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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Michelle Ammann, A. Tschentscher | |||
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1. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Bezirksrichterin A., Y., Obergericht und Kassationsgericht des Kantons Zürich (Staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.471/2006 vom 7. Dezember 2006 | |
Regeste |
Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, § 3 Abs. 2 Ziff. 3 GVG/ZH; Ablehnung eines Richters. |
Unbefangenheit des Richters in einem Prozess, in dem das Mitglied einer Rechtsmittelinstanz als Partei vertreter auftritt. Der Umstand, dass der Anwalt ein derartiges richterliches Nebenamt ausübt, tangiert im vorliegenden Fall das Gebot der Waffengleichheit der Parteien nicht (E. 5.3). |
Akzessorische Überprüfung der Zürcher Gerichtsorganisation, die den Mitgliedern des kantonalen Kassationsgerichts die berufsmässige Parteivertretung vor unteren Gerichten erlaubt (E. 6). | |
Sachverhalt | |
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Das Obergericht des Kantons Zürich, Verwaltungskommission, wies das Ausstandsbegehren am 6. Januar 2006 ab. Gegen den Entscheid des Obergerichts gelangte X. mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Dieses überwies die Beschwerde mit Urteil vom 27. März 2006 an das Kassationsgericht des Kantons Zürich zur Behandlung (BGE 132 I 92). Das Kassationsgericht wies die Beschwerde in der Folge mit Entscheid vom 23. Juni 2006 ab.
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Gegen den Entscheid des Kassationsgerichts erhebt X. erneut staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. ![]() | 3 |
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5.1 Mit der staatsrechtlichen Beschwerde gegen einen Einzelakt kann die Verfassungswidrigkeit der zur Anwendung gelangten kantonalen Norm gerügt werden (sog. akzessorische Normenkontrolle). Das Bundesgericht prüft dabei die Verfassungsmässigkeit der beanstandeten Norm nicht generell auf alle möglichen Konstellationen hin, sondern nur unter dem Gesichtswinkel der Anwendung auf den konkreten Fall. Wenn sich die Verfassungsrüge als begründet erweist, hebt das Bundesgericht nicht die beanstandete Norm als solche, sondern lediglich den gestützt auf sie ergangenen Anwendungsakt auf (BGE 132 I 49 E. 4 S. 54; BGE 131 I 272 E. 3.1 S. 274, je mit Hinweisen).
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Unter dem Gesichtswinkel von Art. 30 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK wird meist die Frage aufgeworfen, ob besondere Umstände betreffend das Verhältnis zwischen einem Richter und einer Partei ![]() ![]() | 7 |
Erwägung 5.3 | |
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5.3.1 Die Rechtsprechung leitet aus Art. 29 Abs. 1 BV und aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK das Gebot eines fairen Verfahrens ab (BGE 131 I 272 E. 3.2.1 S. 274; BGE 131 II 169 E. 2.2.3 S. 173, je mit Hinweis). Das Gebot der Waffengleichheit bildet daraus einen Teilgehalt, der auch im Zivilprozess gilt (vgl. Urteil des EGMR i.S. Ankerl gegen Schweiz vom 23. Oktober 1996, Recueil CourEDH 1996-V S. 1553, Ziff. 38; BGE 122 I 253 E. 6c S. 255; BGE 120 Ia 217 E. 1 S. 219). Der Grundsatz der Waffengleichheit im Zivilprozess bedeutet namentlich, dass jeder Partei angemessene Gelegenheit geboten werden muss, ihren Fall mit Einschluss der einschlägigen Beweise zu präsentieren, und zwar zu Bedingungen, die keinen wesentlichen Nachteil gegenüber der Gegenpartei darstellen.
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5.3.2 Ausgehend von diesen Grundsätzen regt REGINA KIENER an, die Problematik des allfälligen Übergewichts einer Partei wegen der besonderen Stellung ihres Parteivertreters als nebenamtlicher Richter unter dem Aspekt der Waffengleichheit zu prüfen (Richterliche Unabhängigkeit [im Folgenden: Unabhängigkeit], Bern 2001, S. 134; dieselbe, Anwalt oder Richter? [im Folgenden: Anwalt] in: Festschrift 100 Jahre Aargauischer Anwaltsverband, Zürich 2005, S. 3 ff., 20). Im vorliegenden Fall haben beide Parteien ihren Rechtsvertreter selbst ausgewählt. Es steht ihnen frei, unter den zugelassenen Rechtsanwälten denjenigen zu mandatieren, der ihnen am besten geeignet erscheint, um ihre Interessen wirksam zu verfolgen. Im kantonalen Verfahren hat der Beschwerdeführer in allgemeiner Weise auf die Gefahr der Einschüchterung hingewiesen, die bei einem Anwalt aufkommen könnte, wenn er einem als Parteivertreter auftretenden nebenamtlichen Kassationsrichter gegenüber steht. Der ![]() ![]() | 10 |
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Erwägung 6 | |
6.1 Der angefochtene Entscheid enthält Hinweise auf die Materialien zu § 3 Abs. 2 GVG/ZH. Daraus lässt sich entnehmen, dass der kantonale Gesetzgeber den Mitgliedern des Kassationsgerichts bewusst erlauben wollte, als Anwälte vor unteren Gerichten im gleichen Sachgebiet - Obergericht und Bezirksgerichte - aufzutreten. Diese gesetzgeberische Absicht kann freilich für sich allein keine ![]() ![]() | 14 |
