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23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_407/2010 vom 4. Mai 2011 | |
Regeste |
Art. 29, 30 Abs. 1 und Art. 191c BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Ablehnung der Mitglieder einer Strafkammer des Obergerichts im Berufungsverfahren. |
Es bestehen keine Anhaltspunkte für den Anschein der Befangenheit bei den übrigen Mitgliedern der Strafkammer (E. 2.5). Eine Gerichtspraxis, die den Anforderungen an den verfassungsmässigen Richter und die richterliche Unabhängigkeit nicht entspricht, kann den Anschein der Befangenheit aller Mitglieder eines Spruchkörpers begründen (E. 2.6.4). | |
Sachverhalt | |
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Mit Eingabe vom 26. August 2010 stellte X. den Antrag, dass der Vorsitzende sowie sämtliche Mitglieder der I. Strafkammer des Obergerichts im Berufungsverfahren wegen des Anscheins der Befangenheit in den Ausstand zu treten haben. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder der I. Strafkammer gaben - mit Ausnahme von Oberrichter Marti - gewissenhafte Erklärungen ab, dass sie nicht befangen seien. Mit Beschluss vom 3. November 2010 bewilligte das Gesamtgericht des Obergerichts ohne Mitwirkung der Mitglieder der I. Strafkammer den Ausstand von Oberrichter Marti für das Berufungsverfahren. Das Ablehnungsbegehren gegen die übrigen Mitglieder und Ersatzmitglieder der I. Strafkammer wies es ab.
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B. Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 8. Dezember 2010 beantragt X., der Beschluss des Gesamtgerichts des Obergerichts vom 3. November 2010 sei aufzuheben. Sämtliche Mitglieder der I. Strafkammer des Obergerichts seien wegen Befangenheit oder des Anscheins der Befangenheit in den Ausstand zu versetzen. Er rügt die Verletzung des Anspruchs auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht (Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) sowie des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 29 BV). Zur Begründung beruft er sich auf BGE 134 I 238, worin die Unzulässigkeit eines ähnlichen Vorgehens, wie es Oberrichter Marti gegenüber dem Verteidiger praktiziert habe, festgehalten worden sei. ![]() | 3 |
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
2.1 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Ob diese Garantien verletzt sind, prüft das Bundesgericht frei. Art. 30 Abs. 1 BV soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Voreingenommenheit und Befangenheit werden nach der Rechtsprechung angenommen, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu erwecken. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Bei der Beurteilung solcher Umstände ist nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter tatsächlich befangen ist (BGE 136 I 207 E. 3.1 S. 210; BGE 135 I 14 E. 2; BGE 134 I 238 E. 2.1 S. 240; BGE 133 I 1 E. 6.2; BGE 131 I 24 E. 1.1; je mit Hinweisen).
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Der Anschein der Befangenheit kann durch unterschiedlichste Umstände und Gegebenheiten erweckt werden. Dazu können nach der Rechtsprechung insbesondere vor oder während eines Prozesses abgegebene Äusserungen eines Richters zählen, die den Schluss zulassen, dass sich dieser bereits eine feste Meinung über den Ausgang des Verfahrens gebildet hat (BGE 134 I 238 E. 2.1 S. 240; BGE 125 I 119 E. 3a S. 122).
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2.4 Das Obergericht hält der Argumentation des Beschwerdeführers im angefochtenen Entscheid entgegen, die Ordnungsbefugnisse des Kammervorsitzenden vermittelten ihm weder Vorgesetzteneigenschaft noch Befehlsgewalt (HAUSER/SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz, 2002, N. 4 zu § 39 und N. 2 zu § 121 GVG). Insbesondere erfolge keine Qualifikation der Mitglieder oder Ersatzmitglieder durch den Kammervorsitzenden. Auch seien keine anderen Steuerungsmöglichkeiten ersichtlich, mit welchen dieser auf deren Karrieren Einfluss nehmen könnte. Es sei somit nicht einzusehen, weshalb sich die übrigen Kammermitglieder informellen Normen, Loyalität und Korpsgeist verpflichtet fühlen sollten. Entscheidend sei, ob die übrigen Richter der I. Strafkammer den Inhalt des Schreibens vom 29. Juni 2010 gekannt und ihm zugestimmt hätten, was aber vom Beschwerdeführer nicht behauptet werde. Aus den Akten und dem besagten Schreiben des Kammervorsitzenden gehe dies nicht hervor. Es seien bei objektiver Betrachtung keine Umstände auszumachen, welche bei den Mitgliedern und ![]() | 10 |
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Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 29 BV bemängelt, kann ihm ebenfalls nicht gefolgt werden. Er sieht diesen Grundsatz dadurch verletzt, dass der Präsident der I. Strafkammer den urteilenden Spruchkörper erst nach seinem Ausstand wegen offensichtlicher Befangenheit nach seinem Gutdünken habe zusammenstellen wollen. Auch hier behauptet der Beschwerdeführer einen Sachverhalt, der in den Akten keine Stütze findet. Die I. Strafkammer legt in ihrer Vernehmlassung zur Beschwerde detailliert dar, wie die Besetzung des Spruchkörpers ohne Einflussnahme von Oberrichter Marti erfolgte. Diese Darstellung vermag der Beschwerdeführer nicht substanziiert in Zweifel zu ziehen. Somit ist auf die Rüge der Verletzung von Art. 29 BV nicht weiter einzutreten.
