verfügung folgenden Inhalts: Es ergebe sich, daß Fritz Schaaff, gebürtig aus Schlagbaum, Preußen, Stabshauptmann der sogenannten Heilsarmee, nebst einigen Gehülfen seit einiger Zeit theils in Schlieren, theils im "Grünenhof" Hottingen unter der Benennung "religiöse Exerzitien" Schaustellungen produzire, bei denen keinerlei wissenschaftliches oder Kunstinteresse obwalte und die daher nach § 5 Ziffer 7 und § 7 des Gesetzes betreffend den Markt- und Hausirverkehr nur mit Bewilligung der Justiz- und Polizeidirektion vorgenommen werden dürfen. Schaaff sei nicht im Besitze einer solchen Bewilligung. Da indeß diese Schaustellungen nicht nur an sich völlig interesse- und wertlos seien, sondern auch, ungeachtet ihres religiösen Deckmantels, das sittliche Gefühl durch Profanation religiöser Gebräuche, z.B. durch Absingen reli

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giöser Lieder nach Bänkelsängermelodien, tief verletzen und überhaupt nur dazu angethan seien, die Kolportage werthloser Schriften und das Einsammeln von Geldspenden zu ermöglichen, mit einem Worte, dem Bettel dienen und daher gemäß § 6 litt. e des citirten Gesetzes eine Bewilligung für diesen Gewerbebetrieb überall nicht zu ertheilen sei, werde in Anwendung des § 20 des Gesetzes verfügt:
"1. Hr. Schaaff wird in eine Buße von 100 Fr. verfällt.
2. Wird ihm die weitere Produktion derartiger Vorstellungen untersagt."
Gegen diese Verfügung ergriff Advokat Dr. E. Curti, Namens des Fritz Schaaff, den Rekurs an den Regierungsrath des Kantons Zürich. Letzterer entschied am 8. August 1885 dahin:
1. Der Rekurs wird, soweit er sich auf die Polizeibuße bezieht, als unstatthaft, soweit er sich auf Dispositiv 2 bezieht, als unbegründet abgewiesen. 2. Rekurrent trägt die Kosten. Die Begründung dieses Beschlusses lautet folgendermaßen:
    "1. Nach § 1055 des Gesetzes betreffend die zürcherische Rechtspflege kann, wenn die Polizeibehörden eine Polizeibuße aussprechen, gerichtliche Beurtheilung der Sache verlangt werden, hingegen ist ausdrücklich im genannten Gesetzesartikel gesagt, daß gegen die Entscheide der Polizeibehörden nicht rekurirt werden könne.
    Es ist damit konstatirt, daß dem Rekurrenten kein Recht zukommt, einen Entscheid von Seite des Regierungsrathes als administrativer Rekursbehörde zu verlangen.
    2. Dispositiv 2 ist, da es sich nur auf öffentliche Versammlungen resp. Produktionen der Heilsarmee bezieht, vollauf gerechtfertigt; denn es steht nicht im Zweifel, daß in Folge der Versammlungen in Hottingen ernstliche Ruhestörungen drohten. Es ist den Agenten der Heilsarmee gelungen, abgesehen von muthwilligen jungen Leuten und Neugierigen, gerade diejenigen Elemente vorzugsweise zu vereinigen, welche ohnehin im Kampfe mit der Polizei leben und nach verschiedenen Anzeigen einen Angriff auf die Agenten der Heilsarmee gerne in Scene gesetzt hätten, um Verwirrung zu erzeugen und dieselbe zu anderweitigen Verbrechen zu benützen. Manche aus bloßer Neugierde

    BGE 12 I 93 (95):

    zu den Versammlungen Hergekommene würden den Angriffen auf Personen und Eigenthum Widerstand geleistet haben, und der Kampf, einmal begonnen, hätte bei der Zahl von 600 bis 800 anwesenden Personen Dimensionen angenommen, welche die Polizei als viel zu schwach zu erfolgreichem Eingreifen hätten erscheinen lassen. Von einer militärischen Aktion zugunsten der Salutisten hätte umso weniger die Rede sein können, als die Salutisten selbst niemals die geringsten Anstrengungen machten, um Skandal zu verhindern, vielmehr Freude an demselben hatten, weil er ihnen als geeignetes Mittel erschien, das Publikum heranzuziehen.
    3. Wenn auch die Uebungen der Heilsarmee theilweise als gottesdienstliche Handlungen im Sinne des Art. 50 der Bundesverfassung betrachtet werden sollten, so muß gesagt werden, daß sie sich nicht innert der Schrankender öffentlichen Ordnung bewegen und überall zu Ruhestörungen Anlaß gegeben haben.
    4. Nach dem Gesagten kann auch von einer Sistirung der Verfügung des Statthalteramtes nicht die Rede sein."
 
