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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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25. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 10. Juni 1980 |
i.S. P. E. gegen Grosser Rat des Kantons Aargau |
(Staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 2 ÜbBest. BV; Frist zur Einreichung von Begnadigungsgesuchen. |
Beschränkte Anfechtbarkeit von Gnadenentscheiden. Zulässiges Rechtsmittel (E. 1). |
Die kantonalrechtliche Vorschrift, nach welcher Gnadengesuche innert einer Frist von dreissig Tagen nach der Verurteilung einzureichen sind, verstösst gegen Bundesrecht (E. 2). | |
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A. | |
P. E. wurde am 1. Juni 1977 vom Bezirksgericht Aarau zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von zwei Monaten verurteilt. Am 18. Mai 1979 reichte P. E. beim Grossen Rat des Kantons Aargau ein Begnadigungsgesuch ein. Dieser beschloss am 13. November 1977, auf das Gesuch nicht einzutreten, da die in § 5 der kantonalen Verordnung über die Begnadigung vorgesehene Frist von 30 Tagen zur Einreichung eines Gnadengesuches bereits abgelaufen sei. P. E. hat gegen den Nichteintretensbeschluss staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV und Art. 4 BV erhoben. ![]() | 1 |
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Erwägung 1 | |
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Es kann sich deshalb nur die Frage stellen, ob der Beschluss des Grossen Rates mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar sei. Da kein Rechtsanspruch auf Begnadigung besteht, ist der materielle Entscheid über ein Gnadengesuch der richterlichen Überprüfung weitgehend entzogen (vgl. BGE 95 I 544). Dagegen kann - wie im vorliegenden Falle - mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend gemacht werden, der Anspruch des Gesuchstellers auf Entgegennahme und Behandlung seines Begnadigungsgesuches sei verletzt worden.
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Ob ein kantonaler Rechtssatz oder die ihm gegebene Auslegung mit dem Bundesrecht vereinbar sei, prüft das Bundesgericht frei (BGE 102 Ia 155 mit Hinweisen). ![]() | 6 |
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"Gesuche um Begnadigung sind bei der Justizdirektion innert 30 Tagen nachdem das Urteil Rechtskraft erlangt hat, schriftlich einzureichen."
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Eine Möglichkeit der Wiederherstellung der dreissigtägigen Frist ist nicht vorgesehen. Es handelt sich daher bei dieser Frist, wie auch der Grosse Rat eingeräumt hat, um eine Verwirkungsfrist.
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Mit dem Ablauf einer Verwirkungsfrist geht der Rechtsanspruch an sich und nicht nur eine prozessuale Befugnis unter. Der aargauische Grosse Rat führt daher zu Unrecht aus, dass § 5 Abs. 1 der Begnadigungsverordnung eine reine Verfahrensvorschrift darstelle, zu deren Erlass er ohne weiteres befugt gewesen sei. Indessen vertritt der Grosse Rat die Auffassung, dass er auch kompetent sei, materiellrechtliche Bestimmungen über die Voraussetzungen der Begnadigung zu erlassen.
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Auf diese Gedanken des historischen Gesetzgebers stützt sich das (nicht veröffentlichte) Urteil des Bundesgerichtes i.S. Flury vom 14. Juli 1944. Das Gericht hatte sich in diesem Entscheid mit Art. 20 des waadtländischen Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch zu befassen, nach welchem nur Zuchthaus- ![]() ![]() | 12 |
Nach dem Urteil Flury wäre es somit den Kantonen verwehrt, irgendwelche materiellen Normen über die Ausübung des Gnadenrechtes zu erlassen. Ob an dieser Rechtsprechung, die nicht ohne Kritik geblieben ist (vgl. CAVIN, Droit pénal fédéral et procédure cantonale, ZSR 65/1946 S. 57 a f.; s.a. CLERC, De l'exercice du droit de grâce par les cantons sous l'empire du Code pénal suisse, ZStR 73/1958 S. 111 f.), festzuhalten sei, kann im vorliegenden Falle offenbleiben. Selbst wenn nämlich die Kantone zum Erlass materiellrechtlicher Bestimmungen über die Ausübung des Begnadigungsrechtes kompetent wären, könnten diese Bestimmungen die Regelung, die der Bundesgesetzgeber auf diesem Bereich getroffen hat, nur ergänzen, nicht aber zu ihr in Widerspruch treten.
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c) Das Bundesrecht sieht keine Frist vor, innert welcher die Begnadigungsgesuche einzureichen wären, und ermächtigt auch die Kantone nicht, solche Fristen mit Verwirkungsfolge vorzusehen. In Art. 395 Abs. 2 StGB wird der Begnadigungsbehörde einzig gestattet zu bestimmen, dass ein abgelehntes Begnadigungsgesuch vor Ablauf eines gewissen Zeitraumes nicht erneuert werden darf. Aus dem Umstand, dass der Bundesgesetzgeber in Art. 395 Abs. 2 StGB die dort umschriebene Frist ausdrücklich als zulässig erklärt, ergibt sich e contrario, dass andere Fristen, die die Ausübung des Gnadenrechts beschränken, ausgeschlossen sein sollen. Aus den Gesetzesvorarbeiten geht denn auch insgesamt hervor, dass das Begnadigungsrecht ![]() ![]() | 14 |
Erwägung 3 | |
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Entscheid: | |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss des Grossen Rates des Kantons Aargau vom 13. November 1979 aufgehoben. ![]() | 17 |
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