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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Philippe Dietschi | |||
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10. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. und Y. gegen Stadtschulrat Schaffhausen und Erziehungsrat des Kantons Schaffhausen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_149/2008 vom 24. Oktober 2008 | |
Regeste |
Art. 15 BV und Art. 9 EMRK; Glaubens- und Gewissensfreiheit; Dispensation vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht aus religiösen Gründen. |
Allgemeine Voraussetzungen für Praxisänderungen (E. 3). |
Nach dem angerufenen muslimischen Gebot dürfen Gläubige nicht den weitgehend nackten Körper des anderen Geschlechts sehen (E. 4.2). |
Glaubensinhalte, die ein religiös motiviertes Verhalten begründen oder bestimmte Bekleidungsweisen nahelegen, sind grundsätzlich nicht zu überprüfen (E. 4.4). |
Der Kerngehalt der Religionsfreiheit wird durch das in Frage stehende Glaubensgebot nicht berührt (E. 5). |
Genügende gesetzliche Grundlage für den obligatorischen, gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht an der Unterstufe der öffentlichen Grundschulen im Kanton Schaffhausen (E. 6). |
Bei der Interessenabwägung sind insbesondere die vielfältigen Bestrebungen zur Integration der muslimischen Bevölkerungsgruppe zu berücksichtigen (E. 7.2). |
Verbunden mit flankierenden Massnahmen stellt das angefochtene Obligatorium auch für muslimische Kinder keinen unzulässigen Eingriff in die Religionsfreiheit dar (E. 7.3). | |
Sachverhalt | |
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B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen X. und Y. dem Bundesgericht, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben.
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Das Bundesgericht beurteilt die Beschwerde in öffentlicher Sitzung und weist sie ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
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1.2 Die vorliegende Beschwerde ist von den beiden Beschwerdeführern (geb. 1995 und 1997), gesetzlich vertreten durch ihre Eltern, erhoben worden. Die beiden Knaben sind heute noch nicht 16 Jahre alt, womit gemäss Art. 303 Abs. 1 ZGB noch die Eltern über ihre religiöse Erziehung verfügen. Vor Vollendung des 16. Altersjahres kann sich das urteilsfähige Kind (Art. 11 Abs. 2 BV) zwar selber auf seine Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen; wahrzunehmen sind seine Rechte jedoch grundsätzlich durch die Eltern (Art. 304 Abs. 1 ZGB; BGE 119 Ia 178 E. 2b). Auf deren form- und fristgerechte Beschwerde ist daher einzutreten.
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Erwägung 2 | |
6 | |
2.2 Die kantonalen Instanzen haben dies verneint und änderten damit ihre eigene bisherige Praxis, nach welcher Knaben und ![]() | 7 |
Die Beschwerdeführer bestreiten, dass triftige Gründe für die vorgenommene Praxisänderung vorliegen. Die Vorinstanz übersehe, dass die Religionsfreiheit alle Glaubenssätze - auch die weniger zentralen - schütze, eine erfolgreiche Integration Toleranz in Glaubensfragen voraussetze und sich die Verhältnisse seit dem letzten Entscheid des Bundesgerichts überhaupt nicht verändert hätten.
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Erwägung 4 | |
4.1 Knaben und Mädchen streng islamischen Glaubens ist es untersagt, an einem gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht ![]() | 10 |
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4.4 Der religiös neutrale Staat kann Glaubensregeln nicht auf ihre theologische Richtigkeit - insbesondere nicht auf ihre Übereinstimmung mit den heiligen Schriften - überprüfen (vgl. BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 185). Ebenso ist es ihm verwehrt, die Bedeutung einer religiösen Vorschrift und damit ihr Gewicht bei der Interessenabwägung selber festzustellen. In diesem Punkt haben die staatlichen Organe ![]() | 13 |
Das verkennt die Vorinstanz, wenn sie dem Verbot des gleichgeschlechtlichen Schwimmens deshalb einen geringen Stellenwert einräumt, weil es für die Mehrheit der Muslime nicht zu den zentralen Forderungen ihres Glaubens gehöre. Die Beschwerdeführer teilen in dieser Hinsicht gerade nicht die religiösen Auffassungen der Mehrheit der hier lebenden Muslime. Sie machen vielmehr geltend, es stehe für sie ein absolutes Verbot in Frage, über das sie sich nicht hinwegsetzen könnten. Im kantonalen Verfahren ist die Glaubwürdigkeit dieser Behauptung nicht in Zweifel gezogen worden. Wie das Bundesgericht bereits früher festgestellt hat, hängt eine erfolgreiche Berufung auf die Religionsfreiheit nicht davon ab, ob eine religiöse Überzeugung stark vom Landesüblichen abweicht oder ob sie von allen Glaubensangehörigen gleichermassen befolgt wird. Dieses Grundrecht schützt vielmehr ebenso die Überzeugungen religiöser Minderheiten (BGE 119 Ia 178 E. 7e S. 193 und E. 8a S. 194).