B.
Am 12. August 1885 sodann faßte der Regierungsrath des Kantons Zürich folgenden allgemeinen Beschluß betreffend die Heilsarmee:
    "1. Es wird untersagt, durch die öffentlichen Blätter, durch Plakate oder besonders zu vertheilende Zeddel, durch öffentlichen Aufruf oder durch Umbieten von Haus zu Haus, zu, Versammlungen einzuladen, welche von der sogenannten Heilsarmee veranstaltet werden.
    2. Derartige Versammlungen dürfen weder im Freien stattfinden, noch in Lokalen, welche öffentlich sind oder gewöhnlich zu öffentlichen Versammlungen benutzt werden.
    Dieses Verbot bezieht sich nicht auch auf private Versammlungen in geschlossenen Lokalen, welche unter Wahrung des sittlichen Anstandes und ohne Belästigung der Nachbarschaft stattfinden."
    3. Kinder unter 16 Jahren dürfen die Versammlungen der Heilsarmee nicht besuchen, und es werden die Eltern oder Vormünder hiefür verantwortlich erklärt.


    BGE 12 I 93 (96):

    4. Wer einer der Bestimmungen der Ziffern 1 bis 3 zuwiderhandelt, wird mit Polizeibuße bis auf 200 Fr. bestraft. In schwereren Fällen findet Ueberweisung an die Gerichte wegen Ungehorsams gegen amtliche, von kompetenter Stelle erlassene Verfügungen statt.
    5. Mittheilung an die Justiz- und Polizeidirektion, sowie an die Statthalterämter und Gemeinderäthe zur Vollziehung,"
und zwar gestützt auf folgende Erwägungen:
    "1. In Folge der durch Angestellte der sogenannten Heilsarmee in Hottingen veranstalteten öffentlichen Versammlungen haben bereits ernstliche Ruhestörungen gedroht, indem es der Heilsarmee gelungen ist, nicht nur muthwillige junge Leute und Neugierige anzulocken, sondern auch diejenigen Elemente zu vereinigen, die als Bettler, Vaganten, liederliche, arbeitsscheue Leute und Gewohnheitsverbrecher sich ohnehin in stetem Kampfe mit der Polizei befinden und, wie die Wahrnehmungen zeigten, den Anlaß zu benutzen suchten, um Verwirrung zu erzeugen und Nutzen daraus zu ziehen.
    2. Die öffentlichen Versammlungen der Heilsarmee haben überall, wo sie bisher stattgefunden haben, insbesondere auch in der Westschweiz zu Unruhen Veranlassung gegeben, und es ist unzweifelhaft, daß derartige Unruhen, wesentlich provozirt durch das ganze Gebahren der Agenten der Heilsarmee, auch in Zürich eingetreten wären, wenn nicht das Polizeikommando unter Inanspruchnahme aller disponiblen Kräfte für die Aufrechterhaltung der Ruhe gesorgt hätte und schliesslich diese öffentlichen Versammlungen durch eine Verfügung des Statthalteramtes Zürich untersagt worden wären. Es ist auch zu befürchten, daß eine gleiche Situation wieder eintreten würde, wenn derartige Versammlungen neuerdings stattfänden, weil viele sonst durchaus ruhige Bürger in dem ganzen Gebahren der Heilsarmee eine Verhöhnung nicht nur der christlichen Religion, sondern jeder wahren Religiosität überhaupt erblicken, und den aufdringlichen Verkauf von Drucksachen der Heilsarmee, sowie die während der ganzen Dauer der Versammlungen von Person zu Person praktizirten Geldsammlungen, namentlich auch in Anbetracht, daß solche Versammlungen an

    BGE 12 I 93 (97):

    Sonntagen sogar drei und vier Mal abgehalten zu werden pflegen, als gewerbsmässigen Bettel und Ausbeutung gerade der mindest gut situirten der Bevölkerung qualifiziren. Als höchst anstößig muß auch der Besuch der Heilsarmeeversammlungen durch Kinder betrachtet werden.
    3. Wenn auch die sogenannten Uebungen der Heilsarmee als Kultushandlungen angesehen werden wollen, so sind hiebei die Schranken der öffentlichen Ordnung maßgebend (Bundesverfassung Art. 50, Lemma 1 und 2). Der Regierungsrath ist verpflichtet, in erster Linie für Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zu sorgen, und wenn, wie im vorliegenden Falle, konstatirt ist, daß ernste Störungen der öffentlichen Ordnung in Aussicht stehen, und zu deren Beseitigung die polizeilichen Kräfte nicht ausreichen würden, so hat er keineswegs zuzuwarten, bis diese Störungen eingetreten sind."
 
C.
Mit Rekursschrift vom 6. Oktober 1885 ergriff Advokat Dr. E. Curti in Zürich Namens des Fritz Schaaff gegen den Fakt. A oben angeführten Beschluß des Regierungsrathes des Kantons Zürich vom 8. August und Namens des Albert Ehrismann in Hottingen und Konsorten gegen die Fakt. B reproduzirte Schlußnahme derselben Behörde vom 12. gleichen Monats den Rekurs an das Bundesgericht. Er beantragt: Aufhebung des Beschlusses des zürcherischen Regierungsrathes vom 8. August beziehungsweise des Dispositiv 2 der Verfügung des Statthalteramtes Zürich vom 4. Juli und gänzliche Aufhebung des Regierungsbeschlusses vom 12. August. Dabei wird thatsächlich im Wesentlichen ausgeführt: Die Versammlungen und Gebetsübungen der Heilsarmee im Kanton Zürich seien anfänglich ohne alle Störungen verlaufen; nachdem dieselben gegen Ende Juni 1885 von Schlieren in den "Grünen Hof" bei Hottingen verlegt worden seien, habe sich eine kleine Rotte von Krakelern das Vergnügen gemacht, die religiösen Uebungen durch Zwischenrufe, Absingen profaner Lieder u.s.w. zu stören. Zu eigentlichen Störungen der öffentlichen Ordnung, wie Sachbeschädigungen oder Verletzungen von Personen sei es dagegen damals nicht gekommen und es wäre der Polizei ein Leichtes gewesen, die Lärmmacher zur Ordnung zu weisen. Es habe daher in

