BVerwGE 85, 283 - Abwehr von Tonaufnahmen in Ratssitzungen


BVerwGE 85, 283 (283):

Das Grundrecht der Pressefreiheit eines Journalisten wird nicht dadurch verletzt, daß ihm der Ratsvorsitzende in Ausführung eines entsprechenden Ratsbeschlusses untersagt, die öffentliche Sitzung des Rates auf Tonband aufzuzeichnen.
Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 5 Abs. 1 Satz 2, 28 Abs. 2 GG; UrhG § 48 Abs. 1 Nr. 2; NGO §§ 44, 45
 
Urteil
des 7. Senats vom 3. August 1990
- BVerwG 7 C 14.90 -
I. Verwaltungsgericht Hannover
II. Oberverwaltungsgericht Lüneburg
Der Kläger, der für ein lokales Wochenblatt Presseberichte schreibt, nahm mit weiteren Journalisten an einer Sitzung des Rates der Stadt G. teil, um deren Ablauf auf Tonband aufzuzeichnen. Nach Eröffnung der Sitzung unterrichtete der beklagte Ratsvorsitzende den Rat über die - inzwischen angelaufene - Aufzeichnung. Daraufhin beschloß der Rat mit 34 zu 4 Stimmen, die Tonbandaufzeichnung nicht zuzulassen. Da der Beklagte vergeblich bat, das Tonbandgerät abzustellen, wurde die Sitzung unterbrochen und sodann vertagt.
Im vorliegenden Verfahren erstrebt der Kläger die Verpflichtung des beklagten Ratsvorsitzenden, ihm künftig die Aufzeichnung von Wortbeiträgen aus Anlaß öffentlicher Sitzungen des Rats der Stadt G. zu gestatten.
Die Klage ist in allen drei Rechtszügen erfolglos geblieben.
 


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Aus den Gründen:
1. Der Kläger kann sich für die Berichterstattung als Pressemitarbeiter eines Wochenblatts auf das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf Pressefreiheit berufen. Die Pressefreiheit erstreckt sich auf den Bereich der Informationsbeschaffung (BVerfGE 50, 234 [240]); sie umgreift damit die Tätigkeiten, die der Pressemitarbeiter entfaltet, um sich über den Verlauf öffentlicher Sitzungen eines Gemeinderats zu informieren. Ein aus dem Grundrecht der Pressefreiheit herzuleitender Anspruch auf Informationsbeschaffung in der von dem Kläger geforderten Art und Weise, nämlich darauf, die Redebeiträge von Ratsmitgliedern oder Äußerungen Dritter, die im Rat zu Worte kommen, ohne die Zustimmung des Beklagten auf Tonband aufzuzeichnen, steht dem Kläger indessen nicht zu.
a) Was die Rechtsgrundlage der Informationsbeschaffung im Pressewesen angeht, so hat der erkennende Senat entschieden, daß ein Anspruch der Presse auf Information in seiner Ausprägung als Auskunftsanspruch gegen Behörden unmittelbar aus dem Grundgesetz nicht herzuleiten ist (BVerwGE 70, 310 [311 ff.]). Die Frage, wann und wo es zur Verwirklichung der Pressefreiheit im Bereich der Beschaffung publizistischer Informationen einer rechtlichen Verpflichtung öffentlicher Stellen zur Auskunft bedarf, kann weder mit einem - von der Verfassung vermeintlich vorgegebenen - einfachen Ja noch auf Grund einer allein am Einzelfall orientierten Betrachtung beantwortet werden. Das Grundgesetz hat es vielmehr den Gesetzgebern von Bund und Ländern überlassen, in Abwägung der betroffenen privaten und öffentlichen Interessen mit dem publizistischen Informationsinteresse zu regeln, ob und unter welchen - generell und abstrakt zu

