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39. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. September 1993 i.S. X. gegen Generalprokurator-Stellvertreterin und Obergericht (Anklagekammer) des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK: Unschuldsvermutung. Kostenauflage an den wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand Beschuldigten trotz Einstellung des Verfahrens. | |
Sachverhalt | |
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Aus den Erwägungen: | |
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Staatskosten
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Art. 200
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1 Wird die Untersuchung aufgehoben, so trägt der Staat in der Regel die Kosten des Verfahrens. Wurde der Strafantrag zurückgezogen, so gilt Art. 264.
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2 Dem Privatkläger und dem Anzeiger, der nicht Angestellter der gerichtlichen Polizei ist, können im Falle von Arglist oder Fahrlässigkeit die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise auferlegt werden.
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3 Hat der Angeschuldigte die Verdachtgründe, durch die das Verfahren veranlasst wurde, durch sein eigenes, ihm zum Verschulden anzurechnendes Verhalten erregt, so können ihm die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise auferlegt werden.
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Die Anklagekammer verweist zunächst auf das nicht veröffentlichte Urteil des Bundesgerichts vom 29. Dezember 1992 i.S. H. c. Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern. Die Anklagekammer hält fest, dass sie sich durch dieses Urteil nicht veranlasst sehe, die jahrzehntelange Praxis zur Kostenauflage in derartigen Fällen zu ändern. Für die verfahrensmässigen Kostenfolgen von ![]() | 8 |
Der Beschwerdeführer macht demgegenüber geltend, die Argumentation der Anklagekammer verletze das Rechtsgleichheitsgebot von Art. 4 BV und die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Ziff. 2 EMRK.
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b) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts dürfen einem Angeschuldigten bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens nur dann Kosten auferlegt werden, wenn er durch ein unter rechtlichen Gesichtspunkten vorwerfbares Verhalten die Einleitung des Strafverfahrens veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat. Bei der Kostenpflicht des freigesprochenen oder aus dem Verfahren entlassenen Angeschuldigten handelt es sich nicht um eine Haftung für ein strafrechtliches Verschulden, sondern um eine zivilrechtlichen Grundsätzen angenäherte Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten, durch das die Einleitung oder Erschwerung eines Prozesses verursacht wurde. Gemäss Art. 41 Abs. 1 OR ist zum Ersatz verpflichtet, wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit. Im Zivilrecht wird demnach eine Haftung dann ausgelöst, wenn jemandem durch ein widerrechtliches und - abgesehen von den Fällen der Kausalhaftung - ausserdem schuldhaftes Verhalten ein Schaden zugefügt wird. Widerrechtlich im Sinne von Art. 41 Abs. 1 OR ist ein Verhalten dann, wenn es gegen Normen verstösst, die direkt oder indirekt Schädigungen untersagen bzw. ein Schädigungen vermeidendes Verhalten vorschreiben. Solche Verhaltensnormen ergeben sich aus der Gesamtheit der schweizerischen Rechtsordnung, unter anderem aus Privat-, Verwaltungs- und Strafrecht, gleichgültig, ob es sich um eidgenössisches oder kantonales, geschriebenes oder ungeschriebenes Recht handelt (BGE 116 Ia 168 E. c, mit zahlreichen Hinweisen). Wie das Bundesgericht festgehalten hat, ist es mit Verfassung und Konvention vereinbar, einem nicht verurteilten Angeschuldigten die Kosten dann zu überbinden, wenn er in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine solche Verhaltensnorm klar verstossen und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 116 Ia 171 E. d und 175 E. e).
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c) Gemäss Art. 91 Abs. 1 SVG wird bestraft, wer in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug führt. Unter dem Marginale "Angetrunkenheit" bestimmt Art. 55 Abs. 1 SVG, dass der Bundesrat ![]() | 11 |
Mit dieser Regelung haben der Gesetz- und der Verordnungsgeber in Kauf genommen, dass in Grenzfällen verhältnismässig teure Untersuchungen (Blutprobe) durchgeführt werden müssen und dem Fahrzeugführer nachher doch keine Angetrunkenheit nachgewiesen werden kann. Weil es grundsätzlich erlaubt ist, nach geringem Alkoholkonsum ein Fahrzeug zu führen, darf es einem Fahrzeuglenker auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn eine Blutprobe erforderlich ist, um festzustellen, dass der Blutalkoholgehalt 0,8%o nicht erreicht. In diesem Fall ist eine Haftung des Fahrzeuglenkers für die Untersuchungskosten entsprechend den Grundsätzen von Art. 41 OR ausgeschlossen.
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d) Der Beschwerdeführer hat mit einer massgeblichen Alkoholkonzentration von 0,73 Gewichtspromille ein Motorfahrzeug geführt. Das ist in der schweizerischen Rechtsordnung nicht verboten. Irgendein Hinweis, dass der Beschwerdeführer wegen der Alkoholeinwirkung nicht mehr fahrfähig gewesen wäre, liegt nicht vor. Da die Rechtsordnung das Verhalten des Beschwerdeführers nicht verbietet, war es mit Art. 4 BV unvereinbar, ihm die Kosten der eingestellten Strafuntersuchung zu überbinden. Die staatsrechtliche Beschwerde ist gutzuheissen, und der angefochtene Entscheid ist aufzuheben. Offen bleiben kann unter diesen Umständen, ob der angefochtene Beschluss auch die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Ziff. 2 EMRK verletzt.
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