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weiten Kreisen Erstaunen erregt, als am 4. Juli das Statthalteramt Zürich ein Verbot der Salutistenversammlungen erlassen habe, noch mehr Befremden habe die, auf das Hausirgesetz sich berufende, Motivirung dieses Verbotes erregen müssen. Die Salutisten haben gegen dieses Verbot alle gesetzlichen Rechtsmittel ergriffen, einstweilen aber sich demselben thatsächlich gefügt und ihre Versammlungen eingestellt. Erst am 19. Juli, nachdem unterdessen offiziös bekannt geworden, daß der Regierungsrath nicht alle sondern nur die sogenannten Versammlungen der Heilsarmee als verboten betrachte, habe diese ihre Versammlungen wieder aufgenommen. Am 8. August habe dann der Regierungsrath über die Beschwerde gegen die statthalteramtliche Schlußnahme vom 4. Juli entschieden und am 12. August die (Fakt. B) erwähnte allgemeine Verfügung in Betreff der Heilsarmee getroffen. Am 18. August habe das Bezirksgericht Zürich über die Berufung des Schaaff gegen die ihm durch die statthalteramtliche Verfügung vom 4. Juli auferlegte Polizeibuße entschieden und zwar zugunsten des Schaaff, wie denn auch kein Gericht der Welt hätte anders entscheiden können. Von Anfang September an seien die, seit ihrer Wiederaufnahme bis dahin ohne Störung verlaufenen, Versammlungen der Heilsarmee im "Grünen Hof" von händelsüchtigen, jungen Leuten unter Anführung bewährter Raufbolde in rohester Weise, gestört worden. Die Polizei habe diesen Störenfrieden gegenüber eine wohlwollende Neutralität beobachtet; dadurch seien dieselben selbstverständlich ermuntert worden und es sei daher am 3. und wieder am 7. und 8. September zu sehr ernstlichen pöbelhaften Ausschreitungen gegen die Theilnehmer der Heilsarmeeversammlungen gekommen. Dabei habe die Polizei mit verschränkten Armen zugesehen. Endlich sei dieselbe doch eingeschritten, allein nicht gegen die Ruhestörer, sondern gegen die Salutisten. Denn am 24. September seien die Versammlungen der Salutisten im Grünenhof durch die Justiz- und Polizeidirektion untersagt worden. Gegen diese Maßnahme sei bereits beim Regierungsrathe Beschwerde geführt worden; ebenso sei gegen die wohlbekannten Rädelsführer der Tumultanten beim Statthalteramte, Abtheilung Strafsachen, Strafklage eingereicht worden. In rechtlicher Beziehung wird Folgendes geltend gemacht:


BGE 12 I 93 (99):

1. Der Regierungsbeschluß vom 12. August, welcher als der spätere und allgemeinere von wesentlicher Bedeutung sei, müsse, ganz abgesehen von seinen einzelnen materiellen Bestimmungen, schon aus formellen Gründen als verfassungswidrig bezeichnet werden. Dieser Beschluß qualifizire sich nämlich, bei näherem Zusehen, als ein eigentliches Ausnahmegesetz, durch welches verfassungsmäßige Grundrechte suspendirt werden. Zu Erlaß allgemeiner gesetzlicher Normen sei aber der Regierungsrath nicht befugt, sondern nur zu Verfügungen in einzelnen Fällen. Der Beschluß stehe demnach im Widerspruche mit den Art. 28,30,31,37 und 40 der Kantonsverfassung.
2. Inhaltlich enthalten die beiden Beschlüsse vom 8./12. August eine schwere Verletzung des in Art. 3 der Kantonsverfassung gewährleisteten Versammlungsrechtes. Das Bundesgericht habe bereits in seiner Entscheidung in Sachen Obrist vom 24. September 1881 ausgesprochen, daß diesem Grundsatz allgemeine Geltung zukomme und sich auf denselben alle Staatseinwohner ohne Rücksicht auf ihr Bürgerrecht berufen können. Fritz Schaaff, obschon preußischer Staatsangehöriger, sei daher als zürcherischer Einwohner zur Beschwerde legitimirt; übrigens haben sich demselben eine ganze Reihe von Kantonsbürgern angeschlossen, welche die Heilsarmeeversammlungen besucht haben und sich daher durch die angefochtene Schlußnahme in ihren verfassungsmäßigen Rechten gekränkt sehen. Durch die erwähnte bundesgerichtliche Entscheidung in Sachen Obrist vom 24. September 1881 sei im Fernern anerkannt worden, daß nach § 3 der Kantonsverfassung objektiv das Vereins- und Versammlungsrecht nur durch die Vorschriften des allgemeinen Rechts beschränkt sei, so daß die Vereinigung mehrerer zu Vereinen oder Versammlungen nur insofern verboten werden dürfe, als dieselbe eine nach dem geltenden allgemeinen Rechte rechtswidrige, insbesondere strafbare, Handlung involvire. Die Vereinigung der Salutisten involvire aber keine nach allgemeinem Rechte rechtswidrige, insbesondere strafbare Handlung. Der Versuch, die religiösen Uebungen der Salutisten als "Schaustellungen" zu qualifizieren und hieraus eine Uebertretung des Hausirgesetzes abzuleiten, sei kläglich mißglückt, in der Begründung seiner an