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umschreibenden - Voraussetzungen ein Informationsrecht der Presse in der Form des Anspruchs auf Auskunft behördlicher Stellen besteht. Diese Erwägung trifft in gleicher Weise auf den hier in Rede stehenden verfassungsrechtlichen Schutz der Informationsbeschaffung gegenüber der öffentlichen Verwaltung in der speziellen Form der Tonaufzeichnung von öffentlichen Sitzungen einer Gemeindevertretung zu. Auch die Zulässigkeit dieser Modalität der Beschaffung pressebedeutsamer Informationen ist nicht abschließend in der Verfassung vorentschieden; auch insoweit behält das Grundgesetz dem Gesetzgeber, hier dem für die Regelung des Kommunalrechts berufenen Landesgesetzgeber, die Entscheidung darüber vor, ob und wie er normiert.
Weder Bestimmungen des Niedersächsischen Pressegesetzes noch solche der Niedersächsischen Gemeindeordnung begründen indes aus der für ihre Anwendung und Auslegung maßgeblichen rechtlichen Sicht des Oberverwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 1 VwGO) den geltend gemachten Anspruch auf Tonaufzeichnung der anläßlich öffentlicher Ratssitzungen geleisteten Wortbeiträge. Auf Grund des in der Niedersächsischen Gemeindeordnung wurzelnden Hausrechts des Ratsvorsitzenden ist es landesrechtlich vielmehr in dessen Sitzungsgewalt gestellt, ob den an den Sitzungen teilnehmenden Journalisten die Verwendung von Tonbandgeräten gestattet oder untersagt werden soll. Eine weitergehende Regelung im Sinne eines strikten Rechtsanspruchs auf Verwendung von Tonbandgeräten fordert das Grundrecht der Pressefreiheit - hier in seiner objektivrechtlichen Ausformung als verfassungsrechtliche Wertentscheidung - nicht.
b) Die vom Oberverwaltungsgericht festgestellte landesrechtliche Befugnis des Ratsvorsitzenden zur Untersagung von Tonaufzeichnungen in öffentlicher Sitzung erweist sich als eine zulässige, in den allgemeinen Gesetzen begründete Schranke der Pressefreiheit im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Das die Sitzungsgewalt umschließende Hausrecht des Ratsvorsitzenden beruht auf einem allgemeinen Gesetz: die Niedersächsische Gemeindeordnung richtet sich, was keiner Begründung bedarf, mit der Regelung der Ordnungsbefugnisse des Ratsvorsitzenden nicht spezifisch gegen die Presse; sie dient vielmehr, wie es das Bundesverfassungsgericht zur Bestimmung der Schranken der Pressefreiheit formuliert, "dem Schutz

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eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Information oder Meinung, zu schützenden Rechtsguts ... eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Pressefreiheit den Vorrang genießt" (BVerfGE 50, 234 [241]).
Zutreffend haben die Vorinstanzen, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsgüter- und Verfassungswerteabwägung im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG folgend (vgl. BVerfGE 35, 202 [223 ff.] "Lebach"), beachtet, daß Pressefreiheit und das der Pressefreiheit Schranken ziehende allgemeine Gesetz in einem Verhältnis der Wechselwirkung gesehen werden müssen; dies deshalb, weil das allgemeine Gesetz seinerseits im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der Pressefreiheit auszulegen und unter Wahrung des besonderen Wertgehalts der Pressefreiheit zu interpretieren ist.
Nicht uneingeschränkt kann den Vorinstanzen hingegen in ihrer Sicht der Rechtsgüterabwägung beigepflichtet werden, die sich aus der Wechselbezüglichkeit von Grundrecht und allgemeinem Gesetz ergibt. Entgegen ihrer Auffassung geht nämlich nicht das Persönlichkeitsrechts der Ratsmitglieder als das mit der Pressefreiheit konkurrierende Rechtsgut in die gebotene Abwägung ein. Es ist vielmehr das öffentliche Interesse daran, daß die Gemeindeverwaltung ihre Aufgaben sachgerecht erfüllen kann, das als rechtlich geschütztes Gut hinter der in der Gemeindeordnung begründeten Sitzungs- und Hausordnungsbefugnis des Ratsvorsitzenden steht. Auch die Äußerungen eines Ratsmitglieds im Rahmen öffentlicher Sitzungen unterfallen diesem funktionellen Aspekt. Dementsprechend ist das Rederecht des Ratsmitglieds als ein aus seiner mitgliedschaftlichen Stellung in der Gemeindevertretung fließendes Organrecht anzusehen (Senatsbeschluß vom 12. Februar 1988 - BVerwG 7 B 123.87 - [DVBl. 1988, 792 = Buchholz 415.1 AllgKommR Nr. 72]).
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Ratsmitglieder, auf das die Vorinstanzen im Rahmen der Rechtsgüterabwägung maßgeblich abgestellt haben, ist demgegenüber für das Abwägungsergebnis von keiner tragenden Bedeutung. Das Interesse an der Wahrung des Persönlichkeitsrechts der Ratsmitglieder vermag zwar die Amtsführung des Ratsvorsitzenden mitzu