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Erwägung 5 | |
5.1 Die durch Art. 15 BV und Art. 9 EMRK sowie den von den Beschwerdeführern nicht angerufenen Art. 18 UNO-Pakt II (SR 0.103.2) gleichermassen gewährleistete Religionsfreiheit umfasst sowohl die innere Freiheit, zu glauben, nicht zu glauben oder seine religiösen Anschauungen zu ändern, wie auch die äussere Freiheit, entsprechende Überzeugungen - innerhalb gewisser Schranken - zu äussern, zu praktizieren und zu verbreiten. Zum nicht einschränkbaren ![]() | 17 |
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Erwägung 6 | |
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6.2 Personengruppen, die wie Primarschüler zum Staat in einer besonders engen Rechtsbeziehung stehen (sogenanntes Sonderstatus- oder besonderes Rechtsverhältnis), können sich grundsätzlich ebenfalls auf die Religionsfreiheit berufen. In solchen Fällen hat die formellgesetzliche Regelung - abgesehen von der Begründung des Sonderstatusverhältnisses selber - allerdings nicht ins Detail zu gehen, sondern darf der Natur des Rechtsverhältnisses entsprechend weit gefasst sein; namentlich darf die Regelung der Einzelheiten an Exekutivorgane delegiert werden (vgl. BGE 123 I 296 E. 3 mit Hinweisen).
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6.3 Der Turn- und Sportunterricht ist an allen Volksschulen obligatorisch (Art. 68 Abs. 3 BV, Art. 2 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 17. März 1972 über die Förderung von Turnen und Sport [SR 415.0]). Die damit erfassten Sportfächer werden vom Bundesrecht nicht näher umschrieben. Sie werden indessen im Kanton Schaffhausen durch den Lehrplan bestimmt, der vom Erziehungsrat erlassen wird. Die (mehrere hundert Seiten umfassenden) Lehrpläne werden seit 1985 nicht mehr im Amtsblatt veröffentlicht und in die kantonale Gesetzessammlung und das Rechtsbuch aufgenommen; sie können jedoch beim kantonalen Erziehungssekretariat eingesehen werden (Art. 22 Abs. 1 des kantonalen Schulgesetzes vom 27. April 1981 [SchulG; SHR 410.100], Fn. 14). Der Lehrplan ist auch im Internet auf der Serviceplattform Bildung des Kantons Schaffhausen ohne ![]() | 21 |
Nach dem Lehrplan des Kantons Schaffhausen zählt zum Fachbereich Sport (Unterstufe) der Lernbereich Spiel und Sport im Wasser; eines der Lernziele bildet das Beherrschen einer frei wählbaren Schwimmart. Schwimmen ist somit im Kanton Schaffhausen Teil des obligatorischen Sportunterrichts.
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Das kantonale Schulgesetz hält in dieser Hinsicht fest, dass beide Geschlechter Anspruch auf gleiche Bildungsmöglichkeiten haben (Art. 19 Abs. 1 SchulG) und dass für Knaben und Mädchen die gleiche Ausbildung anzubieten ist (Art. 22 Abs. 3 SchulG). Da somit auf Stufe der Grundschule keine Trennung der Geschlechter vorgesehen ist, darf bzw. soll auch der obligatorische Schwimmunterricht nach der gesetzlichen Regelung des Kantons Schaffhausen grundsätzlich gemischtgeschlechtlich stattfinden. Dass der Sportunterricht in höheren Klassen bzw. an der Oberstufe im Kanton Schaffhausen nach Geschlechtern getrennt erteilt wird, steht dem nicht entgegen.
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Erwägung 7 | |
7.1 Das Obligatorium des Schulbesuches - einschliesslich der vom kantonalen Recht statuierten Pflicht zur Teilnahme am Schwimmen im Rahmen des Sportunterrichts - dient der Wahrung der Chancengleichheit aller Kinder und darüber hinaus auch derjenigen zwischen den Geschlechtern bzw. der Gleichstellung von Mann und Frau ![]() | 26 |
Es besteht somit ein erhebliches öffentliches Interesse am Besuch des Schwimmunterrichts durch alle Schüler, die den sich dabei stellenden Anforderungen körperlich auch gewachsen sind.