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gefochtenen Schlußnahmen halte der Regierungsrath daran gar nicht mehr fest. Was die übrigen in den Erwägungen der fraglichen Beschlüsse den Salutisten gemachten Vorwürfe anbelange, so seien dieselben thatsächlich unbegründet, und übrigens, weil sie gar keine Gesetzesverletzung durch die Salutisten behaupten, rechtlich unerheblich. Nicht die Heilsarmee vereinige in sich die Elemente des Vagabunden- und Gewohnheitsverbrecherthums, sondern diese finden sich unter dem Gesindel, welches die Kultusübungen friedlicher Bürger durch Gewaltthätigkeit störe. Es sei weiterhin unrichtig, daß die Geldsammlungen und der erkauf von Drucksachen sich als gewerbsmäßiger Bettel und Ausbeutung der ärmern Bevölkerungsklassen qualifiziren. Bei den Salutisten werde kein Eintrittsgeld erhoben. Die Sammlung von Geldspenden und der Verkauf von Drucksachen werde ohne alle Zudringlichkeit betrieben; es stehe jedem Theilnehmer frei, ob er zur Unterstützung der Bestrebungen der Heilsarmee sein Schärflein beitragen wolle oder nicht. Der Regierungsrath lege denn auch nicht sowohl auf diese Umstände als vielmehr auf die Gefahr "ernster Störungen der öffentlichen Ordnung" das Hauptgewicht. Allein es gehe doch kaum an, auf die einfache Befürchtung hin, es möchte Skandal entstehen, die wichtigsten verfassungsmäßigen Rechte brevi manu zu suspendiren. Wollte man eine solche prophilaktische Suspension gutheißen, so hätte es jeder Pöbelhaufe in der Hand, das Recht der freien Meinungsäußerung in Wort oder Schrift illusorisch zu machen. Das sei gewiß nicht der Sinn des Art. 3 der Kantonsverfassung. Nach den Ausführungen in den Motiven der angefochtenen Beschlüsse könnten nun Fernstehende freilich glauben, die Regierung von Zürich befinde sich in einer Nothlage, die sie zwinge, die Verfassung zu suspendiren. Allein davon könne ernsthafterweise gar keine Rede sein. So kläglich sei es doch um die Staatsgewalt im Kanton Zürich nicht bestellt, daß sie wegen der Frechheit einiger roher Gesellen Ruhe und Ordnung nicht mehr aufrecht halten könnte. Unbefangene Beobachter seien der Ansicht, daß überhaupt gar keine Störungen vorgekommen wären, wenn die Polizeiorgane ihre Pflicht erfüllt hätten. Jedenfalls könne von einem Nothstande so lange in keiner Weise gespro

BGE 12 I 93 (101):

chen werden, als die Behörden von den gewöhnlichsten und einfachsten Mitteln zur Ahndung pöbelhafter Ausschreitungen keinen Gebrauch gemacht, sondern sich begnügt haben, mit verschränkten Armen passiv zuzusehen.
3. Neben Art. 3 der Kantonsverfassung sei auch Art. 56 der Bundesverfassung verletzt, und endlich enthalten
4. die angefochtenen Schlußnahmen auch eine ganz flagrante Verletzung der in Art. 63 Absatz 1 der Kantonsverfassung und Art. 49 Absatz 1 und Art. 50 Absatz 1 der Bundesverfassung gewährleisteten Glaubens- und Kultusfreiheit.
 
D.
In seiner Vernehmlassung auf diese Beschwerde macht der Regierungsrath des Kantons Zürich im Wesentlichen geltend: In Bezug auf das Auftreten und Gebahren der sogenannten Heilsarmee im Kanton Zürich verweise er auf die zusammenfassenden Berichte des Polizeikommandos vom 22. und 23. Oktober 1885. Dieses Auftreten sei von allem Anfang an kein maßvolles, sondern ein marktschreierisches gewesen. In rechtlicher Beziehung sei es unrichtig, daß der Regierungsrath die Anwendung des Hausirgesetzes ausgeschlossen habe; es sei vor Allem nicht einzusehen, warum der Heilsarmee in Bezug auf die Kolportage ihrer Drucksachen ein Privileg zustehen sollte. Das vom Regierungsrathe bestätigte Dispositiv 2 der statthalteramtlichen Verfügung vom 4. Juli 1885 beruhe in Dispositiv 1 auf der Anwendung des Hausirgesetzes. Auch abgesehen vom Hausirgesetze und gestützt auf weitere' sehr gewichtige Gründe sei indeß der Regierungsrath dazu gekommen, ein Verbot der öffentlichen Versammlungen der Heilsarmee durch den Beschluß vom 12. August zu erlassen. Dieser Beschluß verstoße weder gegen die Kantons- noch gegen die Bundesverfassung. Durch den Bericht des Polizeikommandos sei unwiderleglich nachgewiesen, daß trotz des sonst sehr ruhigen und toleranten Charakters der zürcherischen Bevölkerung ernstliche Ruhestörungen unvermeidlich gewesen wären, wenn nicht die öffentlichen Versammlungen der Salutisten untersagt worden wären. Die Salutisten seien keineswegs friedliche Leute; sie treten im Gegentheil provozirend auf, indem sie z.B. ihre "Kriegsgesänge" nicht blos in ihrem Versammlungslokale, sondern auch auf der