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bestimmen. Denn der Ratsvorsitzende hat seine Ordnungsbefugnisse auch darauf zu richten, daß Angriffen auf Persönlichkeitsrechte der Ratsmitglieder, etwa in Form beleidigender Zwischenrufe, entgegengetreten wird. Das ändert aber nichts daran, daß die dem Ratsvorsitzenden eingeräumten Befugnisse nicht den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Ratsmitglieder als solchen bezwecken, sondern dazu dienen, die äußeren Bedingungen sicherzustellen, die für einen ordnungsgemäßen Sitzungsbetrieb erforderlich sind. Aus dieser rechtlichen Zielsetzung heraus hat der Ratsvorsitzende Störungen der Verwaltungstätigkeit zu vermeiden und zu beheben, wie sie sich auch im Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsrechtsverletzung ergeben können (dazu zutreffend Ehlers in NWVBl. 1988, 122 [125]).
Das durch die Sitzungsgewalt des Ratsvorsitzenden repräsentierte Funktionsinteresse verleiht dessen Befugnis zur Entscheidung über die Zulassung von Tonaufzeichnungen auch ein solches Gewicht, daß es zu keiner unverhältnismäßigen Beschränkung der Presse führt, wenn ein Journalist auf Grund eines entsprechenden Ratsbeschlusses im Einzelfall durch den Ratsvorsitzenden gehindert wird, sich seine Informationen über öffentliche Sitzungen im Wege der Tonaufzeichnung zu verschaffen. Was die Vorinstanzen hierzu, freilich zu Unrecht bezogen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Ratsmitglieder als abzuwägendes Rechtsgut, ausgeführt haben, gilt weitgehend auch, wenn man statt dessen das in der mitgliedschaftlichen Wahrnehmungszuständigkeit liegende Rederecht des Ratsmitglieds auf die Waagschale legt.
Auch das Recht des Ratsmitglieds auf freie Rede, das nicht in der höchstpersönlichen Rechtssphäre gründet, kann durch die Aufzeichnung auf Tonband faktisch empfindlich tangiert werden. Ein gleichartiger psychologischer Befund hat den Gesetzgeber sogar veranlaßt, die Verhandlung im Gerichtsverfahren, dort allerdings zum Schutz anderer Rechtsgüter als hier, von Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie von Ton- und Filmaufnahmen mit dem Ziel ihrer Veröffentlichung ganz freizuhalten (§ 169 GVG). Eine von psychologischen Hemmnissen möglichst unbeeinträchtigte Atmosphäre gehört zu den notwendigen Voraussetzungen eines geordneten Sitzungsbetriebs, den der Ratsvorsitzende zu gewährleisten hat. Das beruht auf dem legitimen, letztlich in der Gewährleistung der Selbstver

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waltung durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten öffentlichen Interesse daran, daß die Willensbildung des Rates als demokratisch legitimierter Gemeindevertretung ungezwungen, freimütig und in aller Offenheit verläuft. Von daher kann die von den Vorinstanzen anerkannte Besorgnis nicht vernachlässigt werden, daß insbesondere in kleineren und ländlichen Gemeinden weniger redegewandte Ratsmitglieder durch das Bewußtsein des Tonmitschnitts ihre Spontaneität verlieren, ihre Meinung nicht mehr "geradeheraus" vertreten oder schweigen, wo sie sonst gesprochen hätten. Denn Tonbandaufzeichnungen zeitigen nun einmal für das Verhalten der Betroffenen erhebliche Wirkung, weil sie jede Nuance der Rede, einschließlich der rhetorischen Fehlleistungen, der sprachlichen Unzulänglichkeiten und der Gemütsbewegungen des Redners, dauerhaft und ständig reproduzierbar konservieren. Andererseits kann die Qualität einer Berichterstattung über die Diskussion und Lösung kommunalpolitischer Probleme schwerlich davon abhängig sein, daß jede in der Sitzung gefallene Äußerung nach genauem Wortlaut, Tonfall und emotionaler Färbung auf Dauer technisch festgehalten wird. Soweit im Einzelfall ein Interesse an der wortgetreuen Wiedergabe von Redepassagen besteht, eröffnen die Mittel der Schrift genügend Möglichkeiten, exakt zu berichten. Auch insoweit stellt die Tonbandaufzeichnung weder ein wesentliches noch gar ein unersetzliches Mittel zur Beschaffung von Informationen über den Ablauf öffentlicher Sitzungen von Gemeindevertretungen dar. Aus alledem folgt, daß der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf allgemeine Zulassung der Aufzeichnung von Ratssitzungen auf Tonband aus der grundrechtlich verbürgten Pressefreiheit nicht abzuleiten ist.
2. Die Vorinstanzen sind schließlich mit Recht davon ausgegangen, daß das Klagebegehren auch nicht aus der Regelung des § 48 Abs. 1 Nr. 2 UrhG zu rechtfertigen ist. Zweck dieser Vorschrift, die die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe von Reden gestattet, welche bei öffentlichen Verhandlungen staatlicher, kommunaler und kirchlicher Organe gehalten worden sind, ist es (nur), urheberrechtliche Verwertungsbefugnisse, also private Rechte einzuschränken; einen öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Gestattung von Tonaufzeichnungen der Sitzungen solcher Organe vermittelt sie nicht. Außerdem sind nur die Ratsmitglieder selbst als

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Urheber verpflichtet, die Verwertung ihrer Reden durch Dritte zu dulden. Den Beklagten, der als Glied der Verwaltung außerhalb der urheberrechtlichen Beziehungen der Ratsmitglieder zu Dritten steht, trifft eine solche Verpflichtung nicht.