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Von Ausländern darf und muss erwartet werden, dass sie zum Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung bereit sind und die schweizerische Rechtsordnung mit ihren demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen - die der Staat auch gegenüber kulturell begründeten abweichenden Ansprüchen zu bewahren hat - ![]() | 30 |
Im sozialen Einbindungsprozess kommt der Schule eine besonders wichtige Aufgabe zu (vgl. Botschaft, a.a.O., BBl 2002 3800 f.). Sie soll zunächst eine Grundbildung vermitteln. Dieses Ziel kann sie nur erreichen, wenn seitens der Schüler die Verpflichtung besteht, die obligatorischen Fächer und Veranstaltungen zu besuchen. Im Gegenzug muss die Schule ein offenes, gesellschaftsübliches Umfeld bieten und den Geboten der weltanschaulichen Neutralität und der Laizität strikt nachleben. In diesem Rahmen darf die Schule angesichts der grossen Bedeutung des Pflichtangebots aber darauf bestehen, dass ihre Lehrveranstaltungen für alle obligatorisch sind und dass sie nicht für alle persönlichen Wünsche eine abweichende Sonderregelung vorsehen oder zulassen muss. Dies gilt auch für Ausnahmen zur Beachtung religiöser Gebote, die mit dem Schulprogramm kollidieren. Dem obligatorischen Schulunterricht kommt hier grundsätzlich der Vorrang zu, weshalb allfällige Ausnahmen nur mit Zurückhaltung zu gewähren sind. Der Sportunterricht dient zudem in hohem Mass der Sozialisierung der Schüler. Diesen Zweck kann er nur erfüllen, wenn der Unterricht (wie auch Klassenlager und Skilager etc.), wie in der Schweiz allgemein üblich, gemeinsam stattfindet.
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Bei der Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass es beim hier in Frage stehenden Verbot darum geht, dass die beiden männlichen Beschwerdeführer beim Besuch des obligatorischen gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterrichts gezwungen wären, bestimmte Teile des weiblichen Köpers im Bereich vom Bauchnabel bis zu ![]() | 32 |
Es kommt weiter hinzu, dass die hier in Frage stehende Glaubensregel auch nicht mit den für die Mädchen islamischen Glaubens geltenden Bekleidungsvorschriften gleichgestellt werden kann. Diese gebieten den Frauen das Verhüllen des eigenen Körpers und richten sich an die Gläubigen selber. Die Frauen können selber entscheiden, ob sie diese Gebote befolgen wollen. Anders verhält es sich beim verpönten Anblick von Körperteilen des anderen Geschlechts. Hier kann der gläubige Schüler nicht verlangen, dass die Mitschülerinnen anderen Glaubens ihren Körper entsprechend den islamischen Bekleidungsvorschriften verhüllen, nur um ihm diesen Anblick zu ersparen.
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Die Anerkennung eines Rechts, muslimische Kinder generell vom kollektiven Schwimmunterricht zu befreien, würde den vielfältigen Bestrebungen zur Integration dieser Bevölkerungsgruppe zuwiderlaufen. Namentlich würde damit den betroffenen Kindern erheblich erschwert, sich an das in der hiesigen Gesellschaft übliche natürliche Zusammensein mit dem anderen Geschlecht zu gewöhnen. Die Kinder müssten zur Vermeidung des Anblicks von Personen des anderen Geschlechts in Badekostümen sogar auf die Benützung öffentlicher Badeanstalten und Strandbäder verzichten.
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7.3 Wenn daher die Behörden des Kantons Schaffhausen gestützt auf die im angefochtenen Entscheid angestellten grundsätzlichen Erwägungen die bisherige Dispensationspraxis nicht weiterführen, ![]() | 35 |
Der vorliegende Fall ist im Übrigen nicht vergleichbar mit dem in BGE 134 I 114 beurteilten Sachverhalt. Dort ging es nicht um regelmässig stattfindenden obligatorischen Unterricht, sondern um die einmal abzulegende Maturitätsprüfung: Streitig war die Verweigerung eines Dispenses gegenüber einem Schüler, welcher einer dem Gebot der Samstags-Ruhe strikt verpflichteten Glaubensgemeinschaft angehört, von schriftlichen Maturitätsprüfungen an einem Samstag. Diese Grundrechtseinschränkung erachtete das Bundesgericht als unverhältnismässig, da insbesondere wegen krankheits- und unfallbedingten Absenzen ohnehin Nachholtermine an anderen Tagen vorgesehen werden mussten und nichts entgegenstand, den Schüler an solchen Terminen zur Prüfung aufzubieten.
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