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Straße, insbesondere Nachts bei der Heimkehr, erschallen lassen und zwar um so angelegentlicher, wenn sie sehen, daß sich Leute ansammeln, welche über ihr Benehmen ungehalten seien. Die Polizeiorgane haben sich alle Mühe gegeben, Tätlichkeiten gegen die Salutisten zu verhindern. In weitaus den meisten Versammlungen der Heilsarmee sei Polizei anwesend gewesen; man habe auch die Heimkehr der Salutisten nach Kräften zu schützen gesucht. Wahr sei freilich, daß, wenn die Polizei ausnahmsweise einmal nicht anwesend gewesen sei, die Gelegenheit zu Demonstrationen und Beleidigungen benützt worden sei. Die Aufgabe der Polizei sei eine doppelt undankbare gewesen, da einerseits die Salutisten gegen die Anwesenheit von Polizei bei ihren Versammlungen remonstrirt haben, andrerseits das Publikum sie gelegentlich als Leibwache der Heilsarmee verhöhnt habe. Gleichwohl habe die Polizei ihre Pflicht gethan, so lange ihre Kräfte ausreichten. Als die Salutisten aber trotz aller Mahnungen ihre Versammlungen auf die Abendstunden von 7 1/2 Uhr an verlegt haben und das Publikum sich in Schaaren von vielen Hunderten vor dem Lokale in Hottingen angesammelt habe, ernst, geschlossen und offenbar entschlossen, jeder auf Verhaftung gerichteten Aktion den ernstesten Widerstand entgegenzusetzen, da habe die Polizei froh sein müssen, wenigstens noch den Rückzug der Salutisten zu decken. Sie habe sich überzeugen müssen, daß es zu den schlimmsten Ereignissen führen könnte, wenn die öffentlichen Versammlungen der Salutisten fortgesetzt würden. Diese Situation sei zwei Mal da gewesen, zuerst vor dem Verbot durch das Statthalteramt, ein zweites Mal vor dem Schlusse des Lokales in Hottingen am 24. September. Nach seiner Anschauung sei der Regierungsrath gemäß Art. 50 Lemma 2 der Bundesverfassung befugt gewesen, die Maßnahmen zu treffen, welche den Gegenstand seines Beschlusses vom 12. August a. c. bilden und die obwaltenden Umstände haben ihm diese Handlungsweise zur Pflicht gemacht. Die Beurteilung seines Verfahrens stehe übrigens, soweit die Bundesbehörden in Frage kommen, wohl dem Bundesrathe und nicht dem Bundesgerichte zu.
 
E.
In der Replik wenden sich die Rekurrenten vorerst gegen

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den Bericht des zürcherischen Polizeikommandos und bemerken sodann: Eine Widerlegung der Behauptung, baß der Regierungsrath zum Erlaß der allgemeinen Verfügung vom 12. August 1885 nicht kompetent gewesen sei, habe der Regierungsrath nicht einmal versucht; diese Behauptung sei seither auch durch ein Urtheil des Bezirksgerichtes Zürich vom 28. Oktober 1885 als richtig anerkannt worden. Durch dieses Urtheil sei nämlich eine über die Salutistin Fräulein Lintner wegen Uebertretung des Dekretes vom 12. August 1885 verhängte Polizeibuße deßhalb aufgehoben worden, weil dieses Dekret unverbindlich sei. Ebensowenig lasse sich der Regierungsrath auf eine Erörterung der Frage ein, ob nicht materiell Art. 56 der Bundesverfassung oder 5 der Kantonsverfassung verletzt seien. Er beschränke sich vielmehr darauf, zu seiner Rechtfertigung sich auf das Hausirgesetz und auf Art. 50 Absatz 2 der Bundesverfassung zu berufen. Die Berufung auf das Hausirgesetz hätte man billig als erledigt betrachten können, nachdem das Bezirksgericht Zürich die Anwendbarkeit dieses Gesetzes mit schlagenden Gründen zurückgewiesen habe. Es sei in der That vollkommen klar, daß die gottesdienstlichen Uebungen der Heilsarmee keine "Schaustellungen", d.h. wesentlich auf den Gesichtssinn berechnete Produktionen seien und daß die Heilsarmee kein "Gewerbe" betreibe. Ihre Bestrebungen seien ausschließlich auf Verbreitung des Gottesglaubens und der Moral in den untern Schichten des Volkes gerichtet. Das zeige ihre über den ganzen Erdkreis verbreitete großartige Organisation und die von ihren Leuten ausgehende Literatur. Ein Widerspruch liege darin, daß der Regierungsrath sich neben dem Hausirgesetze auch auf Art. 50 Absatz 2 der Bundesverfassung berufe. Seien die Salutisten Gaukler und Hausirer, so haben ja ihre "Schaustellungen" mit Art. 50 der Bundesverfassung absolut nichts zu thun. Wenn der Regierungsrath sich auf den Rechtsboden des Art. 50 der Bundesverfassung stellen wolle, so müsse er vor Allem den religiösen Charakter der Verbindung rückhaltlos anerkennen. Art. 50 Absatz 2 der Bundesverfassung sei übrigens auf den Gottesdienst der Salutisten nicht anwendbar. Es sei richtig, daß Beschwerden über Verletzung dieser Verfassungsbestimmug