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2.6.2 Das Bundesgericht hat in BGE 134 I 238 E. 2.6 S. 245 ff., wo ebenfalls in einem Berufungsverfahren eine Kontaktnahme eines Oberrichters mit einem Rechtsvertreter zur Diskussion stand, entschieden, dass dieses Verhalten den Anschein der Befangenheit erweckt. Mit der aktiven Mitteilung der vorläufigen Einschätzung vonseiten des Referenten schon im Voraus wird der Eindruck erweckt, dass sich dieser bereits eine abschliessende Meinung gebildet habe und das Verfahren - auch unter Beachtung der noch bevorstehenden Berufungsverhandlung - nicht mehr offen, der Prozess somit bereits verloren sei. Der Betroffene wird nicht ohne Weiteres verstehen, dass die Mitteilung des Referenten - nach durchgeführtem Verfahren vor erster Instanz - möglicherweise auf eine Ersparnis an Aufwand und Kosten im Rechtsmittelverfahren abzielt. Vielmehr bekommt er den Eindruck, dass die Berufungssache in rascher Weise erledigt werden soll, "kurzer Prozess" gemacht wird. Bei dieser Sachlage erweckt der den Kontakt mit dem Rechtsvertreter aufnehmende Referent den Anschein, in der Sache nicht mehr offen und daher voreingenommen zu sein. Die Partei kann mit Grund befürchten, der Referent unterziehe seine geäusserte Auffassung anlässlich der Verhandlung und Beratung nicht mehr einer ![]() | 15 |
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Zunächst steht das Herbeiführen eines Ausstandsgrunds durch die Justizperson selbst im Widerspruch zur Pflicht, ihre Unabhängigkeit und die anhaltende Offenheit des Verfahrens sicherzustellen. Gerichtspersonen, die staatliche Aufgaben wahrnehmen, sind an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen (Art. 35 Abs. 2 BV). Der Ausstand ist als prozessuale Folge einer unvermeidbaren Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit ausgestaltet. Die Möglichkeit des Ausstands entbindet die Gerichtspersonen jedoch nicht von der Verpflichtung, primär mit eigenem verantwortungsbewusstem Handeln ihre durch Art. 30 Abs. 1 und Art. 191c BV garantierte Unabhängigkeit zu bewahren (vgl. KIENER, a.a.O., S. 327 ff.).
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Mit dem Ausstand eines Richters wird zudem die Besetzung des Spruchkörpers verändert, was im konkreten Fall im überwiegenden Interesse der Besetzung des Spruchkörpers mit unabhängigen Gerichtspersonen hingenommen werden kann. Wird einem zur Instruktion einer Angelegenheit zuständigen Richter jedoch zugestanden, dass er in eigenem Belieben in einer konkreten Angelegenheit seinen Ausstand provozieren darf, so entsteht die Gefahr der Manipulation der Zusammensetzung des Spruchkörpers und damit der Rechtsprechung.
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Auch kann der Anschein der Befangenheit eines Spruchkörpers entstehen, wenn ein im Ausstand befindliches Mitglied einer Kammer seine Meinung zum Ausgang eines Verfahrens bereits dargelegt hat und auf diese Weise den Spruchkörper beeinflusst.
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Ein bewusster Verstoss einer Gerichtsperson gegen die Pflicht zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit schadet somit dem Vertrauen in eine gerechte Beurteilung durch die staatlichen Gerichte und ist geeignet, die Legitimation von Gerichten im demokratischen Rechtsstaat ![]() | 20 |
2.6.4 Zurzeit liegen entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keine hinreichend konkreten Hinweise dafür vor, dass das Obergericht systematisch im Widerspruch zu Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf Parteivertreter einwirkt, um diese zum Rückzug von Rechtsmitteln zu bewegen. Im Übrigen sind auch Fälle denkbar, in welchen die Mitteilung einer vorläufigen Einschätzung des zuständigen Richters mit den Garantien von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar sein kann. Als Beispiele für zulässige Mitteilungen wird in BGE 134 I 238 E. 2.4 S. 243 f. erwähnt, dass einer Partei mit dem Hinweis auf einen allfälligen Rückzug möglicherweise weitere Kosten und ein aufwändiges Verfahren erspart werden können oder sie im Falle einer Anschlussberufung auf die Gefahr einer Verschlechterung aufmerksam gemacht werden darf (vgl. zur richterlichen Fürsorgepflicht BGE 131 I 350 E. 4.1 S. 360 mit Hinweisen). Denkbar ist auch, dass einem Rechtssuchenden unmittelbar nach Eingang einer Rechtsschrift offensichtliche formelle Mängel mitgeteilt werden und gleichzeitig darauf hingewiesen wird, diese könnten während der noch laufenden Beschwerdefrist behoben werden (für weitere Beispiele: BGE 134 I 238 E. 2.4 S. 243 f.).
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Trotz solcher Möglichkeiten zulässiger Mitteilung einer vorläufigen Einschätzung der Prozessaussichten an eine Verfahrenspartei ist dabei grundsätzlich mit Blick auf den Anspruch auf einen unbefangenen Richter grosse Zurückhaltung geboten. Keinesfalls sollte ein Richter den Rückzug des Rechtsmittels fordern und dabei offen oder verdeckt Druck ausüben. Ebenso wenig darf der Eindruck entstehen, dass sich der Richter mit der Sache nicht urteilsmässig befassen wolle (BGE 134 I 238 E. 2.4 S. 244). Eine Praxis, welche den dargelegten Anforderungen nicht nachkommt, ist mit Art. 30 Abs. 1 und Art. 191c BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK unvereinbar und kann den Anschein der Befangenheit nicht nur in Bezug auf die betroffene Gerichtsperson, sondern für den gesamten Spruchkörper begründen.
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