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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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45. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 15. November 1991 |
i.S. Eidg. Steuerverwaltung gegen Erben X. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern |
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 114bis Abs. 3 BV, Art. 130 Abs. 1 BdBSt, Art. 6 Ziff. 2 EMRK; Steuerstrafrecht; Erbenhaftung; Unschuldsvermutung; Überprüfung von Bundesgesetzen. |
1. Die Überprüfung von Bestimmungen des BdBSt auf ihre Verfassungsmässigkeit ist nach Art. 114bis Abs. 3 BV ausgeschlossen (E. 1). |
2. Können Bestimmungen des BdBSt daraufhin geprüft werden, ob sie mit der EMRK übereinstimmen? (E. 2). |
3. Die in Art. 130 Abs. 1 BdBSt verankerte Haftung der Erben für die vom Erblasser verwirkten Nachsteuern und Bussen verstösst nicht gegen die Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK (E. 3-5). | |
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A. | |
X. ist am 18. Oktober 1988 gestorben. Er hinterliess als gesetzliche Erben seine Ehefrau sowie vier Kinder. Nach dem Tod des Erblassers entdeckten die Erben, dass er Vermögen und Vermögensertrag nicht vollständig versteuert hatte. Sie machten deshalb Anzeige bei der kantonalen Steuerverwaltung.
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Die Kantonale Verwaltung für die direkte Bundessteuer Luzern führte in der Folge ein Hinterziehungsverfahren durch. Am 9. März 1990 verfügte sie für die rechtskräftig veranlagten Steuerjahre 1983 bis 1988 eine Nachsteuer von Fr. ... und eine Busse von ![]() ![]() | 2 |
Gegen diese Verfügung erhoben die Erben beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Beschwerde mit dem Antrag, die Busse, nicht aber die Nachsteuer sei aufzuheben. Sie vertraten den Standpunkt, die Busse verstosse gegen Art. 4 BV und gegen Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Unschuldsvermutung). Sie treffe an der unrichtigen Versteuerung kein Verschulden.
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Mit Urteil vom 18. März 1991 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern die Beschwerde gut und hob die Busse auf, im wesentlichen mit folgender Begründung:
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Soweit Art. 130 Abs. 1 BdBSt die Erben ohne Rücksicht auf ein eigenes Verschulden für die vom Erblasser verwirkten Bussen haftbar erkläre, verstosse er gegen Art. 4 BV. Das Verwaltungsgericht müsse allerdings die Bestimmungen des BdBSt anwenden, auch wenn sie verfassungswidrig seien (gemäss Art. 113 Abs. 3 bzw. Art. 114bis Abs. 3 BV). Diese Bindungswirkung bestehe jedoch nicht, soweit die Vereinbarkeit von Bestimmungen des BdBSt mit jenen der EMRK in Frage stünden, weil das Völkerrecht dem Landesrecht vorgehe.
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Das Verwaltungsgericht erwog sodann, Art. 6 Ziff. 2 EMRK verpflichte als Beweisregel die Strafverfolgungsbehörden, die Schuld des Angeklagten zu beweisen. Daneben komme der Bestimmung auch für den Gesetzgeber Bedeutung zu. Dieser dürfe keine Normen erlassen, die eine Umkehrung der Beweislast zur Folge hätten oder gar den Entlastungsbeweis ausschlössen. Das sei aber bei Art. 130 Abs. 1 BdBSt der Fall, soweit die Erben "ohne Rücksicht auf ein eigenes Verschulden" für die vom Erblasser verwirkten Steuerbussen haftbar seien. Art. 130 Abs. 1 BdBSt sei insoweit nicht anwendbar, und die gestützt auf diese Bestimmung gegenüber den Erben ausgesprochene Busse sei aufzuheben.
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Hiegegen führt die Eidg. Steuerverwaltung Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Nachsteuer- und Bussenverfügung der Kantonalen Verwaltung für die direkte Bundessteuer zu bestätigen.
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Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet. Die Erben schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und bestätigt die Nachsteuer- und Bussenverfügung der Kantonalen Verwaltung für die direkte Bundessteuer. ![]() | 9 |
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Aus den Erwägungen:
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Erwägung 1 | |
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Erwägung 2 | |
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a) Die Europäische Menschenrechtskonvention ist als ein von der Bundesversammlung genehmigter Staatsvertrag für die rechtsanwendenden Behörden nicht weniger verbindlich als ein Bundesgesetz (oder eine der Bundesgesetzgebung gleichgestellte Rechtsverordnung ![]() ![]() | 15 |
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c) Bei der Europäischen Menschenrechtskonvention handelt es sich allerdings um einen besonderen Staatsvertrag, da die in ihr ![]() ![]() | 17 |
Diese verfahrensmässige Gleichstellung der durch die Konvention geschützten mit den verfassungsmässigen Rechten ist durchaus berechtigt und folgerichtig. Es kann indessen nicht übersehen werden, dass das Bundesgericht sich im erwähnten Urteil nur mit dieser verfahrensrechtlichen Frage auseinandergesetzt hat. Es rechtfertigt sich unter diesen Umständen nicht, aus jenem Entscheid zu schliessen, dass es den rechtsanwendenden Behörden verwehrt wäre, Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse daraufhin zu überprüfen, ob sie sich mit der Konvention im Einklang befinden.