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vom Bundesrathe zu entscheiden seien. Wenn aber bei einer der Kognition des Bundesgerichtes unterworfenen staatsrechtlichen Beschwerde Art. 50 seitens des Rekursgegners nur vorgeschützt werde, um den eigentlichen Beschwerdepunkt zu umgehen, so könne das Bundesgericht einen solchen Einwand von sich aus beseitigen. Das im zweiten Satze des Art. 50 den Kantonen eingeräumte Recht gehe nicht weiter als das Bedürfniß der staatlichen Ordnung und öffentlichen Sicherheit. Nur dann, wenn ein Nothstand vorliege, dürfe die allgemeine Garantie der Kultusfreiheit im Sinne der restriktiv auszulegenden Ausnahmebestimmungen eingeschränkt werden. Ein Nothstand aber liege, wie bemerkt, durchaus nicht vor. Uebrigens würde stets die formelle Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Erlasses vom 12. August bestehen bleiben.
 
F.
Duplikando bemerkt der Regierungsrath des Kantons Zürich in rechtlicher Beziehung im Wesentlichen: Seine Schlußnahme vom 12. August 1885 sei selbstverständlich kein Gesetz, nicht einmal eine Verordnung, sondern ein einfacher Beschluß, welcher von einem Tag aus den andern aufgehoben werden könne. Die Berechtigung zum Erlasse desselben schöpfe die Regierung aus der ihr selbstverständlich zustehenden Befugniß, für Aufrechthaltung der Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Regierung von Zürich werde nicht mindern Rechtes sein als die Regierungen von Neuenburg und Bern, deren ganz analoge Verfügungen betreffend die Heilsarmee der Bundesrath anerkannt habe. Was das bezirksgerichtliche Urtheil vom 25. Oktober anbelange, so könne der Regierungsrath nur erklären, daß er hoffe, das Obergericht würde in einem zu seiner Kognition gelangenden Falle anders entscheiden. Im Kantonsrath, welcher der oberste Hüter der Verfassung im Kanton sei, sei von keiner Seite irgendwelche Einwendung gegen den Regierungsbeschluß, vom 12. August 1885 erhoben worden, obschon der Kantonsrath sich seit diesem Erlasse mehrmals versammelt habe. Ueber die Behauptung der Rekurrenten, daß der Regierungsrath den Art. 50 der Bundesverfassung "offenbar nur vorschütze," nicht im Ernste anrufe, verliere der Regierungsrath kein Wort; hier höre das Gebiet jeder ernsthaften Diskussion auf. Ueber die Anwendung des

BGE 12 I 93 (105):

kantonalen Hausirgesetzes habe das Bundesgericht insolange keine Veranlassung sich auszusprechen, als nicht ein verurtheilendes Erkenntniß der höchsten kantonalen Gerichtsinstanzen vorliege. Die Kolportage von Drucksachen der Heilsarmee unterliege jedenfalls den Bestimmungen dieses Gesetzes. Das Gleiche werde gesagt werden müssen, wenn auch im Kanton Zürich wie in England der Verschleiß von Heilsarmeeseife, Heilsarmeeuhren, u. vergl. in's Werk gesetzt werden sollte. Die neueste Leistung der Heilsarmee im Kanton Zürich bestehe darin, daß sie à 50 Cts. "Halleluja-Thee" ausschenke, selbstverständlich ohne sich im Mindesten um die kantonalen Gesetzesbestimmungen betreffend Wirthschaften zu kümmern. Wahrscheinlich werden auch Viele hierin eine Bestätigung des Urtheils des schweizerischen Protestantenblattes finden, daß die Hauptarbeit der Heilsarmee nicht Bekehrung sondern Ausleerung des Geldbeutels sei. Das Dekret vom 12. August 1885 stütze sich auf Art. 50 Absatz 2 der Bundesverfassung und es hätte eventuell der Bundesrath über eine bezügliche Beschwerde zu entscheiden.
 
