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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher | |||
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32. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft, SRG SSR idée suisse gegen FDP. Die Liberalen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_710/2010 vom 18. November 2011 | |
Regeste |
Art. 29 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 12 des Geschäftsreglements UBI; Art. 10 EMRK; Art. 17 Abs. 1 und Art. 93 Abs. 3 BV, Art. 4 Abs. 2 RTVG; radio- und fernsehrechtliche Konformität (Sachgerechtigkeit) des Berichts "FDP und die Pharmalobby". | |
Sachverhalt | |
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Am 18. September 2009 gelangten die "FDP.Die Liberalen" hiergegen an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI). Diese hiess ihre Beschwerde mit Stichentscheid des Präsidenten am 19. Februar 2010 gut, soweit sie darauf eintrat, und stellte fest, dass der am 1. Juli 2009 in der Sendung "10 vor 10" des Schweizer Fernsehens (SF 1) ausgestrahlte Beitrag das Sachgerechtigkeitsgebot verletzt habe. Die "10-vor-10"-Redaktion habe sich darauf beschränkt, "die Verbandelungsthese mit unbestrittenen, aber zu wenig aussagekräftigen Sachverhalten zu untermauern"; sie habe die Pflicht zur kritischen Distanz gegenüber der formulierten These nicht gewahrt, indem sie sich praktisch ausschliesslich auf die Erwähnung und Hervorhebung von unbestrittenen Argumenten beschränkt habe, welche ihre These (scheinbar) stützten, ohne aber dem Publikum die erforderliche Transparenz über die wesentlichen Fakten und deren Tragweite zu vermitteln.
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Das Bundesgericht heisst die von der SRG hiergegen eingereichte Beschwerde gut, hebt den Entscheid der UBI auf und stellt fest, dass der umstrittene Beitrag das Sachgerechtigkeitsgebot nicht verletzt hat.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
2.1 Die Beschwerdeführerin macht in formeller Hinsicht geltend, das Verfahren vor der UBI genüge den Anforderungen an den verfassungsmässigen Richter (Art. 30 BV) und an ein faires Verfahren nicht (Art. 29 BV). Die Besetzung der Beschwerdeinstanz hänge, wie der vorliegende Fall belege, von Zufälligkeiten ab; die Möglichkeit des Stichentscheids durch den Präsidenten verletze das Gebot der gleichen Stimmkraft. Die Zusammensetzung des Spruchkörpers ![]() | 5 |
Erwägung 2.2 | |
2.2.1 Nach Art. 30 Abs. 1 BV hat jede Person Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Ausnahmegerichte sind ausdrücklich untersagt. Die Regelung will verhindern, dass Gerichte eigens für die Beurteilung einer Angelegenheit gebildet werden. Die Rechtsprechung soll auch nicht durch eine gezielte Auswahl der Richter im Einzelfall beeinflusst werden können. Jede Besetzung, die sich nicht mit sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, verletzt die Garantie des verfassungsmässigen Richters (Urteil 6P.102/2005 vom 26. Juni 2006 E. 2.2 mit Hinweisen, in: ZBl 108/2007 S. 43). Besteht eine Behörde aus einer bestimmten Zahl von Mitgliedern, so müssen - unter Vorbehalt einer abweichenden gesetzlichen Regelung - alle am Entscheid mitwirken. Die Behörde, welche in unvollständiger Besetzung entscheidet, begeht eine formelle Rechtsverweigerung (BGE 127 I 128 E. 4b; BGE 85 I 273 ff.). Wenn einzelne Mitglieder aus triftigem Grund in den Ausstand treten müssen, sind sie, soweit möglich, zu ersetzen. Jeder Verfahrensbeteiligte hat Anspruch darauf, dass die Behörde richtig zusammengesetzt ist, vollständig und ohne Anwesenheit Unbefugter entscheidet (BGE 127 I 128 E. 4b; RENÉ RHINOW UND ANDERE, Öffentliches Prozessrecht, 2. Aufl. 2010, Rz. 302 S. 108 ![]() | 6 |
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Erwägung 3 | |