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d) Die besondere Natur der durch die Konvention geschützten Rechte spricht zwar dafür, sie bei der Grundrechtskonkretisierung zu beachten, was in der Praxis nicht nur durch entsprechende Auslegung der Bundesgesetze (z.B. BGE 114 Ia 180 ff., 106 Ia 406), sondern auch in Weiterentwicklung der in der Bundesverfassung enthaltenen Rechte geschieht. Sie wirft jedoch die Frage auf, ob die Überprüfung von Bundesgesetzen unter dem Gesichtspunkt der durch die Konvention geschützten Rechte nicht ebenso ausgeschlossen ist wie unter dem Gesichtspunkt der verfassungsmässigen Rechte. Den rechtsanwendenden Behörden ist es nach Art. 113 Abs. 3 BV und Art. 114bis Abs. 3 BV untersagt, Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen, und es stellt sich die Frage, ob die Menschenrechtskonvention nicht auch in dieser ![]() ![]() | 19 |
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Art. 114bis Abs. 3 BV verbietet demnach nicht, allgemein anerkannte Prinzipien anzuwenden, die das Verfassungsrecht und Völkerrecht in Einklang bringen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang namentlich das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, das für die Schweiz am 6. Juni 1990 in Kraft getreten ist (SR 0.111) und das in Art. 26 und 27 nun ausdrücklich den Grundsatz des Vorrangs des vertraglichen Völkerrechts enthält. Dieser Grundsatz verlangt von allen rechtsanwendenden Organen ![]() ![]() | 21 |
Auch wenn die Wahrnehmung der völkerrechtlichen Beziehungen ausschliesslich den politischen Behörden, vorab dem Bundesrat (Art. 102 Ziff. 8 BV), obliegt, rechtfertigt es sich nicht, die Harmonisierung von Landesrecht und durch die Schweiz abgeschlossenen Völkerrechtsverträgen nur den politischen Instanzen zu überlassen. Das bedeutet keinen Einbruch in den Grundsatz der Gewaltenteilung, da aus rechtlicher Sicht alle Behörden verpflichtet sind, im Rahmen ihrer Kompetenzen das die Schweiz bindende Völkerrecht zu respektieren und anzuwenden (in diesem Sinne auch die gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völkerrecht, Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht im Rahmen der schweizerischen Rechtsordnung, vom 26. April 1989, VPB 53/1989 S. 393 ff., besonders Ziff. 14 ff. [französischer Text: S. 437 ff.]). Es spricht daher auch nichts dagegen, dass der Richter die Bundesgesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Konvention prüft. Natürlich kann er nicht eine Gesetzesbestimmung aufheben, weil sie dem Völkerrecht widerspricht; er könnte höchstens im konkreten Einzelfall die betreffende Norm nicht anwenden, wenn sie sich als völkerrechtswidrig erweist und zu einer Verurteilung der Schweiz führen könnte.
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Art. 114bis Abs. 3 BV statuiert im übrigen nur ein Anwendungsgebot, kein Prüfungsverbot. Dem Bundesgericht ist es nicht verwehrt, eine Norm daraufhin zu prüfen, ob sie der Verfassung oder der Konvention widerspricht, wie es auch den Gesetzgeber einladen kann, eine verfassungs- oder konventionswidrige Norm zu ändern (vgl. auch BGE 103 Ia 55 Nr. 11, 105 Ib 168; s. dazu KÄLIN, a.a.O. [E. 2d], S. 36 ff.). Schon aus diesem Grund rechtfertigt es sich, die Erbenhaftung auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention ![]() ![]() | 24 |
Erwägung 3 | |
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Sind die hinterzogene Steuer oder die Busse beim Tode des Steuerpflichtigen noch nicht bezahlt, so gehen die daraus erwachsenden Verpflichtungen auf die Erben über, und diese haften dafür solidarisch bis zur Höhe ihrer Erbteile (Steuersukzession; Art. 130 Abs. 1 Satz 1 BdBSt). In ein hängiges Verfahren treten die Erben an Stelle des Erblassers ein (Verfahrenssukzession; Art. 130 Abs. 1 Satz 2 BdBSt). Wird die Hinterziehung erst nach dem Tode des Steuerpflichtigen entdeckt, so wird das Verfahren gegenüber seinen Erben angehoben und durchgeführt, und "diese haften bis zur Höhe ihrer Erbteile solidarisch für die vom Erblasser hinterzogene Steuer und die von ihm verwirkten Bussen ohne Rücksicht auf ein eigenes Verschulden" (ebenda Satz 3). Die Erben des verstorbenen Steuerpflichtigen treten somit, entsprechend dem allgemeinen Grundsatz der Steuernachfolge (Art. 10 BdBSt), steuerrechtlich und auch strafsteuerrechtlich seine Nachfolge an.