Erwägungen:
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
 
Erwägung 2
2. Die Beschwerden gegen dieses Dekret sind nun verschiedener Natur. Einerseits wird geltend gemacht, dasselbe sei formell verfassungswidrig, der Regierungsrath sei nach Art. 28, 30, 31, 37 und 40 der Kantonsverfassung zum Erlaß desselben nicht kompetent gewesen, da es sich als allgemeine gesetzliche Norm qualifizire; andererseits wird behauptet, das Dekret verletze materiell die in Art. 3 der Kantons- und 56 der Bundesverfassung enthaltene Gewährleistung des Vereins- und Versammlungsrechtes und die in Art. 49 und 50 der Bundesverfassung und 63 Absatz 1 der Kantonsverfassung garantirte

BGE 12 I 93 (106):

Glaubens- und Kultusfreiheit. In letzterer Richtung ist nun jedenfalls das Bundesgericht nicht kompetent. Der in Art. 63 Absatz 1 der Kantonsverfassung enthaltenen Garantie der Glaubens- und Kultusfreiheit kommt neben den, das gleiche Grundrecht betreffenden, Bestimmungen der Bundesverfassung (Art. 49 Absatz 1 und 50 Absatz 1) für die Geltungsdauer der letztern eine selbständige Bedeutung nicht zu, da sie mit denselben inhaltlich vollkommen übereinstimmt. Ein selbständiges Beschwerderecht wegen Verletzung der erwähnten Bestimmung der Kantonsverfassung besteht also, nach den vom Bundesgerichte bereits in wiederholten Entscheidungen aufgestellten Grundsätzen, zur Zeit nicht. Zu Beurtheilung von Beschwerden wegen Verletzung der in Frage stehenden Gewährleistungen der Art. 49 und 50 der Bundesverfassung aber ist nicht das Bundesgericht sondern sind gemäß Art. 59 des Bundesgesetzes über Organisation der Bundesrechtspflege die politischen Behörden des Bundes zuständig. Dagegen ist das Bundesgericht zu Beurtheilung der übrigen Beschwerdegründe der Rekurrenten kompetent, denn dieselben beziehen sich auf solche verfassungsmäßige Rechte, deren Wahrung nach Verfassung und Gesetz dem Bundesgerichte zusteht.
 
Erwägung 3
 
Erwägung 4
 
Erwägung 5


BGE 12 I 93 (107):

5. Als wesentlicher Beschwerdegrund erscheint nämlich offenbar derjenige wegen Verletzung des Vereins- und Versammlungsrechtes. In dieser Beziehung kommt als Entscheidungsnorm ausschließlich Art. 3 der Kantonsverfassung in Betracht, welcher, wie das Bundesgericht bereits in seiner Entscheidung in Sachen Obrist und Genossen vom 24. September 1881 (Amtliche Sammlung VII, S. 502) ausgeführt hat, das Vereins- und Versammlungsrecht in weiterm Umfange garantirt als Art. 56 der Bundesverfassung. Wie das Bundesgericht in seiner angeführten Entscheidung dargethan hat, beschränkt Art. 3 der Kantonsverfassung das Vereins- und Versammlungsrecht subjektiv nicht auf die Staatsbürger sondern gewährleistet dasselbe allen S[t]aatseinwohnern; es ist daher, was übrigens nicht bestritten ist, auch der Beschwerdeführer Schaaff, trotz seiner Eigenschaft als Ausländer, zur Beschwerde wegen Verletzung dieses Verfassungsartikels berechtigt. Wie im Fernern in der gleichen Entscheidung ausgeführt ist, unterwirft Art. 3 der zürcherischen Kantonsverfassung objektiv das Vereins- und Versammlungsrecht keinen andern Beschränkungen als denjenigen des allgemeinen Rechtes; es dürfen daher Vereinigungen Mehrerer zu Vereinen oder Versammlungen nur insofern verboten oder beschränkt werden, als dieselben eine nach allgemeinem Recht rechtswidrige Handlung involviren. Dagegen dürfen Vereine und Versammlungen nicht etwa deßhalb verboten oder beschränkt werden, weil ihre Thätigkeit nach dem Dafürhalten der Regierungsbehörde oder auch des Publikums in seiner Majorität eine unvernünftige oder kulturwidrige ist. Die Garantie individueller Grundrechte will ja eben die Machtsphäre der Staatsgewalt zu Gunsten der freien, ungehinderten Bethätigung des Individuums beschränken; sie schließt das freie, nur von Zweck- mäßigkeitsrücksichten geleitete, Eingreifen der Staatsgewalt auf bestimmten Lebensgebieten aus, um diese, innerhalb der Schranken der bestehenden Rechtsordnung, der freien Bethätigung der einzelnen zu wahren. Nun sind durch das angefochtene Dekret die Versammlungen der sogenannten Heilsarmee einer empfindlichen Beschränkung unterworfen worden, indem der Heilsarmee alle öffentlichen Versammlungen untersagt und nur private Ver