3.1 Redaktionelle Sendungen mit Informationsgehalt sollen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht wiedergeben, sodass das Publikum sich eine eigene Meinung bilden kann (vgl. Art. 4 Abs. 2 RTVG; BGE 134 I 2 E. 3.3.1). Ein Beitrag darf insgesamt nicht manipulativ wirken, was der Fall ist, wenn der (interessierte) Zuschauer in Verletzung journalistischer Sorgfaltspflichten unsachgemäss informiert wird; er sich gestützt auf die gelieferten Informationen oder deren Aufarbeitung kein eigenes sachgerechtes Bild mehr machen kann, weil wesentliche Umstände verschwiegen oder "Geschichten" durch das Fernsehen "inszeniert" werden (vgl. das Urteil 2C_291/2009 vom 12. Oktober 2009 E. 4.1 und 4.2, in: sic! 3/2010 S. 158). Das ![]() | 9 |
3.2 Die gesetzlichen Programmbestimmungen schliessen weder Stellungnahmen und Kritiken noch den "anwaltschaftlichen Journalismus" aus, bei dem sich der Medienschaffende zum Vertreter einer bestimmten These macht; auch in diesem Fall muss aber die Transparenz im dargelegten Sinn gewahrt bleiben (vgl. das Urteil 2C_862/2008 vom 1. Mai 2009 E. 5, in: sic! 10/2009 S. 709 ff.). Grundsätzlich gibt es kein Thema, das einer - allenfalls auch provokativen und polemischen - Darstellung am Fernsehen entzogen wäre. Dem Zuschauer soll jedoch nicht durch angeblich objektive, tatsächlich aber unvollständige Fakten die Meinung bzw. Ansicht des Journalisten als (absolute) Wahrheit und eigene Überzeugung suggeriert werden (Urteile 2A.743/2006 vom 2. August 2007 E. 2.2; 2A.283/2006 vom 5. Dezember 2006 E. 2.3 mit Hinweisen, in: sic! 5/2007 S. 359 ff.). Der Beitrag darf insgesamt nicht manipulativ wirken. Dabei ist praxisgemäss auch der nichtverbalen Gestaltung des Berichts (Kameraführung, Tonfall usw.) Rechnung zu tragen. Je heikler ein Thema ist, umso höhere Anforderungen sind an seine publizistische Umsetzung zu stellen (BGE 121 II 29 E. 3b S. 34). Welche gestalterischen Mittel wie eingesetzt werden, ist nur so lange Sache des Veranstalters, als er dem Gebot der "Sachgerechtigkeit" nachkommt. Art. 5 Abs. 1 RTVG, der die Programmautonomie garantiert, gilt lediglich im Rahmen der allgemeinen Informationsgrundsätze von Art. 4 RTVG bzw. von Art. 93 Abs. 2 BV (BGE 131 II 253 E. 2.2 S. 256 mit zahlreichen Hinweisen). Die anwaltschaftliche Berichterstattung entbindet den Veranstalter nicht davon, die kritische Distanz zum Ergebnis der eigenen Recherchen und zu Erklärungen Dritter zu wahren sowie Gegenstandpunkte in fairer Weise darzulegen, auch wenn sie die von ihm vertretene These schwächen oder allenfalls in einem ![]() | 10 |
3.3 Das Sachgerechtigkeitsgebot ist zudem im Lichte der Rundfunkfreiheit (Art. 10 EMRK) zu handhaben: Das radio- und fernsehrechtliche Aufsichtsverfahren ist nicht als solches konventionswidrig (vgl. BGE 122 II 471 E. 4b). Die damit verbundenen Einschränkungen der Informationsfreiheit des Anbieters dienen der Verwirklichung des institutionellen Aspekts der entsprechenden Freiheit des Publikums bzw. der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des öffentlich-rechtlichen Veranstalters (vgl. CHRISTOPH GRABENWARTER, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 23 N. 9 S. 271). Der einzelne aufsichtsrechtliche Entscheid muss sich jedoch - im Sinne eines konstitutiv-institutionellen Grundrechtsverständnisses (vgl. dazu JÖRG PAUL MÜLLER, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 8 ff.) - auch im Einzelfall im Rahmen von Art. 4 Abs. 2 RTVG jeweils an den Vorgaben von Art. 10 EMRK messen lassen (vgl. das Urteil des EGMR Monnat gegen die Schweiz vom 21. September 2006 § 35 ff., in: sic! 1/2007 S. 13 ff.). Besonders strenge Anforderungen an eine allfällige Beschränkung der Medienfreiheit gelten im Bereich des politischen Diskurses und bei Fragen von allgemeinem Interesse (vgl. die Urteile des EGMR Hachette Filipacchi Presse gegen Frankreich vom 5. März 2009 [Nr. 13353/05] § 45, TV Vest AS gegen Norwegen vom 11. Dezember 2008 [Nr. 21132/05] § 59 und Monnat, § 58). Das Bedürfnis, die Medienfreiheit zu beschränken, muss in diesem Zusammenhang bei privaten Veranstaltern jeweils besonders begründet erscheinen (vgl. etwa die Urteile des EGMR Nur Radyo ve Televizyon Yayinciligi A.S. gegen Türkei vom 12. Oktober 2010 [Nr. 42284/05] § 47 f. mit zahlreichen Hinweisen bzw. das Urteil Monnat, § 55). Zwar ![]() | 11 |
