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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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26. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5. November 1997 i.S. H. gegen das Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichtes des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Persönliche Freiheit, Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK, Art. 5 Ziff. 3 EMRK (Untersuchungshaft, Fortsetzungsgefahr, Haftdauer). | |
Sachverhalt | |
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht, er wendet sich jedoch gegen die Annahme von Fortsetzungsgefahr. Er macht im wesentlichen geltend, er habe "beabsichtigt, seine ganze Familie sowie sich selber umzubringen, um den drohenden finanziellen Ruin, die Schmach und das von ihm befürchtete Auseinanderbrechen der Familie zu verhindern". Er sei "kein typischer Wiederholungstäter" und habe seine Ehefrau und seinen Sohn P. "aus einer psychischen Extremsituation heraus" getötet. Die damalige "Drucksituation" bestehe heute nicht mehr. Seinem überlebenden Sohn T. gegenüber habe er "keine Ressentiments", und er sehe "heute keinen Grund mehr", seinen ursprünglichen ![]() | 3 |
c) Nach aargauischem Strafprozessrecht kann aus sicherheitspolizeilichen Gründen ein Haftbefehl erlassen werden, wenn die Freiheit des Beschuldigten mit Gefahr für andere verbunden ist, insbesondere, wenn eine Fortsetzung der strafbaren Tätigkeit zu befürchten ist (§ 67 Abs. 2 StPO/AG). Die Anordnung von Haft wegen Fortsetzungsgefahr kann dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht (BGE 105 Ia 26 E. 3c S. 31). Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung weiterer schwerer Delikte ist nicht verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit, den Angeschuldigten an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern, somit Spezialprävention, als Haftgrund an (vgl. nicht amtlich publiziertes Urteil des Bundesgerichtes vom 7. Oktober 1992 i.S. R. B., E. 4c = EuGRZ 1992 S. 553 ff., 556). Bei der Annahme, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechen oder Vergehen begehen könnte, ist allerdings Zurückhaltung geboten.
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Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein. Die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Fortsetzungsgefahr ist verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen. Schliesslich ![]() | 5 |
d) Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechtes frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35 mit Hinweisen).
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e) Selbst wenn sich im vorliegenden Fall aus den Akten keine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür ableiten lässt, dass der Beschwerdeführer nach seiner Freilassung erneut Menschen töten würde, lässt dies seine Inhaftierung nicht als verfassungswidrig erscheinen. Bei Gewalttaten von derartiger Schwere darf an die Annahme von Wiederholungsgefahr kein allzu hoher Massstab gelegt werden. Anders zu entscheiden hiesse, die potentiellen Opfer von neuerlichen Verzweiflungs- oder Kurzschlussreaktionen des Beschwerdeführers einem nicht verantwortbaren Risiko auszusetzen. Dies muss um so mehr gelten, als der Beschwerdeführer selbst darlegt, er habe ursprünglich beabsichtigt, auch noch seinen älteren Sohn T. zu töten; dies sei "zunächst daran" gescheitert, "dass dieser nicht zuhause war". Später habe er "den Entschluss, seinen älteren Sohn auch noch zu töten, fallengelassen". Gemäss seinen Aussagen in den polizeilichen Befragungen ist der Beschwerdeführer am 16. Juni 1996 (um ca. 04.00 Uhr) bewaffnet und mit Tötungsabsicht in das Zimmer seines Sohnes T. eingetreten. Das Vorhaben sei aber fehlgeschlagen, weil der Sohn aufwachte.
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aa) Die Unberechenbarkeit des Beschwerdeführers findet nicht zuletzt in den Tötungshandlungen selbst ihren Ausdruck. Nach eigenen Angaben hat er seine beiden Opfer je mit zwei Kopfschüssen umgebracht. Bei seinem Sohn P. habe er dabei eine List angewendet, ![]() | 8 |
bb) Die schriftliche Erklärung der Psychiaterin Dr. R. vom 18. September 1997, wonach "aus psychiatrischer Sicht" beim Beschwerdeführer "weder von einer Gemeingefährlichkeit, noch von Fluchtgefahr oder Rückfallgefahr ausgegangen werden muss", wird nicht näher begründet und ist insofern nicht nachvollziehbar. Den kantonalen Behörden ist darin zuzustimmen, dass es rechtlich nicht verantwortbar ist, den Beschwerdeführer ohne sorgfältige psychiatrische Begutachtung, welche Rückschlüsse auf seinen geistigen und affektiven Zustand erlaubt, auf freien Fuss zu setzen. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe "aus einer psychischen Extremsituation heraus" gehandelt. Er beschreibt diese Extremsituation als "Angstpsychose und Depression", "die genaue psychiatrische Beurteilung" bleibe "jedoch dem Gutachten vorbehalten". Ohne dieses Gutachten bzw. ohne sachlich überzeugende psychiatrische Befunde sind keine begründeten Aussichten (geschweige denn eine ![]() | 9 |
cc) Bei dieser Sachlage verletzt es weder das ungeschriebene verfassungsmässige Individualrecht der persönlichen Freiheit noch Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK, wenn die kantonalen Instanzen beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens ausreichend konkrete Anzeichen für das Bestehen von Fortsetzungsgefahr bejaht haben.
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a) Gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist abgeurteilt oder während des Verfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Dass eine an sich gerechtfertigte Haft nicht übermässig lange dauern darf, ergibt sich auch aus dem ungeschriebenen Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit (BGE 105 Ia 26 E. 4b S. 32 mit Hinweisen). Eine übermässige Haft stellt eine unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Sie liegt dann vor, wenn die Haftfrist die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe übersteigt. Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haftdauer ist der Schwere der untersuchten Straftaten Rechnung zu tragen. Der Haftrichter darf die Haft nur solange erstrecken, als ihre Dauer nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe rückt. Im weiteren kann eine Haft die zulässige Dauer auch dann überschreiten, wenn die Strafuntersuchung nicht genügend vorangetrieben wird, wobei sowohl das Verhalten der Justizbehörden als auch dasjenige des Inhaftierten in Betracht gezogen werden müssen (BGE 116 Ia 143 E. 5a S. 147; BGE 107 Ia 256 E. 2b S. 258). Nach der übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 107 Ia 256 E. 2b S. 258 mit Hinweisen auf Entscheide der Strassburger Organe; nicht amtlich publiziertes Urteil des Bundesgerichtes vom 4. Februar 1994 i.S. Y. Ö. = Plädoyer 1994 Nr. 4, S. 61 ff.). In einem die Schweiz betreffenden Urteil vom 26. Januar 1993 i.S. W. hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte denn auch die Auffassung der Kommission abgelehnt, wonach Art. 5 Ziff. 3 EMRK eine abstrakte Höchstdauer der Haft vorsehe (EGMR Série A, vol. 254, Ziff. 30 = EuGRZ 1993 S. 384 f.).
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