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7. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 29. März 1989 i.S. H. gegen P. W. SA, Oberrichter M., Obergerichts-Suppleant G., Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf einen unbefangenen Richter. |
Frage der Voreingenommenheit des Richters in Fällen, in denen Mitangeschuldigte nicht im gleichen Verfahren beurteilt werden und derselbe Richter im früheren und im späteren Verfahren amtet (E. 2c/cc). | |
Sachverhalt | |
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Der Untersuchungsrichter des Kantons Bern eröffnete am 10. Juni 1983 eine Strafuntersuchung gegen W. und H. wegen Verdachts, dass sich die beiden als einzelzeichnungsberechtigte Mitglieder des Verwaltungsrates der Firmen X. und Y. des betrügerischen Konkurses, eventuell der Veruntreuung schuldig gemacht hätten. Im Laufe der Untersuchung wurden B. und G. als Auskunftspersonen einvernommen. Es entstand der Verdacht, dass sie damals die Kreditgewährungen der AEK an die Firmen X. und Y. durch arglistige Irreführung der Kreditkommission veranlasst hätten. Der Untersuchungsrichter eröffnete deshalb am 2. Juli 1985 gegen B. eine Strafuntersuchung wegen Betruges, die er am 26. August 1985 auf G. ausdehnte. Die Verfahren W./H. einerseits und B./G. anderseits wurden getrennt geführt. Mit Antrag vom 7. Mai/9. Juli 1986 überwies der Untersuchungsrichter die Angeschuldigten B. und G. dem Wirtschaftsstrafgericht des Kantons Bern zur Beurteilung. Das Verfahren gegen G. wurde in der Folge wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit abgetrennt und vorläufig eingestellt. In der Strafsache B. entschied das Wirtschaftsstrafgericht am 4. Dezember 1987. Es sprach B. des fortgesetzten Betruges und der fortgesetzten qualifizierten Veruntreuung, beides begangen zum Nachteil der AEK, sowie eines weiteren ![]() | 2 |
Die Angeschuldigten W. und H. wurden am 24. Mai/6. Juni 1988 wegen leichtsinnigen Konkurses der Firmen X. und Y. dem Wirtschaftsstrafgericht des Kantons Bern überwiesen. Zu Beginn der am 8. November 1988 eröffneten Hauptverhandlung vor dem Wirtschaftsstrafgericht stellte H. ein Ablehnungsbegehren gegen Oberrichter M., der als Gerichtspräsident amtete, sowie gegen Obergerichts-Suppleant G. Zur Begründung führte er aus, diese beiden Richter hätten bereits in der Strafsache B. geurteilt, was genüge, um den Anschein der Befangenheit zu erwecken. Mit Entscheid vom 9. November 1988 wies das Obergericht des Kantons Bern das Ablehnungsgesuch ab.
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Gegen diesen Entscheid hat H. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 und 58 Abs. 1 BV sowie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK eingereicht. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK räumen dem Einzelnen unter anderem den Anspruch darauf ein, dass seine Sache von einem unvoreingenommenen, unparteiischen und unbefangenen Richter beurteilt wird. Damit soll garantiert werden, dass keine Umstände, welche ausserhalb des Prozesses liegen, in sachwidriger Weise zugunsten oder zulasten einer Partei auf das ![]() | 6 |
c) Der Beschwerdeführer lehnte Oberrichter M. und Obergerichts-Suppleant G. nicht wegen eines bestimmten persönlichen Verhaltens ab, sondern ausschliesslich deswegen, weil die beiden Richter bereits am Urteil vom 4. Dezember 1987 in der Strafsache B. mitgewirkt hatten. Er machte geltend, diese Richter müssten im Prozess gegen ihn "genau dieselben Geschäftsvorgänge" bzw. "generell denselben Sachverhalt" beurteilen wie im Verfahren gegen B. Nachdem sie B. verurteilt hätten, könnten sie nicht anders, als auch gegen ihn einen Schuldspruch auszufällen, da sie sich sonst in Widerspruch zum ersten Urteil setzen würden. Der Beschwerdeführer ist der Meinung, Oberrichter M. und Obergerichts-Suppleant G. hätten sich zufolge ihrer Mitwirkung am genannten Urteil "mit derselben Sache bereits einmal als Richter befasst", weshalb sie nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur sog. Vorbefassung die Anforderungen von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK im Prozess gegen ihn nicht erfüllten.
