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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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25. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Juni 1980 i.S. P. E. gegen Grosser Rat des Kantons Aargau (Staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 2 ÜbBest. BV; Frist zur Einreichung von Begnadigungsgesuchen. |
Die kantonalrechtliche Vorschrift, nach welcher Gnadengesuche innert einer Frist von dreissig Tagen nach der Verurteilung einzureichen sind, verstösst gegen Bundesrecht (E. 2). | |
Sachverhalt | |
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Es kann sich deshalb nur die Frage stellen, ob der Beschluss des Grossen Rates mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar sei. Da kein Rechtsanspruch auf Begnadigung besteht, ist der materielle Entscheid über ein Gnadengesuch der richterlichen Überprüfung weitgehend entzogen (vgl. BGE 95 I 544). Dagegen kann - wie im vorliegenden Falle - mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend gemacht werden, der Anspruch des Gesuchstellers auf Entgegennahme und Behandlung seines Begnadigungsgesuches sei verletzt worden.
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b) Nach ständiger Rechtsprechung kann die Rüge der Verfassungswidrigkeit eines Erlasses nicht nur nach dessen Veröffentlichung, sondern auch noch im Anschluss an einen konkreten Anwendungsakt erhoben werden. Auf die vorliegende Beschwerde ist daher einzutreten. Allerdings kann bei Gutheissung der Beschwerde nicht der Erlass als solcher, sondern nur die angefochtene konkrete Entscheidung aufgehoben werden (BGE 104 Ia 87 E. 5, BGE 103 Ia 86 E. 3 mit Hinweisen).
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Ob ein kantonaler Rechtssatz oder die ihm gegebene Auslegung mit dem Bundesrecht vereinbar sei, prüft das Bundesgericht frei (BGE 102 Ia 155 mit Hinweisen).
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"Gesuche um Begnadigung sind bei der Justizdirektion innert 30 Tagen
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nachdem das Urteil Rechtskraft erlangt hat, schriftlich einzureichen."
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Eine Möglichkeit der Wiederherstellung der dreissigtägigen Frist ist nicht vorgesehen. Es handelt sich daher bei dieser Frist, wie auch der Grosse Rat eingeräumt hat, um eine Verwirkungsfrist.
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Mit dem Ablauf einer Verwirkungsfrist geht der Rechtsanspruch an sich und nicht nur eine prozessuale Befugnis unter. Der aargauische Grosse Rat führt daher zu Unrecht aus, dass § 5 Abs. 1 der Begnadigungsverordnung eine reine Verfahrensvorschrift darstelle, zu deren Erlass er ohne weiteres befugt gewesen sei. Indessen vertritt der Grosse Rat die Auffassung, dass er auch kompetent sei, materiellrechtliche Bestimmungen über die Voraussetzungen der Begnadigung zu erlassen.
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b) Bei der Schaffung der ins Strafgesetzbuch aufzunehmenden Bestimmungen über die Begnadigung ist der Bundesgesetzgeber davon ausgegangen, dass das Begnadigungsrecht grundsätzlich dem Bund, dessen Gesetzgebung den Strafanspruch geschaffen habe, zustehe und dass die Ausübung dieses Rechts nur aus praktischen Gründen - um die Bundesversammlung nicht zu überlasten - den Kantonen übertragen werde. Dementsprechend liege auch die Rechtsetzungsbefugnis beim Bund: der Gesetzgeber, der die Voraussetzungen und Wirkungen des staatlichen Strafanspruches normiere, umschreibe auch dessen Grenzen, das heisst die Voraussetzungen und Wirkungen der Aufhebung dieses Anspruches (vgl. Erläuterungen zum dritten Buch des Schweiz. Strafgesetzbuches, August 1915, S. 35 f.; Botschaft des Bundesrates zu einem Gesetzesentwurf enthaltend das schweizerische Strafgesetzbuch vom 23. Juli 1918, BBl 1918 IV S. 98; Sten.Bull. N 1930 S. 97 f. Votum Logoz, S 1931 S. 753 f. Votum Baumann).
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Auf diese Gedanken des historischen Gesetzgebers stützt sich das (nicht veröffentlichte) Urteil des Bundesgerichtes i.S. Flury vom 14. Juli 1944. Das Gericht hatte sich in diesem Entscheid mit Art. 20 des waadtländischen Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch zu befassen, nach welchem nur Zuchthaus- ![]() | 12 |
Nach dem Urteil Flury wäre es somit den Kantonen verwehrt, irgendwelche materiellen Normen über die Ausübung des Gnadenrechtes zu erlassen. Ob an dieser Rechtsprechung, die nicht ohne Kritik geblieben ist (vgl. CAVIN, Droit pénal fédéral et procédure cantonale, ZSR 65/1946 S. 57 a f.; s.a. CLERC, De l'exercice du droit de grâce par les cantons sous l'empire du Code pénal suisse, ZStR 73/1958 S. 111 f.), festzuhalten sei, kann im vorliegenden Falle offenbleiben. Selbst wenn nämlich die Kantone zum Erlass materiellrechtlicher Bestimmungen über die Ausübung des Begnadigungsrechtes kompetent wären, könnten diese Bestimmungen die Regelung, die der Bundesgesetzgeber auf diesem Bereich getroffen hat, nur ergänzen, nicht aber zu ihr in Widerspruch treten.
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c) Das Bundesrecht sieht keine Frist vor, innert welcher die Begnadigungsgesuche einzureichen wären, und ermächtigt auch die Kantone nicht, solche Fristen mit Verwirkungsfolge vorzusehen. In Art. 395 Abs. 2 StGB wird der Begnadigungsbehörde einzig gestattet zu bestimmen, dass ein abgelehntes Begnadigungsgesuch vor Ablauf eines gewissen Zeitraumes nicht erneuert werden darf. Aus dem Umstand, dass der Bundesgesetzgeber in Art. 395 Abs. 2 StGB die dort umschriebene Frist ausdrücklich als zulässig erklärt, ergibt sich e contrario, dass andere Fristen, die die Ausübung des Gnadenrechts beschränken, ausgeschlossen sein sollen. Aus den Gesetzesvorarbeiten geht denn auch insgesamt hervor, dass das Begnadigungsrecht ![]() | 14 |
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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