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sammlungen in geschlossenen Lokalen gestattet werden. Diese Beschränkung der Versammlungsfreiheit ist nach dem Gesagten mit Art. 3 der Kantonsverfassung nur dann vereinbar, wenn die öffentlichen Versammlungen der sogenannten Heilsarmee nach dem allgemeinen öffentlichen oder Privatrechte des Kantons rechtswidrig sind; dies ist aber gewiß nicht der Fall. Daß die Gebetsübungen der Heilsarmee etwa unsittlich wären oder zum Deckmantel unsittlicher Handlungen dienten, ist gar nicht behauptet und es wäre eine solche Behauptung auch mit der Duldung privater Versammlungen dieser Gesellschaft unvereinbar. Ebenso kann im Ernste gewiß nicht gesagt werden, daß Versammlungen zu gemeinsamen Gebetsübungen, wie die Heilsarmee sie abzuhalten pflegt, unter die Vorschriften des kantonalen Hausirgesetzes über öffentliche "Schaustellungen" fallen.
Wenn allerdings, und nur in dieser Richtung scheint die Regierung von Zürich an der Anwendung des Hausirgesetzes noch festhalten zu wollen, einzelne Mitglieder der Heilsarmee Beschäftigungen, wie Kolportiren von Schriften u.s.w. betreiben, welche unter das Hausirgesetz wirklich fallen, so sind dieselben selbstverständlich den Vorschriften dieses Gesetzes ganz gleich wie alle andern Bürger unterstellt; machen sie sich einer Uebertretung des Hausirgesetzes schuldig, so unterliegen sie dafür der Bestrafung; dagegen berechtigen solche Uebertretungen des Hausirgesetzes durch einzelne Salutisten gewiß nicht dazu, die öffentlichen Versammlungen der Heilsarmee einfach zu verbieten. Wesentlich wird denn auch das Verbot der öffentlichen Versammlungen der Heilsarmee von der Regierung von Zürich nicht hierauf sondern vielmehr darauf begründet, daß diese Versammlungen ernste Störungen der öffentlichen Ordnung zur Folge haben. Allein es ist nun nicht behauptet, daß die Versammlungen der Heilsarmee an sich die öffentliche Ordnung stören, d.h. daß die Salutisten ihrerseits bei ihren Versammlungen sich ordnungsstörende Handlungen zu schulden kommen lassen. Vielmehr gingen die Störungen der öffentlichen Ordnung unzweifelhaft von Dritten Personen aus, welche die Versammlungen der Heilsarmee störten. Die Ausübung eines verfassungsmässigen Rechtes darf nun aber gewiß nicht deßhalb be

BGE 12 I 93 (109):

schränkt oder aufgehoben werden, weil Dritte dessen berechtigte Ausübung zum Anlaße der Begehung rechtswidriger Handlungen machen; die verfassungsmäßige Vereins- und Versammlungsfreiheit darf nicht deßhalb aufgehoben werden, weil Dritte dieselbe mißachten und dadurch zu Störungen der öffentlichen Ruhe und Ordnung Anlaß geben. Es mag ja zugegeben werden, daß die Polizei, kraft ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrecht zu halten und Leben und Eigenthum der Bürger zu schützen, berechtigt ist, etwa eine einzelne Versammlung aufzuheben, sofern sie nicht im Stande ist, durch andere Mittel die Ordnung aufrecht zu halten und die Theilnehmer an der betreffenden Versammlung zu schützen. Dagegen geht es nicht an, daß die Staatsgewalt sich ihrer Aufgabe, die durch rechtswidrige Handlungen Dritter gefährdete Ausübung des Vereins- und Versammlungsrechtes zu schützen, dadurch entledige, daß sie die betreffenden bedrohten Versammlungen einfach verbietet. Die verfassungsmäßige Gewährleistung muß auch dann und gerade dann ihre Wirksamkeit äußern, wenn es sich um Vereine oder Versammlungen handelt, welche dem Publikum in seiner Majorität oder der Regierungsgewalt nicht sympathisch sind; gerade in solchen Fällen hat sich die verfassungsmäßige Garantie des individuellen Rechtes des Bürgers praktisch zu bewähren.
 
Erwägung 6
6. Wenn die Regierung des Kantons Zürich sich zur Rechtfertigung ihrer angeführten Schlußnahme auf Art. 50 Absatz 2 der Bundesverfassung beruft, so kann diese Einwendung das Bundesgericht nicht hindern, den Rekurs vom Standpunkte der in seine Kompetenz fallenden Bestimmungen der Kantonsverfassung aus zu prüfen, und denselben, sofern die angefochtenen Verfügungen gegen diese Verfassungsbestimmungen verstoßen, als begründet zu erklären. Denn es kann eine Verfügung sehr wohl vor der Bundesverfassung bestehen, aber mit einer Kantonalverfassung unverträglich sein und umgekehrt. Wie das Bundesgericht schon zu widerholten Malen ausgesprochen hat, können die kantonalen Verfassungen die individuellen Rechte der Bürger in weitem Umfange garantiren, als es die Bundesverfassung thut und Verfügungen, welche derart garantirte Rechte verletzen, find nicht minder verfassungswidrig und ungültig, als solche

BGE 12 I 93 (110):

welche mit der Bundesverfassung in Widerspruch stehen. Ueber Beschwerden wegen Verletzung des in Frage stehenden Art. 3 der Zürcher Verfassung hat aber ausschließlich das Bundesgericht zu entscheiden. Dagegen muß selbstverständlich dem Bundesrathe vorbehalten bleiben, seinerseits über die Anwendung des Art. 50 Absatz 2 der Bundesverfassung, dessen Handhabung in die Kompetenz der politischen Behörden fällt, zu entscheiden.
 
Dispositiv
Der Rekurs wird als begründet erklärt und es wird mithin die Verfügung des Regierungsrathes des Kantons Zürich vom 12. (und 8.) August 1885 als mit Art. 3 der Kantonsverfassung unvereinbar, aufgehoben.