Erwägung 4 | |
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4.2 Das Publikum verfügte diesbezüglich über ein minimales Vorwissen, nachdem die entsprechende These rund ein Jahr vor der Ausstrahlung des umstrittenen Beitrags bereits im Zusammenhang mit den parlamentarischen Beratungen über den Parallelimport von Medikamenten breit thematisiert worden war. Die Sendung "10 vor 10" ist ein Nachrichten- und Politmagazin, die Problematik der Krankenkassenprämien bzw. der Medikamenten- und ![]() | 13 |
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4.5 Zwar wären gewisse von der Beschwerdegegnerin in ihren Beschwerden gewünschte ergänzende Elemente (Quervergleich zu anderen Parteien; Erläuterung des Systems der Besucherbewilligungen im Bundeshaus) zum besseren Verständnis der Zusammenhänge wünschbar gewesen, doch kann nicht gesagt werden, dass der umstrittene Beitrag durch deren Fehlen manipulativ gewirkt und die Distanz zum Recherchenergebnis verloren hätte: Dem durchschnittlich politisch interessierten Zuschauer ist bekannt, dass die Parteien je nach ihrer Farbe zu unterschiedlichen Lobbygruppen besondere Affinitäten zu unterhalten pflegen. Dieses Wissen durfte die "10-vor-10"-Redaktion ihrem Beitrag zugrunde legen, weshalb es sich erübrigte, die Verbindungen der anderen Parteien zu den ihnen nahestehenden Interessengruppen ebenfalls zu prüfen oder zu nennen, zumal in anderen Sendungen hierauf bereits eingegangen worden war (Krankenkassen und CVP). Der Beitrag selber lieferte mit dem Statement eines Politologen einen Erklärungsversuch für die mögliche Nähe der FDP zu wirtschaftlichen Interessengruppen, wenn dieser ausführte: "Das ist sicherlich ein auffälliges und ein starkes Netzwerk, das wir hier haben. Zwischen Pharmalobby und Wirtschaftsverbänden auf der einen Seite und der FDP auf der anderen Seite. Es ist ein Netzwerk, das auch stärker ist als zu anderen Parteien." Auf die Frage, "Weshalb gerade die FDP-", deutete er dies aus: "Ich würde sagen, dass dies primär etwas mit dem Milieu zu tun hat. Diese Verbände und die FDP ziehen ein ähnliches wirtschaftliches Milieu an. Sie haben ähnliche Werte, ähnliche Persönlichkeiten. Deshalb ist der Weg von der einen Person zur anderen relativ kurz." Soweit die damalige Ständerätin Simonetta ![]() | 16 |
4.6 Zusammengefasst ergibt sich, dass der umstrittene Beitrag als Gesamtes in einzelnen Punkten allenfalls anders und möglicherweise auch besser hätte gestaltet werden können. Dies genügt nach der Rechtsprechung jedoch nicht, um ein aufsichtsrechtliches Einschreiten seitens der UBI zu rechtfertigen. Der Programmautonomie ist bei der Beurteilung der einzelnen Sendung praxisgemäss insofern Rechnung zu tragen, als sich ein aufsichtsrechtliches Eingreifen nicht bereits dann rechtfertigt, wenn ein Beitrag allenfalls nicht in jeder Hinsicht voll zu befriedigen vermag, sondern nur, falls er auch bei einer Gesamtwürdigung (vgl. BGE 132 II 290 E. 2.2 S. 293; BGE 114 Ib 204 E. 3a S. 207) die programmrechtlichen Mindestanforderungen verletzt. Die Erfordernisse der Sachgerechtigkeit und Ausgewogenheit sollen im Einzelfall nicht derart streng gehandhabt werden, dass die für die demokratische und pluralistische Gesellschaft erforderliche journalistische Freiheit und Spontaneität verloren gehen. Die in Art. 17 Abs. 1 und Art. 93 Abs. 3 BV garantierte Autonomie der Medienschaffenden ist zu wahren; der ihnen bei der Programmgestaltung zustehende Spielraum verbietet es, aufsichtsrechtlich bereits einzugreifen, wenn eine Sendung nicht in jeder Hinsicht voll überzeugt, zumal es den sich durch eine bestimmte Darstellung widerrechtlich in ihrer Persönlichkeit verletzt fühlenden Personen freisteht, ausserhalb des radio- und fernsehrechtlichen Verfahrens zivil- oder strafrechtlich gegen den Veranstalter vorzugehen und die objektive Berechtigung der Vorwürfe in jenen Verfahren klären zu lassen (vgl. BGE 134 II 260 ff.).
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