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Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, das bisherige Verhalten der Richterin lasse an ihrer Neutralität zweifeln. Auch ist deren Unabhängigkeit in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit gesetzlich gewährleistet (§ 104 GVG/ZH). Insbesondere übt das Kassationsgericht keine administrative Aufsichtstätigkeit über Obergericht und Bezirksgerichte aus; ebenso wenig besitzt es Kompetenzen hinsichtlich der Besoldung oder Beförderung von Ober- und Bezirksrichtern. Die diesbezüglichen Erwägungen im angefochtenen Entscheid werden vom Beschwerdeführer nicht bestritten. ![]() | 17 |
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6.4.2 Das Bundesgericht hat die Gefahr der Befangenheit bei hauptberuflich als Anwalt tätigen Richtern bis zu einem gewissen Grad als systemimmanent bezeichnet (BGE 124 I 121 E. 3b S. 124). In seiner bisherigen Rechtsprechung hat es aber den Umstand, dass das Mitglied eines Gerichts gleichzeitig als Anwalt tätig ist und in anderen Verfahren vor demselben Gericht als Anwalt auftritt, nicht in allgemeiner Weise als hinreichenden Ausstandsgrund anerkannt (BGE 128 V 82 E. 2a S. 85). Immerhin hat das Bundesgericht es in einem jüngeren, den Kanton Aargau betreffenden Fall - aus Sicht der Wirtschaftsfreiheit - als verhältnismässig erachtet, dass einer teilzeitlich beschäftigten Gerichtsschreiberin an einem Bezirksgericht die Anwaltstätigkeit nur ausserhalb des Zuständigkeitsbereichs dieses Gerichts gestattet wird (Urteil 2P.301/2005 vom 23. Juni 2006, E. 5.6, publ. in: ZBl 107/2006 S. 586).
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6.4.3 Eine Ausstandspflicht kann gegeben sein, wenn das Richteramt - ausserhalb paritätisch besetzter Spezialgerichte (vgl. BGE 126 I 235 E. 2b S. 237 f.) - von eigentlichen Interessen- bzw. Branchenvertretern ausgeübt wird (vgl. Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts U 326/05 vom 26. Mai 2006, E. 1.6 mit Hinweisen, ![]() ![]() | 20 |
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6.5.1 Im Zivilprozess des Beschwerdeführers hat der Gegenanwalt einzig eine Parteirolle inne und kann keine richterlichen Funktionen ausüben. Insbesondere ist er bei einem Weiterzug der Sache an das Kassationsgericht als Richter ausgeschlossen (§ 95 Abs. 1 Ziff. 3 GVG/ZH; ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz, Zürich 2002, Rz. 37 zu § 95 GVG/ZH). Ebenso muss er in seiner Eigenschaft als ![]() ![]() | 22 |
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Erwägung 6.6 | |
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6.6.2 Dieser Kritik kann nicht jede Berechtigung abgesprochen werden. Für Rechtsuchende, die nur punktuell an ein Gericht gelangen, ![]() ![]() | 26 |
6.6.3 Die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung hat eine Ausstandspflicht in derartigen Fällen verneint (vgl. E. 6.4.4). Sie gründet auf der Überlegung, dass die Mitglieder eines Kollegialgerichts in ihrer Stellung voneinander unabhängig sind (vgl. zu diesem Argument in etwas anderem Zusammenhang auch BGE 131 I 31 E. 2.1.2.2 S. 35 f.). Der pauschale Vorwurf, ein als Anwalt auftretendes Gerichtsmitglied besitze bei seinen Kollegen regelmässig erhöhte Autorität bzw. einen "Insider"-Vorteil, vermag die genannte Praxis nicht umzustossen. Die Gerichtsmitglieder sind persönlich - und nicht etwa als Team - dem Recht verpflichtet. Die individualistische Grundstruktur der Kollegialgerichte findet ihren sichtbaren Ausdruck in der öffentlichen Urteilsberatung. Eine solche ist in § 135 Abs. 1 GVG/ZH auch am Zürcher Kassationsgericht vorgesehen; in der Praxis kommt sie aber nur in beschränktem Umfang zum Tragen (vgl. HAUSER/SCHWERI, a.a.O., Rz. 14 zu § 135 GVG/ZH; RICHARD FRANK/HANS STREULI/GEORG MESSMER, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl., Zürich 1997, Anhang II, Rz. 7 zu § 135 GVG/ZH). Auf den Anteil der Gerichtsentscheide, die einstimmig bzw. nicht erkennbar als Mehrheitsentscheid gefällt werden, kann es indessen im vorliegenden Zusammenhang nicht ankommen. Wesentlich ist die grosszügige Veröffentlichung der Rechtsprechungsgrundsätze - nicht zuletzt im Internet -, wie sie gerade beim Zürcher Kassationsgericht gehandhabt wird. Diese Publikationen vermitteln allen fachkundigen Interessierten eine rasche und differenzierte Orientierung über die Gerichtspraxis. Eine derartige Transparenz wirkt einerseits der grundsätzlichen Gefahr eines verpönten Insiderwissens bezüglich der Rechtsfindung an einem Kollegialgericht entgegen; sie verwehrt es anderseits gleichzeitig dem Gericht, zugunsten eines Einzelnen von den bekannt gemachten ![]() ![]() | 27 |
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6.9 Ausserhalb der vorfrageweisen Überprüfung von § 3 Abs. 2 GVG/ZH macht der Beschwerdeführer nicht geltend, der ![]() ![]() ![]() | 30 |
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