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aa) Eine gewisse Besorgnis der Voreingenommenheit und damit Misstrauen in das Gericht kann bei den Parteien immer dann entstehen, wenn einzelne Richter bereits früher in amtlicher (richterlicher oder nichtrichterlicher) Funktion mit der konkreten Streitsache schon einmal zu tun hatten. Das Bundesgericht hat zum Umstand der sog. Vorbefassung kürzlich einlässlich Stellung ![]() | 8 |
In diesen Fällen einer als unzulässig erachteten Vorbefassung verhielt es sich jedoch so, dass der erkennende Strafrichter mit dem gleichen Verfahren und dem gleichen Angeschuldigten bereits in einem früheren Zeitpunkt zu tun hatte. Im hier zu beurteilenden Fall betraf dagegen die frühere Tätigkeit der abgelehnten Richter ein anderes Strafverfahren und einen anderen Angeschuldigten. Man kann sich fragen, ob bei einer solchen Situation überhaupt von einer Vorbefassung im Sinne der erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung gesprochen werden kann. Dies braucht indessen nicht weiter geprüft zu werden, da hier aus den nachfolgenden Gründen auf jeden Fall keine mit Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK unvereinbare Vorbefassung vorläge.
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bb) Das Strafverfahren gegen B. und den Mitangeschuldigten G. (der wegen Verhandlungsunfähigkeit noch nicht beurteilt werden konnte) steht unbestrittenermassen mit demjenigen gegen H. und W. in einem gewissen Zusammenhang, liegt doch den beiden Verfahren zum Teil derselbe Lebenssachverhalt (Kreditgewährungen ![]() | 10 |
cc) Das Obergericht wies im angefochtenen Entscheid darauf hin, selbst wenn die beiden Strafverfahren zuerst vereinigt gewesen wären, läge eine Voreingenommenheit der genannten Richter nicht vor. Es führte aus, es komme oft vor, dass bei einem Verfahren gegen mehrere Angeschuldigte ein Verfahrensteil abgetrennt und der betreffende Angeschuldigte in einem späteren Verfahren beurteilt werde. Könnte in solchen Fällen ein Richter deshalb abgelehnt werden, weil er bereits in einem früheren Verfahren einen ![]() | 11 |
Dieser Ansicht ist grundsätzlich beizupflichten. Wäre im vorliegenden Fall das Strafverfahren gegen B., G., H. und W. gemeinsam geführt worden, was wohl möglich gewesen wäre, so hätten die Richter M. und G. am 4. Dezember 1987 nicht nur B., sondern auch den Beschwerdeführer beurteilen können. Da kein Angeschuldigter Anspruch darauf hat, dass sein Fall isoliert geprüft wird, ist davon auszugehen, dass dann, wenn derselbe Richter befugt ist, die Angeschuldigten gemeinsam zu beurteilen, es im allgemeinen und unter Vorbehalt der nachfolgenden Erwägungen auch zulässig sein muss, dass er über den einen Angeschuldigten in einem späteren Verfahren urteilt.
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Der Umstand, dass ein Richter in einem früheren Verfahren einen Angeschuldigten bei gleichem Lebenssachverhalt verurteilt hat, genügt in aller Regel noch nicht, um ihn in einem späteren Verfahren wegen Gefahr der Voreingenommenheit abzulehnen, ansonst die Justiz gezwungen wäre, sämtliche Mitangeschuldigte im selben Verfahren zu beurteilen, was organisatorisch oft kaum zu bewältigen wäre. Wägt man die prozessökonomischen Überlegungen und die von seiten des Beschwerdeführers geltend gemachte Besorgnis der Befangenheit gegeneinander ab, so dürfte ein Ablehnungsrecht nur in engen Grenzen anerkannt werden, und zwar zum Beispiel dort, wo der Richter im früheren Verfahren den Angeschuldigten A verurteilte in der Erwägung, es sei erwiesen, dass dieser mit dem im späteren Verfahren angeschuldigten B die Tat begangen habe, oder auch dort, wo er den Angeschuldigten A mit der Begründung freigesprochen hat, nicht dieser Angeschuldigte, sondern der im späteren Prozess beschuldigte B habe die Tat begangen (vgl. GUNTHER ARZT, Der befangene Strafrichter, Tübingen 1969, S. 84-86). In solchen Fällen könnte wohl nicht mehr davon gesprochen werden, das spätere Verfahren sei in bezug auf die entscheidende Frage des Schuldvorwurfs noch offen und nicht vorbestimmt. Ein solcher Fall liegt aber hier klarerweise nicht vor.
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