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Erwägung 4 | |
4.- Die in Art. 130 Abs. 1 BdBSt getroffene Regelung, dass die Erben für die vom Erblasser hinterzogenen Steuern und verwirkten Bussen haften, ist im schweizerischen Steuerrecht keine Einzelerscheinung. Sie ist auch in den kantonalen Steuergesetzen anzutreffen und wurde während Jahrzehnten im Bund und in den Kantonen in Hinterziehungsfällen zur Anwendung gebracht. Dies ist heute noch der Fall, wenn auch in der Steuerrechtslehre die Erbenhaftung vermehrt in Zweifel gezogen wird (WALTER ROBERT PFUND, Das Steuerstrafrecht, S. 115 ff.; PETER BÖCKLI, Harmonisierung des Steuerstrafrechts, ASA 51 S. 123 ff.; URS R. BEHNISCH, Das Steuerstrafrecht im Recht der direkten Bundessteuer, S. 122 f.; URS-VIKTOR INEICHEN, Deliktsfähigkeit der juristischen Personen und Erbenhaftung, Nach- und Strafsteuerrecht im Wandel, ![]() ![]() | 27 |
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Dass die Erben aufgrund der Steuersukzession richtigerweise für alle Steuerforderungen und somit auch für Steuerbussen haften, soweit sie schon vor dem Tode des Erblassers festgesetzt worden sind, anerkennen übrigens auch Gegner der Erbenhaftung (BÖCKLI, a.a.O., ASA 51 S. 124; s. auch W. R. PFUND, Das neue Verwaltungsstrafrecht des Bundes, unter besonderer Berücksichtigung des Steuerstrafrechts, ASA 42 S. 170; BEHNISCH, a.a.O., S. 124 bei Fn. 607; anderer Ansicht INEICHEN, a.a.O., S. 14). Dann ist es aber folgerichtig, wenn nach Art. 130 Abs. 1 BdBSt die Erben auch für die im Zeitpunkt des Todes des Erblassers noch nicht rechtskräftig veranlagten Strafsteuern haften.
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Dabei ist zu berücksichtigen, dass es im Fiskalrecht nicht nur um die Nach- und Strafsteuersukzession der Erben geht, sondern auch um die - nach allgemeinem Strafrecht nicht deliktsfähigen - juristischen Personen, die gemäss Art. 130 Abs. 4 BdBSt für die im Geschäftsbetrieb oder bei der Liquidation von ihren ![]() ![]() | 33 |
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Erwägung 5 | |
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a) Die Vermutung der Schuldlosigkeit gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK ist zunächst eine Regel der Beweiswürdigung. Nach der Praxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte findet sie ihre Ausprägung vor allem im Grundsatz in dubio pro reo. Danach ist es Sache der Strafverfolgungsbehörde, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und ist im Zweifelsfall zugunsten des Angeklagten zu entscheiden (vgl. BGE 106 IV 88/89; VOGLER, in ![]() ![]() | 36 |
Diese Regeln haben indes mit dem Problem der Haftung für Steuerbussen, die wegen schuldhafter Steuerhinterziehung dem Erblasser bzw. seinem Nachlass auferlegt werden, nichts zu tun. Die Busse ist nicht die Folge eines die Beschwerdegegner treffenden Verschuldens. Sie ist vielmehr unter Berücksichtigung des Verschuldens des Verstorbenen festgesetzt worden, wobei dem Umstand, dass die Erben die Steuerhinterziehung des Erblassers freiwillig angezeigt haben, strafmindernd - durch Reduktion der Busse auf einen Viertel des normalen Masses - berücksichtigt worden ist. Diese Tatsache ändert jedoch nichts daran, dass die Steuerbusse primär den fehlbaren Steuerpflichtigen bzw. seinen Nachlass trifft. Würde den Erben trotz freiwilliger Meldung die Strafminderung verweigert, so wären sie insoweit schlechtergestellt als der Erblasser, der die von ihm begangene Hinterziehung jederzeit hätte anzeigen können und damit eine erhebliche Herabsetzung der Busse erwirkt hätte (BGE 89 I 45 ff., besonders S. 47/48).
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